Fortsetzungsroman "CLONE CITY" von Brigitte Tietzel

Kapitel 7 vom 21.04.2024:


7

 

Noch ein Tag. Schröder blättert in unserer Zeitung und sagt: „Dr. Spengler hat in der heutigen Ausgabe keinen Beitrag geschrieben.“

Wir sitzen in dem allgemeinen Aufenthaltsraum. Wir haben gerade zu Mittag gegessen. Wir sind etwa sieben Leute, locker über den Raum verteilt. Nur Schröder und ich sitzen etwas näher zusammen. Jemand, auf den ich nicht geachtet habe und dessen Gesicht hinter der Zeitung verborgen bleibt, sagt: „Es hat seit Tagen keinen Bericht von Dr. Spengler mehr gegeben.“

Ich blicke fragend zu Schröder rüber. Ich weiß, dass es etwas Besonderes damit auf sich haben muss. Natürlich ist sein Gesicht verschlossen wie immer. Aber er blickt doch zu mir zurück, als er dem Unsichtbaren antwortet: „Sicher ist etwas Großes zu erwarten.“ Dann tritt wieder Ruhe ein.

 

Ich bin beunruhigt. Etwas ist mit Dr. Spengler. Wir können nicht hoffen, zu erfahren, was im Einzelnen los ist. Aber wir können uns unseren Teil denken. Seit Tagen also schreibt Spengler nicht mehr, besser: wird kein Text von Spengler mehr veröffentlicht. Das kann nur bedeuten, dass er in Ungnade gefallen ist. Oberflächlich betrachtet, könnte Schröders Bemerkung: ‚Sicher ist bald Großes zu erwarten‘ so gedeutet werden, als arbeite Spengler also an einem umfangreicheren Text; als würde irgendeine Umstrukturierung stattfinden, für die sehr intensive Vorbereitungen notwendig wären, als gäbe es für das augenblickliche Ausbleiben der täglichen Spenglerschen Texte zeitökonomische Gründe. Aber, wie ich schon sagte, wählt Schröder seine Worte immer sehr genau. Und er hat nicht gesagt: ‚Sicher ist bald Großes von Spengler zu erwarten‘.

 

Etwas anderes bereitet sich vor. Ob es mit der Wiederbesetzung der Stelle des stellvertretenden Chefredakteurs zu tun hat, die ja wohl an Spengler gehen soll?

„Die Umbenennung in C’lone University soll am Ov-Ov-Festival bekannt gegeben werden“, lässt sich der mit dem Gesicht hinter der Zeitung vernehmen. Es kommt wie ein unerwarteter Schlag in die Magengrube. Zum ersten Mal höre ich jemanden das aussprechen: C’lone University. Es war mir nicht bewusst geworden, als ich es zum ersten Mal las. Aber natürlich – gesprochen hört es sich an wie Clone: Clone University und sicher bald: Clone City.

 

Sehr flüchtig sehe ich zu Schröder hinüber, ob der sich etwas anmerken lässt. Lässt er nicht. Überhaupt reagiert niemand im Geringsten auf die Bemerkung. Ich bin mir aber sicher, dass ihnen allen die Brisanz des Gesagten bewusst geworden ist.

 

Allerdings ist das alles so neu, und man kann die Tragweite dessen, was sich hinter einer derartigen Umbenennung verbirgt, noch so gar nicht fassen, dass sich niemand seine Überraschung anmerken lassen will.

„Ich gehe wieder an die Arbeit“, sage ich, obwohl ich noch gut fünf Minuten Pause habe. Es macht einen guten Eindruck, wenn man sein Pausenkontingent nicht bis auf die letzte Minute ausschöpft. Und außerdem bin ich durch die zahlreichen Freigänge ohnehin privilegiert genug. Hier in der Redaktion bemühe ich mich, sehr konzentriert meiner Arbeit nachzugehen.

„Ich komme mit.“ Schröder steht ebenfalls auf. Wir können uns das erlauben. Wir haben denselben Weg, weil unsere Büros auf derselben Etage liegen, allerdings an verschiedenen Enden des Ganges. Meistens legen wir den gemeinsamen Weg schweigend zurück. Ab und zu lässt Schröder mir eine Information zukommen. Aber natürlich auf seine Schröder-Art. Nie sagt er etwas, bei dem nicht andere dabei sein können. Ich habe sogar den Verdacht, dass er, wenn er mir etwas besonders Wichtiges mitteilen will, dies immer nur in Gegenwart Dritter tut. Er richtet jedenfalls bedeutend häufiger das Wort an mich, wenn wir nicht allein sind, während er, wenn wir es sind, eher unbeteiligt tut. Ich bewundere seine Umsichtigkeit immer wieder. Situationen wie neulich, als wir uns im Dom getroffen haben, sind sehr, sehr selten, und außerdem ist es draußen etwas anderes.

 

Im Rausgehen versuche ich, das Gesicht hinter der Zeitung zu sehen. Es gelingt mir nicht.

 

Ein Mann aus Schröders Abteilung steht vor dem Fahrstuhl. Er fährt mit uns nach oben.

„Du solltest die Bemerkung von Burghard aus der Politik vielleicht in deinen Lobgesang integrieren“, schlägt Schröder im Nach-Oben-Fahren unvermittelt vor. Geistesgegenwärtig antworte ich: „Daran habe ich auch schon gedacht.“

Der andere bemerkt: „Ich sollte Ihnen noch gratulieren, Böll, da haben Sie ja eine gewaltige Aufgabe vor sich – so ein Glück müsste man haben!“ Ehe ich reagieren kann, sagt Schröder: „Weniger Glück, lieber Classen, als Können. Unser Böll hier kann eben etwas, sonst hätte man ihn nicht ausgewählt.“

„Klar, mein ich doch“, grinst Classen.

Ich weiß nicht genau, was er wirklich meint. Sicher wissen oder ahnen viele, dass ich mein Glück zum großen Teil Arena verdanke. Die Idee mit dem Lobgesang, zum Beispiel. Hätte mir auch selber kommen können. Ist sie aber nicht. Ich sage: „Es ist eine verdammt verantwortungsvolle Aufgabe, aber ich denke schon, dass ich damit zurechtkomme. Eine echte Herausforderung.“ Ich merke, dass man das missverstehen könnte und füge schnell hinzu: „Es ist phantastisch, wie die Betrachtung der Errungenschaften unserer Zeit einen geradezu mitreißen, das muss ich sagen. Ich hoffe, dass es mir gelingt, die richtigen Worte dafür zu finden.“

„Nun mal nicht so bescheiden“, sagt Schröder, als der Fahrstuhl auf unserer Etage angekommen ist. Wir gehen in verschiedene Richtungen auseinander.

 

Also gehörte das Gesicht hinter der Zeitung Burghard aus der Politik. Es ist klar, dass irgendetwas im Busch ist. Die aus der Politikabteilung verirren sich normalerweise nicht in unseren Aufenthaltsraum. War der gekommen, um uns zu beobachten? Uns? Oder Schröder? Oder mich? Oder wen sonst. Sicher ist bald Großes zu erwarten, hatte Schröder gesagt. Irgendetwas bereitet sich vor. So ist das zu verstehen.

 

Ich bin kaum in meinem Büro, als ich dringend auf die dritte Etage beordert werde. Die dritte Etage! Der Geschäftsführer persönlich. Ich gehe in Bruchteilen von Sekunden unsere Gespräche durch: beim Essen, im Aufenthaltsraum, im Fahrstuhl – alles harmlos. Die Hymne. Es muss sich um die Hymne handeln.

 

Normalerweise kümmert man sich an höchster Stelle nicht um unsere Texte oder besser gesagt: nicht direkt. Wir reichen unsere Ideen den Redakteuren ein, die eine Vorauswahl oder Vorabkritik vornehmen und die Texte dann entweder frei geben oder im Zweifelsfall auch weiterreichen. Je nach Bedeutung des Inhaltes kann die Vorabkritik tatsächlich bis ganz nach oben gehen, aber für meine Abteilung, für Texte des Inhalts, wie sie beim Schönschreiben allgemein üblich sind, trifft das meistens nicht zu. Obwohl jeder von uns selbstverständlich immer wieder geprüft wird und solche Prüfungen, die in regelmäßigen Abständen erfolgten, sehr ernst genommen werden müssen. Es kann daraufhin eine Charakterkritik erfolgen, im schwerwiegenden Einzelfall sogar eine Zurechtweisung – und dann natürlich immer wieder Stilkorrekturen, die sowohl einzelne, aus der Mode gekommene Wörter wie ganze, uninteressant gewordene Bereiche betreffen können. Man darf nicht vergessen, dass die Schönschreiber sehr frei sind. Sie können ihre Themen häufig selber wählen. Natürlich bekommt man mit der Zeit ein Gefühl für das, was man besprechen und beschreiben soll. Aber die Kontrolle ist schon gut, sonst würde es sicher hier und da zu unliebsamen Entgleisungen kommen.

 

Während ich den Fahrstuhl wieder nach unten, in die dritte Etage nehme, geht mir ganz kurz durch den Kopf, dass es vielleicht etwas mit Wallraf zu tun haben könnte. Bei dem Gedanken wird mir schlecht vor Angst. Ich darf mir auf gar keinen Fall etwas anmerken lassen. Es ist bekannt, dass alle Fahrstühle mit Kameras ausgestattet sind. Mikrophone sowieso. Ich blicke auf meine Schuhe, zupfe eine Fluse von meiner Hose, so als kontrolliere ich mein korrektes Aussehen, bevor ich vor den Geschäftsführer trete.

 

Es kann nicht sein. Sie würden das Risiko nicht eingehen. Wenn sie mich mit dem Klon erwischen, bin ich augenblicklich ein toter Mann. Sie würden mich nicht in das Zimmer des Höchsten bitten, um mir mitzuteilen, dass sie mich des schwersten aller Verbrechen anklagen. Ich bin ein unwichtiger Schreiberling. Sie würden mich unauffällig aussortieren. Arena würde wahrscheinlich leugnen, jemals verheiratet gewesen zu sein. Schröder würde irgendwie herausbekommen, was mit mir und warum geschehen war, und ich kann mir vorstellen, dass er einem anderen ‚Vertrauten‘ gegenüber verlauten lassen würde: ‚Es ist bedauerlich, dass niemand daran gedacht hat, beim Ov-Ov-Festival ein Lobgedicht auf unsere glorreiche Regierung zu halten‘.

 

Ich muss mich unbedingt unter Kontrolle kriegen. Ich frage mich, wen Schröder als Vertrauten auswählen würde. Jedenfalls nicht Classen.

 

Als ich vor der richtigen Tür stehe, geht sie auf wie von Geisterhand. Ich bin sicher, dass sie jeden meiner Schritte beobachtet haben. Die Sekretärin ist eine schlanke Blonde undefinierbaren Alters. Sie ist tadellos angezogen. Ich bin mir sicher, sie nie vorher gesehen zu haben. In den dritten Stock kann man nicht einfach selber fahren. Man wird dort angehalten und ausgeladen, wenn man gerufen worden ist. Die, die dort arbeiten, treffen im Normalfall nicht mit den anderen zusammen. Nur der Chefredakteur in den seltenen allgemeinen Richtliniensitzungen und natürlich der stellvertretende Chefredakteur in den etwas häufigeren wichtigen redaktionellen Sitzungen. Die anderen nie: der Vorstand, der Geschäftsführer, der Finanzverwalter – eben alle, die etwas zu sagen haben. Und auch das untergeordnete Personal, das dort arbeitet, Sekretärinnen, Boten usw., sie alle halten sich für sich. Bei den jährlichen beiden Betriebsfesten, im Sommer und zu Weihnachten, tauchen regelmäßig verschiedene Personen auf, deren Herkunft man nicht kennt, und es liegt nahe, zu vermuten, dass sich hierunter solche von der dritten Etage befinden, möglicherweise sogar recht wichtige. Aber man erhält darüber keine Aufklärung. Und man fragt natürlich nicht.

 

Ich wundere mich also nicht, dass ich die hier noch nie gesehen habe. Ich frage mich, ob ich sie attraktiv finde. Ich frage mich das nur, weil mir die bewusste Begegnung mit Arena bevorsteht und ich wissen möchte, ob Frauen ganz allgemein auf Männer wirken und wie. Ich frage mich das seitdem ununterbrochen: wie wirken Frauen auf Männer, welche Frauen wirken auf welche Männer und natürlich welche Frauen wirken – auf mich?

 

Sie hat etwas Blechernes an sich. Ich weiß nicht, warum ich das denke. In ihrem kühlen zurückhaltend-freundlichen Lächeln, das durch seine unglaubliche Perfektion besticht, erkenne ich einen leicht metallischen Glanz. Und sie kommt mir vor wie aus fein gearbeitetem, edlem Aluminium. Das ist mal eine, deren Eltern die allergrößte Mühe auf die äußere Zusammenstellung ihrer Tochter verwendet haben. Hier stimmt aber auch alles. Wie kriegen die das bloß hin? Ich frage mich, ob ich so eine gerne als Tochter hätte, und auch, welches Geschlecht ich, wenn ich die Wahl hätte, aussuchen würde. Ich bin mir fast sicher, dass Arena so ein Exemplar wie die Sekretärin hier, wahrscheinlich nicht wollen würde. Ich irgendwie auch nicht. Obwohl ich doch zugeben muss, dass sie auf ihre Art perfekt ist.

 

Ich habe den Geschäftsführer noch nie gesehen, aber ich weiß, dass er Dr. Becker heißt. Wie nicht anders zu erwarten, ist Dr. Becker eine imposante Erscheinung. Er ist groß, hat volles dunkles Haar und trägt eine Brille. In meinen Kreisen ist es besser, Kontaktlinsen zu benutzen, wenn man nicht mehr so gut sieht. Ich weiß aber, dass die Macher in allen Bereichen sehr häufig eine Brille als Zeichen ihrer großen Verantwortung tragen. Ich überlege, wie alt Becker ist, als er hinter seinem Schreibtisch aufsteht, um auf mich zuzukommen und mir die Hand zur Begrüßung zu geben. Ich bin starr vor Staunen und weiß nicht, wie ich reagieren soll. Dennoch stelle ich blitzschnell fest, dass er nicht mehr so jung sein kann. Er ist natürlich geglättet. Mehrfach. Seine Haut hat bereits die Konsistenz von Pergamentpapier, wie sie nach zu häufigem Glätten verräterischer Weise auftritt. Man findet einfach keine Mittel dagegen. Er hat enorm viel jugendlichen Schwung, wie er da so auf mich zukommt, und vielleicht kann er manche über sein wahres Alter hinwegtäuschen. Aber ich bin es gewohnt, sehr genau hinzusehen. Mein Beruf bringt das mit sich, die genaue Beobachtung, die der Beschreibung vorangeht. Er ist deutlich älter als meine Mutter war. Ich glaube sogar, dass er bereits über sechzig ist. Der Gedanke geht mir durch den Kopf, dass man ihn wohl bald entsorgen wird, und ich frage mich, wer das tun wird. Seine Kinder? Die Verantwortlichen unserer Zeitung? Und absonderlicher Weise begreife ich in diesem Augenblick, wie schwer es jemandem fallen muss, der wie Dr. Becker den Gipfel der Macht erreicht hat, und der noch einigermaßen in Schuss ist, sich darauf vorzubereiten, dass die unausweichliche Entsorgung näher rückt.

 

Ich weiß nicht, warum ich ausgerechnet daran denke, während Dr. Becker mich mit munteren Worten, die zu solchen Gedanken in großem Kontrast stehen, auffordert, in einer Sitzecke Platz zu nehmen. Aus dem Fenster haben wir einen schönen Blick auf den freien Platz vor der Oper, auf dem Inseln mit Wasserspielen und solchen mit wunderbarem Grünbewuchs abwechseln, die die Menschen zum Verweilen einladen sollen. Natürlich ist jetzt, am frühen Nachmittag niemand da, der davon Gebrauch machen würde. Ich sehe einen Mann mit einer Harke, der lustlos in den Grünbeeten herumstochert. Ich überlege, ob ich eine Bemerkung zu der Aussicht machen soll, lass es dann aber bleiben und warte ab, was da kommen wird. Die Kamera über dem Fenster ist genau auf uns gerichtet.

„Ich möchte Ihnen gratulieren, Böll,“ fängt Becker an, und ich lächele verbindlich, weil mir nicht völlig klar ist, wozu er mir gratulieren will. Ich nehme mal an, die Hymne. Ich sage: „Danke, ja, ich bin sehr froh.“

„Das können Sie auch sein. Ihre Frau ist eine außerordentlich talentierte Person, eine hochqualifizierte Mitarbeiterin, dazu motiviert und weitsichtig wie kaum eine. Sie wird es weit bringen, darf ich Ihnen prophezeien. Und sie hat es in gewisser Weise durch sie ja bereits auch schon getan.“

Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. „Ja, sie ist außergewöhnlich“, sage ich vage.

„Deswegen ist es ein Glück – ich darf Ihnen das von Mann zu Mann sagen –, dass sie die Erlaubnis zur Fortpflanzung und gerade auch auf diese besondere Weise erhalten haben. Ich gratuliere noch einmal. Wir können solchen Nachwuchs dringend brauchen.“ Und dann fügt er, zu meinem Entsetzen, mit einem falschen lauten Lachen hinzu: „Strengen Sie sich an, Böll, nicht dass Ihnen jemand helfen muss!“ Ich werde rot. Ich bin darauf nicht vorbereitet. Es kann nicht sein, dass ich zum Geschäftsführer unserer Zeitung gerufen werde, um über die unangenehmsten, intimsten Details meiner Ehe sprechen zu müssen. Wieso weiß er überhaupt davon?

 

Er merkt meine Irritation und lenkt sofort ein: „Mein lieber Böll, lassen Sie sich nicht von einem erfahrenen Mann aus der Ruhe bringen. Sie sind jung, Sie sind noch nicht lange verheiratet, Sie dürfen es sich hoch anrechnen, dass Sie jetzt schon so weit gekommen sind. Und ich habe davon gehört, dass Sie in diesem Jahr Karten für das Ov-Ov-Festival bekommen haben. Ihr Vorschlag der Hymne ist allgemein sehr gut aufgenommen worden. Wirklich eine hervorragende Idee, alle Achtung!“

Schnell versuche ich, sicheren Boden unter den Füßen zu bekommen. „Ich wollte mich für das große Privileg bedanken, es ist so wenig, was ich tun kann.“

„Lassen Sie mal gut sein. Sie sind ein gewitzter Bursche. Das gefällt mir. Es gefällt auch an anderer Stelle, wenn Sie verstehen, und, Böll, kommen wir zur Sache: Sie haben potente Förderer und, mit einem Wort, es wird allgemein überlegt, Sie zum stellvertretenden Chefredakteur zu ernennen. Wir haben Sie natürlich einer eingehenden Prüfung unterzogen, Ihre Arbeit, Ihren Lebenswandel, Ihre Ehe – ja natürlich, das Privatleben gehört dazu. Vor allem das Privatleben!“

 

Er betont es so, als wolle er mir verdeutlichen, dass nichts, aber auch gar nichts so wichtig ist wie das traute Heim und eine zufriedene Zweisamkeit. Dabei scheint die Ungeheuerlichkeit, die er gerade losgelassen hat, bloß zweitrangig. Was glaubt er, wen er vor sich hat?! Ich denke an Arena und an ihren Ehrgeiz, und obwohl ich nicht verstehe, was hier abgeht, weiß ich, dass sie dahintersteckt. Sie hat es geschafft, nicht ich, das ist mir klar. Sie hat alles geschafft, was sie wollte. Es ist geradezu unheimlich.

 

„Natürlich geht das nicht so von heute auf morgen“, fährt Becker jovial fort. „Wir müssen schon noch einige Vorbereitungen treffen. Es ist ein ungewöhnlicher Schritt, Sie in dieser Weise zu befördern, das wissen Sie sicher. Sie können sich wohl ebenfalls vorstellen, dass nicht alle Mitarbeiter sofort von der Klugheit dieser Entscheidung überzeugt sein werden. Man kennt Sie zwar allgemein als einen zuverlässigen Mann, und in ihrer Abteilung genießen sie durchaus seit längerem ein gewisses Renommee. Aber hier geht es natürlich um ganz andere Dinge und um sehr viel mehr – das ist Ihnen doch klar...“ Er hat sich unterbrochen, um zu sehen, wie ich reagiere, ob das alles nicht tatsächlich ein bisschen viel ist für den Anfang.

 

Ich habe die Arme auf meine etwas gespreizten Schenkel gestützt. Ich habe die Hände ineinander verschränkt. Sie befinden sich zwischen meinen Knien. Ich sitze leicht vorgebeugt auf dem Sofa, auf dem er mir den Platz angeboten hat. Diese Haltung mit den Händen nach vorn, gibt mir eine gewisse Stabilität, ermöglicht mir durch die vorgebeugte Haltung, ihm sowohl in die Augen zu blicken, als auch in nachdenklich-bescheidener Weise nach unten zu gucken. Die ganze Zeit, während er spricht, sehe ich vornehmlich nach unten, verstehend, dass es Schwierigkeiten gibt, bereit, eine Übergangsperiode in großer Selbstverständlichkeit abzuwarten. Auf seine Frage hin öffne ich ihm meinen Blick. Ich tue es, meiner Haltung entsprechend, indem ich schräg von unten zu ihm hochsehe, was mir hoffentlich jenen überlegen-legeren Ausdruck verleiht, den alle unsere jungen Karrieristen immerzu an den Tag legen.

„Vollkommen“, antworte ich mit gewinnendem Lächeln.

„Wir haben daran gedacht, Ihnen die Möglichkeit zu geben, sich nach und nach in Ihre große Aufgabe einzuarbeiten. Zunächst sollen Sie Dr. Spenglers tägliche Kolumne auf S. 3 bekommen: ‚Gedanken zum Tage‘. Die kennen Sie doch?“ Tatsächlich hatte er dem Satz eine zwar sehr leichte aber dennoch deutlich fragende Intonation gegeben. Ich klappe mit dem Mund und öffne kurz die Hände wie um zu sagen, dass jeder, und ich selbstverständlich auch – Aber daran ist er natürlich nicht interessiert.

„Dr. Spengler musste sich einer Magenoperation unterziehen und wird für einige Zeit ohnehin nicht schreiben können. Wir dachten, dass sich das gut trifft und wir es wagen sollten, Ihnen diese Chance zu geben.“ 

 

Er schweigt zufrieden mit sich und sieht mich erwartungsvoll an. Mir ist sofort klar, dass Spengler out ist. Er wird nie wieder schreiben. Er hat in den letzten sieben oder acht Jahren, seit ich für die Zeitung arbeite, nicht einen Tag nicht geschrieben, gleichgültig ob er krank war oder in Urlaub. Gut, über Krankheiten wissen wir nicht wirklich etwas, sie kommen eigentlich nicht vor. Aber Urlaub. Spengler war natürlich sehr privilegiert und durfte ab und zu auf den Inseln Urlaub machen, worüber auch berichtet wurde. Aber dann hatte er immer so viele ‚Gedanken zum Tage‘ auf Vorrat geschrieben oder sandte sie sogar aus dem Urlaub, dass wir nicht an einem einzigen darauf zu verzichten brauchten.

 

Ich halte es jetzt für besser, meine Beine zu schließen und meine Hände zurück zu nehmen, während ich ihm meine volle Dankbarkeit darbiete, indem ich sage: „Das ist eine wirklich überaus großzügige Geste und eine wundervolle Chance für mich, ich bin überrascht und hocherfreut, dass Ihre Wahl auf mich gefallen ist, ich werde...“

„Gut, gut, gut!“ unterbricht er mich. Wahrscheinlich kennt er das hilflose Gestammel der untergeordneten, plötzlich und unerwartet erhöhten Chargen, wie ich eine bin, zur Genüge und ist die aus Angst und Unverständnis geborenen falschen Beteuerungen satt.

 

Ich kann ihm das nicht verdenken und bin froh, keinen unhaltbaren Unsinn versprechen zu müssen.

„Am besten, Sie fangen heute noch an. Sie haben zwei Stunden Zeit. Fünfundzwanzig bis maximal fünfunddreißig Zeilen, einspaltig, Sie wissen schon, kommen Sie kurz vor 17 Uhr zu Frau Bauer ins Vorzimmer und lassen Sie mich zunächst einmal sehen, was Sie – ach, das Thema. Schreiben Sie ‚Über den Frieden‘. Sie wissen, dass unsere Regierung wieder einmal einen Vorstoß gewagt hat und dass sie nicht nur Universitätsprofessoren aus aller Welt zu einer Friedenskonferenz geladen hat, sondern dass auch einige Abgeordnete unserer Nachbarländer ...“ Er vervollständigt den Satz nicht. Sicher hält er es für überflüssig. Solche Friedenskonferenzen finden alle paar Monate statt und werden als sehr große Erfolge der Regierung gefeiert, obwohl niemand je einen Nutzen daraus gezogen hat.

„Selbstverständlich“, sage ich, „das sollte nicht allzu schwierig sein.“

„Das habe ich nicht anders erwartet“, sagt Becker lächelnd, erhebt sich und gibt mir zum Abschied wieder die Hand. Diesmal bin ich eher darauf gefasst.

„Also, Böll, noch einmal: kein Wort zunächst zu irgendjemandem. Wir bereiten Ihren Aufstieg langsam vor. Es wird sich natürlich nicht vermeiden lassen, dass Sie allein durch die Tatsache ihrer Übernahme der ‚Gedanken zum Tage‘ auffallen und sicher auch angesprochen werden. Sie werden dann von Dr. Spenglers Magenoperation und zeitweiligem Ausfall sprechen. Wir bringen diese Notiz im Übrigen auch unter ‚Persönliches‘, so dass das als Erklärung völlig genügen dürfte.“ Ich frage mich, ob er das selber glaubt, dass die Leute diesen ungeheuerlichen Umschwung mit einer so läppischen Erklärung wie einer angeblichen, vorübergehenden Krankheit des einen Beteiligten einfach akzeptieren würden. Ob er sich nicht klar macht, welche Gerüchteküche damit in Gang gesetzt wird? Oder ist ihm das egal? Oder wollen sie damit nur erst herausfinden, wie die Allgemeinheit auf meine Beförderung reagieren wird? Ich habe mich ebenfalls erhoben, nicke ihm zu und wende mich zur Tür.

„Ach, Böll“, sagt er, als ich den Türgriff schon in der Hand halte, „mit ihrer Frau können Sie natürlich darüber sprechen. Sie können es ihr morgen zu der besonderen Gelegenheit sozusagen schenken. Was halten Sie davon? Das ist doch ein Knüller, was?“ Wieder lacht er zu laut und zu aufdringlich. Augenblicklich friere ich ein, um nicht zu schreien vor Angst und Widerwillen, um nicht rot zu werden oder zu husten, sondern in aller Ruhe die Tür in der Hand zu behalten. Dann gelingt es mir tatsächlich, herauszubringen: „Kann man wohl sagen.“ Dann nehme ich Haltung an und versichere ihm: „Um 17 Uhr haben Sie den Text ‚Über den Frieden‘ vorliegen, Herr Dr. Becker!“ Raus bin ich.

 

Nichts anmerken lassen, ruhig bleiben, die Tussi freundlich grüßen, im Fahrstuhl nach unten blicken, raus auf meinen Flur, in mein Büro, den Kollegen zurufen: „Ich brauche zwei Stunden absolute Ruhe. Aber ABSOLUT!“ Die Tür zu, das Fenster auf. Ich setze mich an den Schreibtisch, lade mir im Computer den letzten ‚Gedanken zum Tage‘ von vor etwa vier Tagen – so lange ist Spengler bereits weg vom Fenster, und niemand hat etwas gemerkt. Doch. Schröder.

 

Der Text geht mir unheimlich schnell von der Hand. Ich lobe das friedliche Konfliktmanagement der Regierung, das greift, wirklich greift, weil es auf Dialog setzt. Ich sage, dass hier ‚neue Wege der Menschlichkeit‘ beschritten werden im ‚Interesse der Welt‘. Ich schließe mit einem Satz, den sich nur ein Schönschreiber erlauben darf – aber ich bin ein Schönschreiber, und es wird ihnen nicht leidtun, dass ihre Wahl auf mich gefallen ist: ‚Wir müssen und wir können hier und heute für eine bessere Welt träumen‘. Grandios. Das wird er fressen. So gut wie Spengler bin ich allemal.

 

Ich bin um 16.45 Uhr fertig, eine Viertelstunde vor der ausgemachten Zeit. Trotzdem entschließe ich mich, bereits jetzt nach unten zu fahren. Erst im Fahrstuhl fällt mir ein, dass ich keine Möglichkeit habe, im dritten Stock anzuhalten. Es gibt keinen Knopf auf den man drücken kann, nur ein Schloss, für das ich natürlich keinen Schlüssel habe. Ich berühre einfach die Zahl drei, und wie von Geisterhand setzt sich der Fahrstuhl in Bewegung.

 

Ich gebe der Aluminiumtussi meinen Text. Nein, sie törnt mich nicht an, wie man so sagt. Aber dann – was um alles in der Welt törnt mich überhaupt an?!

 

Dr. Becker sehe ich natürlich auch nicht mehr.

 

Ich gehe erstmal in die Waschräume.

 

Es ist ein Gefühl, als habe mir jemand Cayennepfeffer ins Blut gemischt. Ich brenne. Ich brenne von innen und von außen. Ich spüle mein Gesicht mit kaltem Wasser ab, ich lasse kaltes Wasser über meine Handgelenke laufen. Es ist mir egal, ob sie mich beobachten. Sie werden denken, dass es der freudige Schock ist, der mich so aufregt. Ist es gut, sich so aufregen zu lassen? Sicher nicht besonders professionell. Andererseits ist dies eine unglaubliche Ausnahmesituation. Ausgeschlossen, dass man das unbewegt schlucken kann, niemand kann das, ein einfacher Schreiber wie ich, dem man plötzlich die Fürstenkrone hinhält, schon gar nicht. Das werden sie für normal halten. Sie werden viel eher beobachten, wie ich mich öffentlich verhalte.

 

Ich zwinge mich zur Ruhe. Da ist keine Gefahr. Ich habe keine Freunde, keine Vertrauten, niemanden, mit dem ich darüber hätte sprechen wollen. Nicht einmal Schröder kommt in Frage – im Grunde der am allerwenigsten! Ich frage mich, ob er es irgendwie erfahren wird und mich dann wissen lässt, dass er es weiß. Das Bild meiner Großmutter steigt in mir hoch und ein Bedauern, dass ich nicht mehr zwölf bin und mit ihr meine Gedanken teilen kann.

 

Noch einmal tauche ich mein Gesicht unter kaltes Wasser. Tränen sind in mir hochgestiegen, ich lasse sie mit dem Wasser in den Abfluss laufen. Tränen sind nicht gut. Tränen sind ein Zeichen dafür, dass man mit sich nicht in Einklang steht. Ich nehme mir einige Papiertaschentücher und halte sie vors Gesicht. Wenn ich jetzt loslasse und die Taschentücher in den Mülleimer werfe, muss es gut sein. Dann werde ich mich wieder gefangen haben. Der Ausdruck meines Gesichtes wird dann von tiefer innerer Zufriedenheit geprägt sein. Von Genugtuung, von einem Wissen um höhere Zusammenhänge, das ich mit niemandem teilen muss.

 

Aber ich bin kein Schauspieler. Ich beschließe, einfach mein ganz normales Gesicht zu machen, mein ganz normales Pokerface. Ich lasse mir nichts anmerken, einfach rein gar nichts. Ich finde, ich habe es verdient, heute früher nach Hause zu gehen. Es gibt sowieso nichts mehr zu tun. Niemand kann erwarten, dass ich mich heute noch meiner normalen Arbeit widme. Wie lange wird das noch meine normale Arbeit sein?

 

Als ich am Lesesaal vorbeikomme, widerstehe ich der Versuchung, hineinzugehen, um vielleicht Schröder zu treffen. Stattdessen fällt mein Blick auf den Eingang zur Bibliothek direkt daneben. Einem spontanen Impuls folgend gehe ich hinein. Die Bibliothek steht grundsätzlich jedem offen, aber man muss natürlich an einer bestimmten Aufgabe arbeiten, um Bücher einsehen zu können.

 

Der Mann am Empfang trägt eine sehr dicke Brille. Aus irgendwelchen Gründen zieht er die Brille den Kontaktlinsen vor. Manchmal verträgt einer keine Kontaktlinsen. Ich weiß nicht, warum es immer noch Menschen mit solchen Gebrechen geben muss. Ärgerlich und gereizt denke ich, dass man darauf bei der Fortpflanzung doch nun wirklich achten kann.

 

Ich stehe vor ihm, irritiert, weil das, was ich da gerade denke, mich in unangenehmer Weise daran erinnert, was mir morgen bevorsteht. Irritiert auch, weil ich gar nicht weiß, was ich ihm sagen soll. Der Mensch blickt mich aus seinen hervorquellenden Augen an, die von dem Glas der Brille noch vergrößert werden und sagt: „Ach, Böll. Du kommst sicher wegen deiner Hymne.“ Das hat sich ja wirklich bis in den letzten Winkel herumgesprochen. Auch bin ich zum wiederholten Mal erstaunt, dass viele Leute meinen Namen zu kennen scheinen, während ich mich an kaum einen von ihnen erinnere. Immer fand ich instinktiv, dass eine allzu große Vertraulichkeit mit zu vielen Leuten nicht von Vorteil sein kann. Jetzt bin ich dankbar dafür. Sein Namensschild steht vor ihm auf dem Tisch.

„Ich brauche umfangreiches älteres Material, Schuster“, sage ich also, „vor allem Jahresübersichten und so. Kannst du mir helfen?“

„Klar“, antwortet er beflissen. „Komm morgen Nachmittag, dann habe ich dir etwas zurechtgelegt.“ Er zögert eine Sekunde und sagt dann tatsächlich: „Oder übermorgen, wann du willst eben.“

Es verschlägt mir die Sprache. Weiß denn alle Welt, was morgen für mich für ein Tag ist?!

 

Ich gehe geradewegs zum Fluss, um mich abzureagieren, um allein zu sein, um zu verstehen, in was ich da reingeraten bin. Aber der Fluss stinkt heute, und ich beschließe, obwohl es nicht weise ist, in eine Kneipe zu gehen und mir ein paar Bier reinzukippen.

 

Das nächste Kapitel folgt am 28.04.2024 ...