Fortsetzungsroman "CLONE CITY" von Brigitte Tietzel

Letztes Kapitel 17 vom 30.06.2024:


17

 

Es ist überhaupt kein Problem, in der Redaktion anzurufen und zu sagen, dass ich die restliche Zeit vor dem Ov-Ov-Festival sozusagen in Klausur zu Hause verbringen werde, um der Hymne den letzten Schliff zu geben.

 

Ich habe mich in den letzten Wochen so intensiv mit den verschiedenen Phasen der Hymne befasst, dass mir die Formulierung leichtfällt, genauso leicht, wie für die ‚Gedanken zum Tage‘. Ich wundere mich etwas, dass Becker mir so freie Hand lässt. Ihr Vertrauen in meine Fähigkeiten als Schönschreiber ist ganz offensichtlich grenzenlos. Natürlich haben sie seit langem Erfahrung mit meinem Stil. Und die Gedanken zum Tage sind mir gut gelungen und treffen in allem den Ton, den sie wollen. Es ist meine zweite Natur, die Dinge so darzustellen, wie sie dargestellt werden sollen. Ich finde einfach immer die richtigen Worte. Ich kann mich auf mich verlassen.

 

Ich schreibe die Hymne in einem Tag. Sie darf nicht zu lang werden. Eine Viertelstunde höchstens. Sonst hört niemand mehr zu. Ich soll sie selber vorlesen. Das ist ohne Zweifel eine große Ehre. Was, denke ich, wenn ich, statt einen Lobgesang zu verfassen, eine große Anklageschrift vorlese, Hinweise auf ihre Machenschaften gebe, die Bevölkerung vor der Entwicklung des Klonens warne? Ich bin sicher, dass ich eliminiert werde, ehe ich zu Ende sprechen kann. Sie gehen kein Risiko ein. Sie gehen in jedem Fall auf Nummer sicher. Andererseits liegt ihnen ganz sicher nichts an einem Skandal auf dem Ov-Ov-Festival. Wenn sie es verhindern können, werden sie mich auf gar keinen Fall eliminieren. Ihr Bestreben muss sein, mich groß raus kommen zu lassen. Sie wollen mich zum stellvertretenden Chefredakteur ernennen, sie können sich keine Schlappe leisten. Irgendwie beruhigt mich das.

 

Was meine Entdeckung mit Schröder angeht, so versuche ich, die Sache rational anzugehen. Schröder wird nicht der einzige sein, den sie ersetzt haben. Über kurz oder lang werden sie uns offiziell darüber informieren müssen. Vielleicht sogar schon in Zusammenhang mit der Umbenennung unserer Stadt jetzt beim Festival. Vielleicht habe ich Schuster ganz umsonst umgebracht. Außerdem, so wie die Dinge liegen, und wenn man an meine zurückliegenden und jetzt zu erwartenden Erfolge denkt, gehöre ich doch schon so gut wie zur anderen Seite!?

 

Ich drucke den Text aus und denke an Maria. Den halben Freitag und den ganzen Samstag liege ich auf meinem Bett und tue gar nichts, warte auf den Beginn des Festivals und denke daran, wie es sein wird mit Maria.

 

Am Samstagmittag höre ich die Tür gehen. Ich glaube, Arena ist die ganze letzte Woche nicht zu Hause gewesen. In den letzten beiden Tagen, seit ich ununterbrochen im Hause arbeite, war sie bestimmt nicht da. Ich hätte sie gehört. Ich liege ganz still, weiß nicht, was ich tun soll oder was jetzt geschehen wird. Sie weiß offensichtlich, dass ich da bin, oder vielleicht ahnt sie es. Sie versucht, Kontakt aufzunehmen und ruft leise: „Böll?!“

Soll ich ihr antworten?

„Ist alles in Ordnung?“ fragt sie weiter, und ich denke, was für eine seltsame Frau.

„Bist du fertig geworden?“ Also ist es die Hymne, die ihr Sorgen macht, die Hymne, die mir Ehre bringen soll und deswegen auch für sie von so großer Bedeutung ist. Sie wird nicht lockerlassen, wenn ich nicht antworte. Und es spielt ja auch keine Rolle mehr. Also rufe ich: „Es ist alles okay. Ich glaub, sie ist großartig geworden.“

„Fein!“ antwortet sie. „Ich wusste es.“

Pause. Dann, schmeichelnd: „Bist du fertig angezogen? Sollen wir nicht zusammen hingehen? Es wir einen guten Eindruck machen. Lass mich deinen Anzug überprüfen.“

Sie wird keine Ruhe geben. Ich reiße mich zusammen, stehe auf und öffne die Tür, die immer noch abgeschlossen ist. Aber sie macht keine Bemerkung, geht völlig darüber hinweg. Alles ist in Ordnung. Sie wird aus diesem Tag das Beste herausholen, da bin ich sicher.

 

„Du bist noch gar nicht umgezogen“, sagte sie, „wo ist dein Anzug?“ Sie kommt einfach und wie selbstverständlich in meinen Bereich, öffnet meinen Schrank, ist für einen Moment ratlos, will fragen: Wo?... und sieht dann meinen guten Anzug, den, zu dem sie mir vor einiger Zeit schon geraten hat. Top Design. Arena hat den besten Geschmack von allen. Sie holt den Anzug raus, überprüft, ob er in Ordnung ist, legt mir auch alle weiteren Kleidungsstücke hin, inklusive Unterwäsche, so dass ich staune, woher sie weiß, wie ich meinen Schrank geordnet habe, aber vielleicht sind alle Schränke der Welt gleich geordnet, und sagt: „Nimm noch eine Dusche. In einer Stunde etwa sollten wir gehen. Vergiss nicht, die Haare zu waschen, heute blickt sozusagen die Welt auf dich!“

Damit verlässt sie mich, nicht ohne mich mit einem schelmischen Blick zu bedenken und im Vorbeigehen tätschelt sie mir sogar übermütig die Wange.

 

Die ganze Zeit über stehe ich starr und sehe ihr zu. Ich versuche zu ergründen, was wirklich in ihr vorgeht. Sie behandelt mich wie ein Kind oder wie ein unmündiges Wesen, dem man auf die Sprünge helfen muss. Ich frage mich, was nach dem Ov-Ov-Festival sein wird? Denkt sie, dass unser Leben dann wieder normal weitergehen wird? Wird sie wieder in die Wohnung zurückkehren? Oder wird sie ganz zu Becker ziehen? Nein, ich denke schon, dass sie dann als meine Frau auftreten wird. Ich werde Erfolg haben, ich werde heute befördert. Sie ist selber erfolgreich, aber das, was mich erwartet, übertrifft sicher alles, was ihr selber möglich wäre. Sie wird es genießen, die Frau an meiner Seite zu sein. Außerdem bekommen wir ja das Kind.

 

Nur: Es wird kein ‚danach‘ für uns geben. Sie weiß es noch nicht, aber sie wird ab Montag so gut wie Witwe sein. Ich werde nicht mehr da sein. Maria und ich werden auf dem Weg in unser neues Leben sein. Fast bedaure ich Arena, die alles so wunderbar eingefädelt hat: Der endgültige Erfolg, der Erfolg auf Dauer, der ihre Stellung für die Zukunft durch meine Person festigen sollte, wird ihr nun doch versagt bleiben. Meine Hymne wird eine Eintagsfliege bleiben. Schließlich wird jemand anderes zum stellvertretenden Chefredakteur ernannt werden! Vielleicht kommt Spengler ja zurück!

 

Ich höre, wie sie in ihrem eigenen Bereich ausgelassen hantiert und zu irgendeiner Musik trällert. Ich beschließe, das Spiel heute Abend bis zum Ende mitzuspielen. Auch aus Arenas Verhalten erkenne ich, dass Schuster, was immer sie mit ihm inzwischen gemacht haben, keine Rolle spielt. Das beruhigt mich.

 

Arena hat einen Wagen arrangiert. Ich frage nicht, ob es Beckers Wagen ist, oder einer von Beckers Wagen. Er ist jedenfalls für uns im Augenblick noch eine Nummer zu groß. Allerdings am Ende des Abends, also nach meiner Beförderung, wird er sozusagen passend sein. Wir sehen aus wie ein strahlendes junges Paar. Ich: lässig in meiner Designer-Kluft, die meine Größe und Schlacksigkeit unterstreicht, sie in einem rasanten, in eigentümlichen Rottönen changierenden Kleid, aus einem dieser ganz neuen Materialien, die so leicht und wunderbar sind, dass sie den Körper wie ein Windhauch umfließen; sehr ausladende schwarze Flügelärmel und eine Draperie um die Hüften, die ebenfalls zu den Seiten irgendwie absteht, so dass sie Mühe hat, in das Auto zu steigen. Wenn sie steht, ist sie eine elegante Erscheinung, von einer kühlen Unnahbarkeit, die in starkem und reizvollem Kontrast zu dem ungewöhnlichen, eigenwilligen, phantastischen Kleid steht. Ich bin sicher, dass sie auffallen will, und wird, und dass sie alles bestens für unseren Auftritt vorbereitet hat.

 

Unser Wagen muss warten, eingereiht in eine lange Schlange von gleichen Autos, bis wir vor dem MAK halten und aussteigen können. Der Fahrer fährt weiter, wer weiß, wohin. Ich bin sicher, später am Abend wird er in derselben Schlange wieder vorfahren, um uns abzuholen. Es ist alles arrangiert. Wir gehen mit anderen, gutaussehenden und noch besser angezogenen Paaren auf den hell erleuchteten Eingang des Museums zu. Der ganze Vorplatz stellt sich dar wie eine riesige Theaterbühne, vor allem die hohe kastenförmige Front des Gebäudes, dessen wenige und kleine Fenster – im Vergleich zu den Glaspalästen unseres Jahrhunderts – man für dies Gelegenheit vollständig und bis zur Unkenntlichkeit verhüllt hat, so dass stattdessen eine riesige Screen entstanden ist, eine Projektionsfläche, auf der sich das Geschehen des Innenraumes widerspiegelt. In schnellem Wechsel, sieht man einmal die gesamte Halle, die selbst über hundert Jahre nach ihrer Entstehung noch nichts von ihrer Größe, ja Großartigkeit verloren hat, und dann zehn oder fünfzehn Porträts von bedeutenden Persönlichkeiten der Regierung oder unserer Stadt und von schönen Frauen.

 

Die Menge gafft. Wie immer steht auf dem großen freien Platz vor dem Museum - auf dem ehemals die öffentlichen Fernsehanstalten standen, deren völlig veraltete Gebäude man vor etwa zwanzig Jahren abgerissen hat, wodurch ein wichtiges Grundstück im Zentrum der Stadt frei wurde, über dessen neuerliche Bebauung man seit neuestem wieder berät –, eine riesige Menschentraube, die dabei sein will, bei diesem Jahreshauptereignis unserer Stadt.

 

Ich weiß, dass es Arenas Ehrgeiz ist, auf einem dieser Bildschirme nach draußen projiziert zu werden. Ich werde während meines Vortrags ganz sicher darauf zu sehen sein, und im Grunde kann sie davon ausgehen, dass wir beide dort erscheinen werden, denn schon jetzt ist sie die Frau an meiner Seite.

 

Während wir immer noch langsam im großen Pulk auf den viel zu kleinen Eingang zugehen und ich die Riesenportäts vor mir, über mir ebenfalls sehe, fällt mir auf, wie sehr sie sich gleichen, wie alle diese schönen, gut aussehenden Menschen sich gleichen. Und dass Arena wunderbar dazu passen wird. Plötzlich wird mir mitten in der Menge kalt. Wie viele von denen mögen, wie Schröder, bereits als Ersatz ihrer selbst auftreten? Dann schiebe ich den Gedanken beiseite.

 

Ich kenne keine Menschenseele, und auch Arena scheint ein bisschen irritiert, als wir endlich in dem Gebäude sind. Aber ihr Aussehen gibt ihr Mut und sicher auch das Bewusstsein, dass bald, nachher, die Leute, die sie jetzt noch nicht beachten, weil sie nach den anderen, den wichtigeren Ausschau halten, auch ihre Nähe suchen werden.

 

Ich kann nicht leugnen, dass es mir ein bisschen Spaß macht, das alles zu beobachten. Auch ich empfinde, wie die Situation mein Gefühl für meine eigene Bedeutung steigert. Schon fallen hier und da Blicke auf uns, die zu wissen scheinen, dass wir nicht irgendwer sind. Arena strahlt mich an, während sie ein Glas Champagner nimmt und mich auffordert, dasselbe zu tun. Sie weiß, dass ich mir nichts aus Champagner mache, aber ein Bier zu trinken, kommt natürlich überhaupt nicht in Frage. Ich sage leise, dass ich vorsichtig sein möchte, bis ich meinen Lobgesang vorgetragen habe, und sie lächelt und wispert, dass sie das okay findet. Für den Augenblick brauche ich dieses Brausewasser also nicht zu trinken.

 

Wer uns beobachtet, muss tiefstes Einverständnis zwischen uns vermuten. Die Frau an meiner Seite. Unwillkürlich muss ich lachen. Es ist zu verrückt. Endlich, endlich habe ich diese Frau gefunden, die einzige, die wahre, die, die ich nie wieder fortlassen werde – und hier bilde ich ein Paar mit einer Larve.

 

Ich bin Arena nicht böse. Ich verachte sie nicht, nicht einmal, wenn ich daran denke, was sie mir in diesem Wasserturm angetan hat. Im Grunde ist sie sich treu geblieben. Ich bin es, der aus der Rolle fällt. Ich bin es, der nicht mehr funktioniert. Oh, nicht heute Abend. Heute Abend werde ich Ihnen zeigen, wozu ich fähig bin. Sie sollen mit mir zufrieden sein, Arena soll stolz auf mich sein. Es ist der Preis, den ich bereit bin zu bezahlen, der Preis, mich frei zu kaufen, der Preis für ein Leben außerhalb der Gesellschaft, für ein Leben mit Maria. Und sie, Maria, steht vielleicht draußen vor der Tür und beobachtet mich, sieht meinen Erfolg, den Garanten unserer Freiheit. Ich fühle mich leicht und beschwingt und sorglos.

 

Da sehen wir Becker. Ich habe mir angewöhnt, an ihn einigermaßen respektlos als an ‚Becker‘ zu denken, gar nicht mehr ‚Dr. Becker‘. Obwohl ich hier natürlich aufpassen muss, keinen faux pas zu begehen. Er steht mit weiteren Mitgliedern unseres Vorstands zusammen, mit weiteren Männern, die ich nie gesehen habe, und mit dem Chefredakteur, dessen Stellvertreter ich werden soll und der, als Becker uns erkennt und auf uns zugeht, in unserer Richtung blickt, ohne auch nur wahrzunehmen, dass wir existieren.

 

Becker grüßt und sagt verbindlich: „Mein lieber Böll, Ihre Frau sieht zauberhaft aus, darf ich sie Ihnen für einen Moment entführen, ich würde sie gern bekannt machen mit...“

Mit wem, geht in seinem Gemurmel und im allgemeinen Geräuschpegel unter. Ich bin gar nicht mal sicher, dass er sich überhaupt die Mühe macht, irgendwelche Namen zu nennen. Ich bin so übermütig gestimmt, dass ich am liebsten sagen würde: ‚Nehmen Sie sie, sie gehört Ihnen doch ohnehin und bald noch mehr!‘ Und ich frage auch nicht, warum um alles in der Welt er meine Frau irgendwelchen wichtigen Männern vorstellen will, ohne mich ebenfalls zu bitten. Stattdessen sage ich artig: „Es ist uns eine Ehre, Dr. Becker. Ich verstehe, dass sie von Arena entzückt sind. Ich selber finde sie heute unwiderstehlich!“

Ihre eigentümlichen Blicke verraten ihre Schuld. Ich lächle spöttisch, ich kann es mir nicht verkneifen. Arena entschwindet an Beckers Seite. Wird er sie beschützen, wenn ich nicht mehr da bin? Heiraten kann er sie nicht, so lange sie mich nicht für tot erklären. Sollte das geschehen, würden sie vielleicht gar nicht mehr nach Maria und mir suchen.

 

Ich träume schon wieder. Während ich den beiden nachsehe, beobachte ich einen Kameramann, der sie aufnimmt. Sie wird es ebenfalls bemerken. Sie gehört zu denen, deren Konterfei auf der Außenwand des Museums die Menge staunen macht und neidisch.

 

Es ist ein Kommen und Gehen. Ich steige die Treppe zum ersten Stocke empor. Eine unvergleichliche Treppe. Meine Großmutter liebte diesen Raum und seine wundervolle Treppe. Sie hatte in ihrer frühen Jugend, Mitte der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts, noch die Witwe des Architekten sprechen hören anlässlich einer Ausstellung zu Ehren ihres Mannes, des Architekten Rudolf Schwarz. Ach, wie liebte meine Großmutter die Klarheit und Konsequenz dieses Gebäudes und vor allem diese wundervolle Halle.

 

Die Gegenstände, die ab und zu hier noch aus den Sammlungsbeständen des alten Museums gezeigt werden, sind ausgeräumt, um Platz zu machen für das Fest. Überall laufen kostümierte Personen herum, die in ihrer Kleidung verschiedene Epochen darstellen und Gegenstände aus der jeweiligen Zeit tragen: Eine venezianische Kurtisane aus dem 15. Jahrhundert, die aus einem schönen grünen Glaspokal trinkt, eine derbe Kölner Marktfrau aus dem 16.Jahrhundert, die einige Steinzeugkrüge trägt und den Besuchern daraus einschenkt, ein Herr mit gepuderter Perücke, der an einem Schreibtisch aus dem frühen 18. Jahrhundert kleine Billets schreibt, die die Besucher einander zukommen lassen können, und dann springen zwei als Mohren verkleidete Knaben in die Menge und überbringen den Auserwählten diese Briefchen. Ein Paar aus den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts, er mit angeklebten Haaren und einer Schmalzlocke, sie mit einem gelben Kleid mit schwarzen Tupfen, das in der Taille ganz eng gegürtet ist und über einem ausladenden Petticoat fast tellerartig absteht, tanzen Rock ‘n Roll,  einen Tanz aus der Zeit, zu dem die entsprechende Musik aus einem zeitgenössischen Radio klingt. Es gibt auch Technofreaks aus dem späten 20. Jahrhundert, an alles ist gedacht. Sie berühren mich irgendwie seltsam, diese Tänze und Bewegungen einer lange vergangenen Zeit, als die Menschen sich noch angestrengt selber bemühten. Nicht zu vergleichen mit unseren Tänzen, bei denen man sich mit der Person seiner Wahl auf eine Tanzscheibe stellt, auf der man dann zur Musik bewegt wird. Es ist hoch interessant, durch diese Zeit-Räume zu gehen. Das hier ist wirklich ein lebendiges Museum! Die Leute sind begeistert. Überall wird gegessen und getrunken, gelacht und getanzt.

 

Ich gehe durch alle Räume. Erst später werden die ernsteren Programmpunkte an die Reihe kommen. Als erstes die Begrüßung durch den Oberbürgermeister, der in sehr enger Verbindung zu unserer Regierung steht und natürlich alle Regierungsmitglieder, die heute gekommen sind, einzeln beim Namen nennen wird. Das allein ist schon aufregend genug, denn im Allgemeinen weiß man ja nicht, wer zur Regierung gehört. Und der Wechsel der Personen ist häufig undurchschaubar. Aber hier werden sie dem Publikum vorgestellt, und man kann sie sehen. Ich nehme nicht an, dass die Bodyguards eine unbefugte Annäherung oder gar ein Ansprechen zulassen würden. Aber immerhin. Man kann sie leibhaftig sehen.

 

Danach gibt es noch verschiedene Ansprachen und Musikbestrahlungen. Dann die Verkündung der Umbenennung von Universität und vielleicht bereits der ganzen Stadt in C’lone University und C’lone City, weitere Vorführungen in allen Räumen, und gegen 24 Uhr werde ich den großen Lobgesang verlesen, meine Hymne auf die Errungenschaften unserer Zeit durch unsere Regierung. Man wird mich übrigens ankündigen als den stellvertretenden Chefredakteur unserer Zeitung, und damit ist das dann offiziell. Danach ist bis zum Morgen alles möglich.

 

Was Arena und mich betrifft, so werden wir sicher von der Gruppe der wichtigen Personen aufgesogen und weitergereicht.  Irgendwann, denke ich, werde ich mich absetzen. Vielleicht fällt es überhaupt nicht auf. Davon gehe ich eigentlich aus. Aber selbst wenn Arena etwas merkt, wird sie sich nichts dabei denken. Ich nehme sogar an, dass sie dankbar sein wird, für die willkommene Gelegenheit, selber tun zu können, was immer sie möchte. Der Sonntag nach dem Ov-Ov-Festival ist ein stiller Tag in unserer Stadt. Das Leben ruht sich aus. Man muss erst wieder zu sich kommen. Die Stadt wird aufgeräumt. Außerhalb des Museums die Menschenmassen halten sich schadlos dafür, dass sie nicht selber an dem Hauptereignis teilnehmen können, indem sie die Stadt in ein großes Festlager verwandeln. Ich werde einfach zu Maria gehen und bei ihr Unterschlupf suchen. Ich gehe nicht mehr in meinen Bereich zurück. Mein Leben hier, mein bisheriges, offizielles Leben, wird hier und heute zu Ende sein. Morgen schon gehe ich zu Maria und übermorgen, wenn dieser Zero uns neue Identitätsnummern beschafft hat, verlassen wir die Stadt und fangen ein neues Leben an, unser Leben. Mein Leben. Mein zweites Leben. Mein wirkliches Leben.

 

Ich denke unwillkürlich an Schröder und daran, dass auch er jetzt zum zweiten Mal - lebt?

 

Während ich durch die Räume streife, packt mich wieder eine innere Unruhe. Ich werde sie nicht los. Ich versuche, den Gedanken an Schröder abzuschütteln. Aber auch wenn ich an Maria denke, ist da diese laute metallene Leere in meinem Kopf, die Gefahr signalisiert. Woher nur kommt dieses schreckliche Gefühl, das mich nicht mehr verlässt, seit diesem Moment – diesem Moment in Marias Bett, als ich, überwältigt vom Glück des Augenblicks, meinen Kopf in ihre Halsbeuge legte, und da war plötzlich, dieses intensive Empfinden, dass etwas nicht in Ordnung ist. Ab und zu schwillt diese Warnung zu einem Sirren in meinem Bewusstsein an. Ich kann es nicht abschütteln. Dann wieder beruhigt es sich für Minuten oder auch, wie in den vergangenen Tagen, in denen ich für mich allein bleiben konnte, für Stunden.

 

Jemand zupft mich am Ärmel. Ich bin sprachlos. Einer der kleinen Mohren hält mir grinsend ein Billet hin, eines von denen, die der Schreiberling an dem zierlichen aber höchst unbequemen Schreibmöbel des 18. Jahrhunderts fabriziert hat.

„Für mich?“ frage ich. Aber der ist schon wieder weggeflitzt, verteilt weitere Zettel an andere Leute. Ich falte das Billet auf. Darin steht: ‚Komm zu mir.‘ Altertümliche Schreibweise, 18. Jahrhundert? Keine Unterschrift. Erstaunt stehe ich und sehe mich um. Niemand beachtet mich. Niemand blickt mich an. Wer kann mich meinen? Ich fühle eine Aufregung in mir hochsteigen. Aber auch eine gewisse Angst. Arena? Warum sollte sie mir einen solchen Zettel zuspielen lassen wollen? Was könnte sie damit bezwecken? Ich verstehe es nicht. Oder will sie die Aufmerksamkeit auf uns beide lenken? Gehört das schon mit zu dem ganzen Theater, das heute noch auf uns zukommen und von uns erwartet wird? Andererseits ist mir klar, dass, wenn Arena mich meint, wenn Arena mich auf solche Weise anspricht, zu sich locken möchte, sie auch irgendwo hier herumsteht und mich beobachtet, um mir im richtigen Moment zuwinken zu können, damit nichts schiefläuft.

 

Ich sehe nichts. Ich habe sie seit langem aus den Augen verloren. Natürlich könnte der Zettel ein Irrläufer sein. Der Mohr hat sich vertan. Ist schließlich nicht so ungewöhnlich. Der Absender deutet auf jemanden, der direkt neben mir steht, der Mohrenknabe nimmt die falsche Fährte auf. Ich beschließe, dass es so ist. Und doch regen mich diese drei Worte auf: Komm zu mir. Sie rufen mich zu Maria. Es ist nicht möglich, dass sie mir diesen Brief geschrieben hat. Niemals könnte sie ohne Eintrittskarte auf dieses Festival gelangen, die Einlasskontrollen sind besonders streng. Aber je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass es Marias Worte sind, die mich zu ihr rufen. Ich habe den Zettel eingesteckt. Er brennt mir in der Tasche. Ich gehe mit anderen Augen durch die Menge. Ob ich will oder nicht, ich suche Maria. Es macht keinen Sinn, aber ich kann es nicht ändern.

 

Als der Oberbürgermeister, der Herr der Stadt, seine Rede hält und das Volk sich auf der Treppe drängt und auf den Absätzen in den beiden Etagen um den offenen Treppenraum, gehe ich unbehelligt an hunderten von Menschen vorbei und halte Ausschau nach ihr. Arena fängt mich ab. Sie ist in Begleitung eines Menschen, der nicht viel älter sein dürfte als ich, aber aussieht, als habe man ihn aus bestem hellem Kunststoff zusammengefügt und dann lackiert. Sie stellt ihn mir vor: Ein Regierungsmitglied, Dr. Dr. Humberger. Ich lächele mechanisch und denke, dass man wahrscheinlich schon kleine Dr. Dr. Humberger Puppen an die Kinder verteilt. Arena sagt: „Bist du eigentlich gerüstet für deinen Auftritt, was ist mit der Hymne?“

„Was soll damit sein, ich habe sie hier.“ Und damit deute ich auf meine Brust. In der Tasche meines Jacketts habe ich den Ausdruck des Lobgesangs.

“Am besten, du gibst sie mir, dann kann sie nicht verloren gehen.“

„Wieso sollte sie das?“ frage ich irritiert zurück.

„Am besten, Sie hören auf ihre Frau“, sagt die Riesenausgabe der Dr. Dr. Humberger-Puppe und zieht seine Lippen von den makellosen Zähnen. Ich nehme an, er lächelt.

„Aber ich verstehe nicht...“

„Gott, Böll, sei nicht schwierig“, seufzt Arena voller Ungeduld. „Lass mich schnell eine Kopie machen, nur zur Sicherheit. Dann haben wir beide eine, und dann kann wirklich nichts schief gehen. Ich stehe auf jeden Fall neben dir, wenn du sie verliest.“

Ich finde ihr Verhalten unangenehm und übertrieben ängstlich. Zumal sie mich vor diesem Lackaffen bloßstellt. Sie scheint jetzt langsam alle Haltung zu verlieren, jetzt wo es um die Wurst geht. Ich hätte sie wirklich für cooler gehalten.

„Also gut“, sage ich, weil ich denke, je eher wir das über die Bühne bringen, desto besser, und ich bin sie wieder los.

„Aber ich gehe mit dir, es ist mir lieber, ich gebe das Papier nicht einfach ab und dann bist du spurlos verschwunden.“ Sie lacht sofort besänftigt auf, hakt mich unter und zieht mich in einen der vielen Medienbereiche, in dem wir eine Kopie der Hymne ziehen. Dr. Dr. Humberger lässt uns wortlos ziehen.

 

Sie will mit der Kopie weg, aber ich halte sie zurück.

„Arena“, sage ich warnend, „zeig sie niemandem. Der Effekt, auf den es ankommt, wäre verloren. Es kommt auf den Effekt an, Arena, das weißt du!“ Sie stutzt. Ihr Gesicht ist für einen Augenblick ganz ernst. Sie sieht mich mit einer größeren Aufmerksamkeit an, als sie es vielleicht je getan hat und bestätigt mir dann, dass sie das sehr wohl wisse. Im Grunde ist es mir egal, was sie damit macht. Aber sie soll trotzdem vorsichtig sein. Wenn sie aus Unachtsamkeit oder übertriebenem Ehrgeiz irgendetwas daraus vorher verlauten lässt, bringt sie uns, und sich vor allem, um diese Spannung der Aufmerksamkeit, die es nur gibt, wenn die Menge einen unbekannten Text zum ersten Mal hört. Ich bin sicher, dass sie das weiß. Sie wird mich nicht hintergehen. Diesmal nicht. Was sie danach tut, nach meinem Auftritt, ist ohnehin egal. Dann kann sie sogar behaupten, ein Teil des Textes stamme von ihr selber – wenn es das ist, worauf sie hinauswill.

 

Ich stehe auf der großen Treppe und verfolge die Reden. Jetzt begründet unser Chefredakteur gerade die Umbenennung von Co-lone zu C’lone University und City. Er ist ein ungemein geschickter Redner, sehr lässig und sehr überlegen. Die Stadt, die Welt, liegt ihm zu Füßen. Eine Stimme hinter mir sagt: „Komm zu mir, Böll, ich muss mit dir sprechen.“ Ich erstarre. Ich will mich umwenden, aber sie sagt: „Dreh dich nicht um. Komm in fünf Minuten zu der Tür auf halber Höhe der Treppe. Sie ist verschlossen. Aber in fünf Minuten wird sie sich für dich öffnen. Triff mich da.“ Mein Herz schlägt heftig, ich spüre es bis in den Hals, mein Blut pocht laut in den Schläfen. Einen Moment wird mir schwarz vor Augen. Es kann einfach nicht sein. Wie sollte sie hier herein gelangt sein? Warum will sie mich sprechen, jetzt, in dieser Situation? Warum gefährdet sie uns in einem Augenblick, in dem für uns alles gut zu gehen scheint. Ich bekomme Angst, panische Angst, dass irgendetwas schieflaufen wird, bereits schiefgelaufen ist. Dass dieser Zero einen Rückzieher gemacht hat, dass wir keine neuen Identitätsnummern bekommen werden, dass wir nicht fliehen können.

 

Aber wir müssen fliehen. Nach diesem Abend gibt es kein Zurück mehr für mich, weder ein Zurück zur Redaktion noch zu Arena. Kein Gedanke, dass ich in irgendeiner Weise so weiter machen könnte wie bisher: Schröder begegnen, oder die Schuster-Affäre durchstehen.

 

Und wenn sie Schuster einfach weggeräumt haben, ohne mich zur Rechenschaft zu ziehen? Ich brauche Schröder gar nicht mehr zu begegnen. Ab Montag liegt mein Büro in der dritten Etage. Kann ich vielleicht doch weitermachen? Muss ich? Können sie mich zwingen, nach Schuster und mit Maria, ihnen zu Willen zu sein, in meiner neuen Stellung und einfach immer weiter zu funktionieren? Was wird mit Maria?

 

Ich stehe schweißgebadet vor der Tür, die ich vorher gar nicht bemerkt habe. Sie hat keine Funktion, jedenfalls keine allgemein offensichtliche. Ich habe noch niemanden hier rein oder raus gehen sehen. Sie hat gar keinen Türgriff. Ich stelle mich unter den Türrahmen, so als wolle ich auf die Halle gerichtet, den Rednern folgen und gleichzeitig Platz machen für die, die während der Veranstaltung ununterbrochen nach oben oder nach unten strömen.

 

Ich spüre einen leichten Luftzug. Die Wand hinter mir gibt nach, jemand zieht mich schnell nach hinten. Gleichzeitig fällt die Tür vor mir wieder ins Schloss. Im ersten Augenblick herrscht absolute Dunkelheit. Dann blitzt eine kleine Lichtkugel auf, die Maria in den Händen hält, und gleichzeitig werden wir in ein leicht orangefarbenes Licht getaucht. Ich bin zu erschrocken, um etwas zu sagen. Ich verstehe nicht, wie sie hierher kommt, wieso sie mir die Tür aufmachen kann, wo wir hier sind. Langsam gewöhnen sich meine Augen an dies Licht. Vor mir steht Maria, das Gesicht durch die Lichtkugel sanft erleuchtet. Sie scheint mir noch schöner als ich sie je gesehen habe. Um uns herum eine komplette Leere. Ein langer dunkler Gang, von dem irgendwelche Türen abzugehen scheinen. Eine Treppe, die irgendwie nach unten führt. Ich starre sie an, stumm, ich staune sie an, ratlos. Sie lächelt sanft und sagt: „Ich musste dich einfach wiedersehen“, und obwohl mich das Entsetzen immer noch gepackt hält, kann ich jetzt auf sie zu treten und meine Hände nach ihr ausstrecken.

 

 

„Maria!“ seufze ich und nehme sie in die Arme. Ich habe die Augen geschlossen, während ich mich über ihr Haar beuge – und da begreife ich, mit dem jähen Schrecken, den jemand erfahren muss, der mit dem Fallschirm abgesprungen ist, und erkennt, dass der Schirm sich nicht lösen wird, mit der aberwitzigen Hilflosigkeit dessen, der im Sturz weiß, dass es kein Entrinnen gibt, begreife ich, was die Warnung in mir wachruft und wachgerufen hatte, schon damals im ihrem Bett, aber da war noch die von Maria beseelte Umgebung, die mich darüber hinweg täuschen konnte für jene seligen Augenblicke eines verlogenen Glücks. Hier aber, in diesem furchtbaren, leeren dunklen Gang gibt es keine Möglichkeit der Täuschung und des Entrinnens: Ihr Duft, Marias Duft haftet nicht an diesem völlig geruchlosen Wesen, das aussieht wie sie. Ich halte einen Klon in meinen Armen.

 

Ich trete zurück und sie weiß, dass ich sie erkannt habe. Da wendet sie sich halb rückwärts, und erst jetzt sehe ich eine weitere Person, die vielleicht aus einer der dunklen Türnischen hervorgetreten ist. Es ist ein Mann. Er stellt sich neben Maria. Ihre Leuchtkugel erhellt auch sein Gesicht. Ich stehe mir direkt gegenüber.

 

Ich merke, wie mein Mund sich öffnet, alle Feuchtigkeit ist aus ihm gewichen. Mein Magen zieht sich zusammen. Ich sehe, wie er ein Rohr auf mich richtet. Ich erkenne es. Es ist dieselbe Waffe, mit der man auf Wallraf gezielt hat. Ich blicke ihm direkt in die Augen und erkenne mich selbst. Er lächelt mein Lächeln. Er ist etwas kälter als ich, aber perfekt. Als er das Rohr abfeuert, denke ich: Clone City.

 

 

Ich sehe das Entsetzen in seinem Blick, als er begreift, dass er Zeta in den Armen hält. Und als ich den Extinguisher auf ihn richte, braucht er nur den Bruchteil einer Sekunde. Er erkennt mich. Er begreift. Es ist eine Genugtuung, keinen Unwissenden auszulöschen.

 

Seine Asche steht einen Augenblick in der Luft. Sie rieselt sanft herab, silbrig und aschgrau und schwarz, wie ein erlöschender Sternenregen. Ein bisschen davon bleibt an Zetas Schuhen haften, als sie achtlos hindurch schreitet.

Ich bedaure, dass mir nicht vergönnt war, mich besser kennen zu lernen


E N D E