Brigitte Tietzel, die Autorin des Romans: „Durch die Hölle und zurück“, ist in Essen geboren, hat in Bonn und Florenz Kunstgeschichte studiert und ist seit dem 80er Jahren in Krefeld ansässig. Sie hat an verschiedenen Museen gearbeitet, war Direktorin des Museums für Angewandte Kunst in Köln und zuletzt des Deutschen Textilmuseums in Krefeld. Sie ist seit Jahren der Mediothek Krefeld verbunden und schreibt, seit sie im Ruhestand ist, Rezensionen zu Büchern, die teilweise in der Mediothek unter „Tietzels Tipp“ veröffentlicht werden.
Die Idee, auf der Homepage des Vereins der Freunde und Förderer der Mediothek ihren Roman als Fortsetzungsroman zu veröffentlichen, ist neu.
Seid dem 5. November 2023 werden an allen folgenden Sonntagen bis zum 11. Februar (15x) jeweils zwei Kapitel des Romans auf dieser Seite veröffentlicht. Die einmal eingestellten Kapitel verbleiben auf der Seite, so dass man auch später in die Lesung einsteigen kann.
Wir hoffen, dass dieser neue Weg bei den Mitgliedern der Mediothek Anklang und viele interessierte Leserinnen und Leser findet.
Im Herbst 2020 sah ich die Wiederholung einer Sendung von Terra X über die erste französische Weltumseglung unter dem Kommando von Louis-Antoine de Bougainville in den Jahren 1767 - 1769. Fast nebenher wurde erwähnt, dass an Bord des einen von zwei Schiffen, die zu dieser Expedition gehörten, eine Frau reiste, die sich als Mann verkleidet hatte. Ihre wahre Identität sei auf der Insel Tahiti durch die Eingeborenen aufgedeckt worden, hieß es. Später im Film sah man, wie diese Frau auf der Insel Mauritius von Bord ging. Eine schöne Frau in einem weißen Kleid, auf einer blumenreichen Terrasse, glücklich lächelnd. Man sah, dass sie sich im frühen Stadium einer Schwangerschaft befand. Die Frau hieß Jeanne Baret.
Ich kann mich nicht mehr erinnern, welche weiteren interessanten Passagen diesen Film auszeichneten. Die Vorstellung, dass eine Frau so ohne weiteres auf einem Segelschiff im 18. Jahrhundert als Mann verkleidet, unter hunderten Männern, unentdeckt bleiben konnte und das über Monate – denn die Reise von Frankreich nach Südamerika, durch die Magellanstraße bis nach Tahiti dauerte eine lange Zeit – ließ mich nicht mehr los. Wie war das möglich? fragte ich mich und eigentlich hielt ich das für unglaubwürdig. Erkundigungen führten mich zur Beschreibung der Reise durch Bougainville, der seine „Voyage autour du monde“ schon 1771 veröffentlichte und darin genau das beschrieb und behauptete, was auch der Film wiedergab, dass Jeanne Baret über anderthalb Jahre unerkannt auf der Étoile gereist und erst auf Tahiti von den dort lebenden Eingeborenen sofort als Frau entlarvt worden sei.
Der französische Philosoph Denis Diderot verfasste nach der Lektüre der „Voyage“ ein „Supplément“, in dem er sich über den natürlichen Instinkt der guten Wilden ausließ, die, anders als die Europäer, die Verkleidung der Frau sofort durchschaut hätten. Niemandem sonst war es damals offensichtlich in den Sinn gekommen, dieser Besonderheit weiter Beachtung zu schenken.
Mir kam das alles merkwürdig vor, und noch immer konnte ich mir nicht erklären, wie eine Frau eine solche Ungeheuerlichkeit wagen konnte. Aufschluss gab die fabelhafte Biographie „The Discovery of Jeanne Baret“ der englischen Wissenschaftlerin Glynis Ridley. Die Fülle an Manuskripten und Dokumenten aus den französischen Archiven oder auch auf Mauritius, die Ridley dazu konsultiert hat, die Durchsicht von Log- und Tagebüchern verschiedener Expeditionsteilnehmer und die umfangreiche Literatur zu den unterschiedlichsten Aspekten, Personen, Orten, Sachthemen ist überwältigend und gibt dem Leser einen ganz klaren Rahmen der Ereignisse. Die Geschichte der Jeanne Baret und des Kommandanten Bougainville sowie des Botanikers Commerson, für den Jeanne gearbeitet hat, oder vieler anderer Personen, ist in diesem Buch unglaublich spannend beschrieben. Noch überzeugender sind die Rückschlüsse auf bestimmte Ereignisse, die Ridley aus den Dokumenten zieht und die die offizielle Version aus Bougainvilles Reisebeschreibung nicht nur zweifelhaft erscheinen lassen, sondern geistreich widerlegen.
Das alles hat mich zu meinem Roman angeregt. Ich halte mich so weit es geht an die vorgegebenen und sinnvoll erscheinenden Informationen. Wissenschaftler können trotz glaubhafter Indizien letztlich immer nur Vermutungen anstellen. In einem Roman darf man behaupten, die Dinge seien wirklich so geschehen. Es ist einfach zu verlockend, sich auszumalen, wie es dieser Jeanne Baret ergangen ist, warum sie tat, was sie getan hat und zu ergründen, was für ein Mensch sie war. Ein solches Wagnis, das vielleicht aus einer Naivität heraus begonnen wurde, musste gleichwohl über zwei Jahre durchgehalten werden. Das ist eine unglaubliche Leistung. Ich hoffe, dass die Leser meine Hochachtung für Jeanne Baret, mein ungläubiges Staunen über ihren Mut und ihre Widerstandsfähigkeit und mein warmes Mitgefühl für diese Frau teilen können.
Brigitte Tietzel
9.
Schon seit einiger Zeit diskutierte man die Notwendigkeit einer Weltumseglung durch französische Schiffe. Engländer, Spanier, Holländer waren bereits erfolgreich durch die Weltmeere gefahren und hatten sich verschiedentlich Kolonien zu eigen gemacht, während Frankreich bisher mehr oder weniger leer ausging, mit Ausnahme einiger eher unbedeutender Inseln im Indischen Ozean, auf denen man französisch verwaltete Standorte eingerichtet hatte. Man erhoffte sich durch ein solches Unternehmen Landgewinn, Bodenschätze, Gewürzmonopole, und vor allem hatte noch niemand den südlichen Kontinent entdeckt, den man auf der Südhalbkugel vermutete, die terra australis incognita. Welcher Ruhm, wenn dies Frankreich gelänge!
Im Laufe der zweiten Hälfte des Jahres 1765 nahm diese Idee langsam Gestalt an. Es schien erforderlich, dass ein Naturkundler die Expedition begleitete, der die unbekannten Tiere, denen man begegnen würde und vor allem die Pflanzen, die man finden würde, bestimmen und auf ihren möglichen kommerziellen Nutzen untersuchen könnte. Commerson schien der geeignete Mann. Sein offensichtliches Interesse wurde unterstützt von ihm wohl gesonnenen Personen: Jussieu, dem Direktor des Jardin du Roi und, viel bedeutender, von Königin Louisa Ulrika von Schweden und von Linnaeus persönlich.
Commerson eilte nach Hause, um Jeanne freudestrahlend und voller Begeisterung zu verkünden, dass er als Mitglied einer königlichen Expedition um die Welt segeln und für zwei bis drei Jahre Paris verlassen werde. Jeanne erstarrte. Sie blieb ganz ruhig, aber sie wurde weiß wie die Wand, und Commerson, der nie daran gedacht hatte, dass Jeanne Baret eigene Wünsche und Vorstellungen von ihrem Leben haben könnte, ja, der der festen Überzeugung war, dass sie selbstverständlich alles, was mit ihm zu tun hatte, gut heißen würde, stand einen Augenblick irritiert und ratlos.
„Das ist eine große Ehre für mich, Jeanne, begreifst du das nicht?“ sagte er schließlich.
Da aber tat sie etwas, was sie niemals getan hatte und womit er nicht rechnen konnte. Sie heulte auf. Sie schrie ihn an, außer sich, wie er es nicht für möglich gehalten hatte: „Eine Ehre für dich, Philibert? Und was wird aus mir? Ich habe alles für dich aufgegeben, ich bin dir in diese fremde Stadt gefolgt und habe meine Eltern vergessen. Ich habe dir einen Sohn geboren und habe ihn weggegeben, als du es wolltest. Jetzt ist er tot. Ich habe nichts und niemanden als dich, Philibert! Wo soll ich hin, wenn du nicht mehr da bist, wovon soll ich leben? Eine Ehre für dich, sagst du? Und was wird aus mir!!??“
Er war erschüttert. Es war doch alles so gut gelaufen. Er hatte nicht bemerkt, dass es ihr etwa schwergefallen war, ihre Eltern zu verlassen und in sein Haus in Toulon zu ziehen. Sie hatte sich in Paris gut eingelebt, war zufrieden mit den Lebensumständen, froh und glücklich damit, ihm bei seiner Arbeit helfen zu können. Das Kind – nun ja, er verstand schon, dass eine Mutter das vielleicht anders sah, als er es gesehen hatte. Dass es dann gestorben war, war ein Unglück, für das niemand etwas konnte, er, Commerson, am allerwenigsten.
Immerhin sah er ein, dass er etwas für sie tun musste, für die Zeit seines Weggangs und tatsächlich auch für den Fall seines unerwarteten Todes, der auf einer solchen Reise nicht gänzlich unwahrscheinlich war. Er trat auf Jeanne zu, die sich völlig aufgelöst die Haare gerauft hatte und nun weinend inmitten der Pflanzen stand, um die sie sich wie um ihre Kinder gekümmert hatte und ja auch während seiner Abwesenheit weiterhin kümmern sollte. Er nahm sie in die Arme, streichelte beruhigend ihre Haare, gab beschwichtigende Laute von sich.
„Still, Jeanne, still! So beruhige dich doch. Ich kümmere mich um dich, es soll dir an nichts fehlen, glaub mir. Ich brauche dich und ich liebe dich. Du wirst sehen, es wird alles gut.“
Und dann erklärte er ihr, dass sie während seiner Abwesenheit in der Wohnung bleiben sollte, dass er ihr genug Geld zur Verfügung stellen würde, dass sie sich bis zu seiner Rückkehr um alles kümmern müsse, vor allem natürlich um die Pflanzen. Und dass er ein Testament zu ihren Gunsten aufsetzen würde, um sie für den Fall seines Ablebens nicht völlig mittellos zu lassen. Und das geschah.
In diesem Testament hinterließ er nicht nur seinen Körper der Wissenschaft und regelte seine sonstigen Angelegenheiten, sondern es gab einen Passus, der Jeanne betraf: „Jeanne Baret, meine Haushälterin, auch bekannt als Jeanne de Bonnefoy“, so hieß es da, und da tauchte der Name auf, den sie offensichtlich in Paris angenommen hatte. Er bestimmte, dass sie 600 Pfund als Summe ausbezahlt bekommen sollte. Dazu den jährlichen Lohn von 100 Pfund, zu zahlen seit dem 6. September 1764. Er erklärte, dass alle Wäsche und alle Frauenkleider ihr Eigentum seien und dass sie alle Möbel erhalten solle, den gesamten Hausrat. Mit Ausnahme seiner Bücher, seiner Herbarien und persönlichen Sachen, die er seinem Schwager hinterließ. Und dass Jeanne das Wohnrecht in der Rue du Boulanger für ein Jahr nach seinem Tod behalten solle, um ihr genügend Zeit zu geben, alle Objekte seiner naturgeschichtlichen Sammlung an die königlichen Sammlungen zu vermitteln.
Das beruhigte Jeanne, aber es machte sie nicht glücklich. Die Aussicht ohne den Schutz des Mannes in dieser Stadt bleiben zu müssen, die Furcht, sie möge ihn für immer verlieren, bedrückten sie außerordentlich. Aber sie beklagte sich nicht mehr. Commerson verfolgte leichten Herzens seine Vorbereitungen auf das große Abenteuer und war, was Jeanne betraf, ganz mit sich im Reinen.
So ging einige Zeit dahin, bis Commerson sich darüber im Klaren wurde, dass er nicht ohne Diener reisen konnte. Und dass dieser Diener möglichst auch etwas von seiner botanischen Arbeit verstehen müsste. Er wandte sich an Jussieu und weitere Herren seines Bekanntenkreises, ob sich nicht ein geeigneter junger Mann finden ließe. Er hatte sich nie sonderlich um die wissenschaftlichen Assistenten, die Jussieu umschwärmten, interessiert. Und nun, bei näherer Inspektion, sah er sich in seinem Desinteresse bestätigt. Da schien es niemanden zu geben, der im Geringsten seine Kenntnisse teilte, oder, was das betraf, die der Jeanne Baret. Auch waren diese Herren zwar an ihrer Karriere interessiert, aber weniger, so wollte es scheinen, an der Sache selbst. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass keiner dieser Herren bereit und in der Lage gewesen wäre, Commersons Sachen zu ordnen, seine Kleidung aufzufrischen oder ihm sonst zu Diensten zu sein. Er vermutete stark, dass diese jungen Herren selber auf die Hilfe eines Dieners angewiesen wären.
Monate vergingen, und nachdem Commerson anfänglich noch die Sache auf die leichte Schulter genommen hatte, wurde die Frage der Person, die ihn begleiten sollte, im Sommer 1766 immer drängender. So kam es, dass er eines schönen Sommerabends, als er eben dabei war, mit Jeanne die Untersuchung einer neuen Pflanze durchzuführen, mit plötzlicher Sicherheit wusste, dass er niemanden finden würde. Beziehungsweise, dass es nur eine mögliche Person gab, die alle seine Anforderungen erfüllen könnte.
Jeanne merkte, dass sich Philiberts Aufmerksamkeit von der Pflanze ab und ihr zugewandt hatte.
„Warum schaust du mich so an?“ fragte sie erschrocken, schon befürchtend, er möge mit einer neuerlichen Hiobsbotschaft daherkommen. Er antwortete nicht sofort, stand auf und ging im Zimmer umher. Sie blickte ihm voller Unruhe nach.
„Jeanne“, sagte er dann nach einer Weile, „ich werde vielleicht doch nicht fahren können.“ Ihre Augen weiteten sich. „Es sei denn …“ Der Satz blieb unvollendet
„Es sei denn?“
„Es sei denn, du begleitest mich.“
Nun erschrak sie zutiefst. Einerseits wollte ihr Herz vor Freude zerspringen über das, was er jetzt vorbrachte, weil er sie offensichtlich doch so sehr schätzte, wie er immer behauptete, aber in den letzten Monaten seit Beginn der Reiseplanung kaum noch gezeigt hatte. Andererseits durchfuhr sie eine große Angst, denn eine solche Reise anzutreten hätte sie niemals in Erwägung gezogen. Viele Male schon, seit Philibert zuerst davon gesprochen hatte, dass er die Welt umsegeln würde, hatte sie sich die Strapazen ausgemalt, denen er ausgesetzt sein würde, hatte versucht, sich die vielen Gefahren vorzustellen, die fremden Menschen, denen er begegnen würde und von denen ja niemand wusste, ob sie nicht vielleicht feindlich gesinnt waren. Dazu die Unwägbarkeiten des Meeres, des Wetters, gewaltige Stürme mochten die Schiffe bedrohen. Oder sie trafen auf unbekannte wilde Tiere, auf Piraten – ja, was wusste sie denn, was nicht alles passieren konnte. Und jetzt stand er vor ihr und sagte ihr allen Ernstes, dass er ihre Begleitung wünschte. Sie blieb stumm, wartete, was noch kommen würde.
„Es gibt allerdings eine Schwierigkeit, über die ich noch nachdenken muss.“ Immer noch sagte sie nichts. Insgeheim ging ihr der Gedanke durch den Kopf, dass er wohl kaum seine Haushälterin mitnehmen konnte und dass er sie vielleicht doch würde heiraten müssen. Sie wartete ab.
„Du musst wissen, dass Frauen an Bord seiner französischen Majestät nicht erlaubt sind. Unter keinen Umständen und ohne Ausnahme. Darin sehe ich eben eine Schwierigkeit.“
Jeanne wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Wollte er sich über sie lustig machen? Hatte er sie noch nicht genug gequält, unglücklich gemacht, weil sie sich noch kaum an den Gedanken gewöhnen konnte, dass sie sich würden trennen müssen. Wollte er sie vielleicht auf seine merkwürdige Art im Gegenteil trösten, indem er ihr sagte, dass er sie gern bei sich hielte, aber die Umstände es eben nicht erlaubten? Philibert war kein einfühlsamer Mensch. Er konnte sehr liebenswürdig und charmant sein. Aber er verstand andere Menschen nicht wirklich. Wenn man ihn direkt auf seine mangelnde Empathie hinwies, konnte er einsichtig sein. Sie hatte ja nur ein einziges Mal von ihm Verständnis gefordert, und er hatte daraufhin das Testament aufgesetzt. Es war gut möglich, dass er nun auf seine verquere Art ihr seine Zuneigung zeigte. Auch ihm mochte die baldige Trennung nicht leichtfallen.
„Vielleicht gäbe es doch eine Möglichkeit“, hörte sie jetzt wieder seine Stimme wie von weitem. „Allerdings kann ich dir das kaum zumuten. Ich weiß auch nicht, ob eine solche Maskerade, eine solche Täuschung überhaupt gelingen kann. Immerhin dauert die Reise wenigstens zwei Jahre. Andererseits …“
Jetzt endlich fasste sich Jeanne ein Herz, blickte Commerson direkt in die Augen und sagte: „Was genau willst du mir vorschlagen, Philibert?“
Sie war aufgestanden und trat dicht vor ihn hin. Sie las in seinen Augen, was sein Mund nicht auszusprechen wagte. Es war ungeheuerlich. Und gleichzeitig dachte sie: das will er wagen? Das soll ich wagen? Ein Sturm brauste in ihrem Kopf, eine wilde, leidenschaftliche, unerhörte Möglichkeit, ihr Schicksal auf eine Weise in die Hand zu nehmen, wie das niemals jemand vor ihr getan hatte. Sie fühlte eine Stärke in sich wachsen, einen Mut, eine Kraft, einen unbeugsamen Willen. Sie, Jeanne de Bonnefoy, würde mit Philibert de Commerson, ihrem Herrn, ihrem Liebsten, einmal um die Welt segeln. Gott würde sie beschützen.
10.
Das alles wussten Bougainville und La Giraudais, als sie sich im Frühjahr des Jahres 1767 in Rio de Janeiro trafen, nicht.
„Es hat von allem Anfang an Probleme wegen dieses Burschen gegeben“, erklärte Giraudais. „Dabei ist er wirklich sehr angenehm. Er ist ruhig und zurückhaltend, fleißig, redet nicht viel. Und Monsieur de Commerson scheint sich in allem sehr auf den Jungen zu verlassen. Man bemerkt eine große Vertrautheit zwischen beiden, bei allem nötigen Respekt, an dem es der Bursche seinem Herrn gegenüber niemals fehlen lässt. Ich frage mich allerdings, da er ganz offensichtlich ein einfacher Junge ist, wo er all die Kenntnisse erworben haben kann, die ihn zu einer so großen Hilfe für Monsieur de Commerson machen. Ich muss gestehen, dass ich mir eigentlich keinen Reim auf alles machen kann.“
„Aber wieso, lieber Giraudais“, fragte Bougainville leicht irritiert, „konnte es zu Problemen kommen, wenn sie den jungen Mann doch so positiv zu beurteilen scheinen?“
Das war eine lange Geschichte.
Die Kapitänskabine war geräumig, wenngleich für zwei Personen doch auf Dauer auch wieder beengend, vor allem, wenn man Commersons Gepäck in Betracht zog, all die Aufbewahrungskisten für seine Pflanzen, die den Raum weiter einschränkten. Wichtig waren zwei Dinge: der Kapitän hatte eine eigene Nische, in der er seine Notdurft verrichten konnte, und es gab in einem Gang direkt außerhalb der Kabine einen gemeinsamen Waschtisch für alle Offiziere, die in angrenzenden Kajüten logierten. Die Mannschaft dagegen musste sich auf dem Achterdeck in gewisse Löcher erleichtern. Dort war man ungeschützt allen Blicken ausgesetzt. Man gewöhnte sich daran. Es gab kaum einen Mann, dem das noch etwas ausgemacht hätte. Für Jeanne aber kam das selbstverständlich gar nicht in Frage. Sie schauderte bei dem Gedanken. Sie versuchte, so unsichtbar wie möglich zu bleiben, möglichst überhaupt nicht bemerkt zu werden.
Zunächst konnte das auch gelingen. In den ersten beiden Wochen nach Auslaufen des Schiffes wurden beide, Commerson und Jeanne, seekrank. Commerson konnte sich einigermaßen helfen, weil er an Deck und an die frische Luft gehen konnte. Jeanne hatte diese Möglichkeit dagegen nur sehr eingeschränkt. Sie durfte sich lediglich auf dem Vorderschiff kurz aufhalten. Während die Matrosen ohnehin ihre Arbeit an der frischen Luft verrichteten, war es im Allgemeinen nicht üblich, dass die Diener der Offiziere über Deck spazierten. Die zwei Wochen waren unerträglich für Jeanne. Mehr oder weniger gefangen in der geschlossenen Kabine kämpfte sie gegen die ständige Übelkeit an. Weder das Liegen in der schwankenden Hängematte, noch als sie versuchte, in einer Decke auf dem Boden einen Halt zu finden, brachten ihr Erleichterung. Es war die erste Prüfung, die Jeanne verdeutlichte, dass sie sich auf ein Abenteuer eingelassen hatte, von dessen Ausmaß sie nicht die geringste Ahnung gehabt hatte. All die Zuversicht, die sie in dem Augenblick spürte, als der ungeheuerliche Plan Gestalt angenommen hatte, war schon nach kürzester Zeit aus ihr gewichen. Weinend saß sie auf dem Boden ihrer Kajüte und wusste doch, dass es kein Entrinnen gab. Land würde sie erst in Rio de Janeiro wiedersehen und die Überquerung dieses riesigen Meeres, das hatte sie aus Gesprächen, denen sie gelauscht hatte, mitbekommen, würde Monate dauern. Sie war auf sich allein gestellt. Philibert, der ohnehin keinen Belastungen gewachsen war, hatte mit sich selber zu tun. Sie hatte geglaubt, in jenem unerhörten Augenblick, als sie bereit war, mit ihm zu gehen, dass sie unzertrennlich sein würden, durch ihr Geheimnis zusammengeschmiedet. Hier wurde ihr zum ersten Mal bewusst, dass sie keine Hilfe erwarten durfte, von niemandem, auch nicht von Commerson. Aber klein beigeben wollte sie nicht.
Es war erst der Beginn ihrer Prüfungen. Sie bekam ihre Periode. Warum hatte sie bei allem nicht vorher daran gedacht, dass dies ein großes Problem darstellen würde. Sie musste äußerst vorsichtig sein, darauf bedacht, dass die verschmutzten Tücher, die Jeanne bei dieser Gelegenheit brauchte, um sich zu schützen, sie nicht entlarvten. Da wurde nun vollends deutlich, dass ihre ganze Komödie ohne den unerhörten Glücksfall, dass der Kapitän Commerson seine Kajüte überlassen hatte, schon nach kürzester Zeit aufgefallen wäre. Sie gewöhnte sich an, so wenig wie möglich außerhalb der Kajüte in Erscheinung zu treten. Niemand sollte etwa zu Überlegungen gereizt werden, warum sie an bestimmten Tagen ganz und gar nicht zu sehen war.
Trotzdem fiel natürlich nach und nach auf, dass der kleine Bursche dieses etwas seltsamen Botanikers – aber Wissenschaftler schienen den Matrosen allgemein nicht ganz von dieser Welt –, dass also dieser Junge sich ebenfalls ungewöhnlich verhielt. Niemand sah ihn je an den besagten Löchern auf dem Achterdeck. Er hielt sich überhaupt abseits, suchte nicht die Nähe, wenn schon nicht der kräftigen und sicher etwas grobschlächtigen Matrosen, so doch auch nicht die der Diener der anderen Offiziere. Als die ersten Bemerkungen darüber fielen, war es der Schiffsarzt, Vivès, der Öl ins Feuer goss. War es zunächst nur der gewisse Neid der anderen, weil ausgerechnet dieses Bürschchen eine solche Vorzugs- und Sonderstellung genießen durfte und in der Kabine seines Herrn eine für ein Schiff von der Größe der Étoile und der Anzahl ihrer Bewohner unerhörte Privatheit erlebte, brachte Vivès noch einen anderen Aspekt ins Spiel. Er nannte diesen Jean „das kleine Fräulein“ und behauptete, dieser Mensch versuche sehr ungeschickt sein wahres Geschlecht zu verbergen. Da einmal eine solche Ungehörigkeit ausgesprochen war, wurde auch mit einer anderen Vermutung nicht mehr hinter dem Berg gehalten. Schließlich musste der Kapitän Kenntnis von solchen Gerüchten bekommen. Sowohl die Vermutung, Commerson habe gegen die ausdrückliche Anordnung des Königs von Frankreich verstoßen und eine Frau mit an Bord des Schiffes gebracht, als auch die noch viel schlimmere, weil geradezu verbrecherische Variante, er unterhalte eine Beziehung zu seinem Lustknaben, waren nicht zu akzeptieren.
Giraudais sah sich zum Handeln gezwungen. Und da er spürte, dass die perfiden Verleumdungen lediglich von seinem Schiffsarzt ausgingen, während die Matrosen eher erbost waren über die ihrer Meinung nach ungerechte Bevorzugung des Jungen, ordnete er an, dass der Diener des Monsieur de Commerson wie die Diener aller anderen Herren Offiziere auch, seine Hängematte des nachts unter der Mannschaft aufhängen sollte. Wenn Jeanne gehofft hatte, dass Commerson dem Kapitän widersprechen würde und ihren Aufenthalt in seiner Kajüte durchsetzen könnte, so sah sie sich enttäuscht. Die Worte des Kapitäns auf seinem Schiff waren ein Befehl, dem sich absolut niemand widersetzen durfte.
Jeanne war außer sich. Sie wollte vor Angst vergehen, weil ihr sehr bewusst war, dass man sie nicht in Ruhe würde schlafen lassen, dass man um jeden Preis herauszufinden versuchen würde, wer sie wirklich war. Commerson hatte in weiser Voraussicht eine Pistole mitgenommen. Freunde hatten ihm dazu geraten, sich auf solch einer gefährlichen Reise nicht allein auf den Schutz des Kapitäns zu verlassen, sondern auf alle Fälle selber vorzusorgen. Er versuchte, Jeanne zu beruhigen. Er lud die Pistole, gab ihr kurze Anweisungen, wie sie zu handhaben sei, küsste sie kurz auf die Stirn und schickte sie mit allen guten Wünschen in die Ungewissheit der kommenden Ereignisse.
Jeanne musste sich einen Platz zum Schlafen suchen. Die Matrosen, die Tag und Nacht das Schiff beaufsichtigen mussten, hatten keine festen Schlafplätze. Wer Wache hatte, blieb an Deck, die anderen suchten sich irgendwo eine Ecke, wo sie bis zur Wachablösung schlafen konnten. Schweren Herzens musste sich Jeanne für einen Platz entscheiden. Überall hingen die Männer in ihren Matten, nirgendwo gab es auch nur einen einzigen privaten Flecken. Als sie endlich in ihrem schwankenden Bett lag, konnte sie vor Anspannung kein Auge zu tun. Die Krise ließ nicht lange auf sich warten. Lautlos hatten sich ein paar Kerle aus ihren Matten gelöst. Es war zunächst stockfinster, aber Jeanne spürte die Bewegung, die sich ihr näherte, mit allen Fasern ihres Körpers. Dann hielt jemand eine Lampe hoch. Als der erste an ihre Matte rührte, richtete sie sich mit einem Ruck auf und zielte mit der Pistole auf die Männer, wobei sie die Pistole mit beiden Händen hielt. „Weg!“ schrie sie laut und in Agonie: „Weg, oder ich schieße!“ Sie gab sich nicht einmal die Mühe, ihre Stimme tief zu halten, wie sonst, wenn sie wenige Male eine Frage stellte oder eine Antwort geben musste. Erschrocken wichen die Männer zurück. Es war klar, dass dieser Bursche in seiner Todesangst tun würde, was er da sagte. Und das wollte nun doch niemand riskieren. Sie zogen sich zurück. Jeanne hörte sie noch einige Zeit leise beratschlagen. Dann trat Ruhe ein. Dennoch war an Schlaf nicht zu denken. Völlig gerädert kehrte sie am Morgen in Commersons Kajüte zurück. Es schien klar, dass sie keine weitere solche Nacht durchstehen würde.
Commersons Wunde am Bein machte ihm gerade in diesem Augenblick solche Schwierigkeiten, dass er den Kapitän bat, den Burschen, von dessen stündlicher Pflege er abhängig war, doch wieder bei sich schlafen zu lassen. Giraudais willigte zunächst ein, war sich aber im Klaren darüber, dass diese Lösung von der Mannschaft auf Dauer nicht akzeptiert würde. Nicht zuletzt wegen der unermüdlichen Stänkerei von Vivès, dem nicht so sehr der Diener als der Herr verdächtig und einfach unerträglich war, würde es keine Ruhe geben. Vivès neidete Commerson seine Stellung als vom König beauftragter Forscher, dem der Kapitän ja auch tatsächlich freundliche Schmeicheleien angedeihen ließ, als sei er wer weiß wie wichtig. Während er, Vivès, als Arzt die ganze unerfreuliche Arbeit an Bord verrichten musste. Nicht dass er auf Commersons Hilfe gehofft hätte. Vivès war sicher, dass dieser Vornehmtuer vielleicht die Wehwehchen feiner Pariser Damen kurieren konnte, dass er vor der blutigen und wenig sauberen Arbeit, die Vivès mit den Männern hier hatte, sicher angewidert zurückschrecken würde.
Vivès gab keine Ruhe. Er lauerte Jeanne auf, stellte sich ihr eines Tages in den Weg.
„Dein Herr, dieser Commerson, dieser Modearzt“, sagte er provozierend, „der hat sich bequemerweise seine Krankenschwester gleich mitgebracht. Das nenne ich einmal weitsichtig! Und kannst du ihm bei all seinen Wehwehchen helfen, ja? Tust du das?!“
„Warum so spröde, meine Kleine?! Bist du das Liebchen von dem einen Doktor, kannst du doch auch zu dem anderen ein bisschen netter sein.“ Dabei kam er gefährlich nahe an sie heran. Es hatte sogar den Anschein, als wolle er sie anfassen. Jeanne wich entsetzt zurück. In diesem Augenblick rief Pierre, der die Szene von weitem beobachtet hatte, mit lauter Stimme: „Jean! Dein Herr fragt nach dir! Du sollst dich beeilen!“
Blitzartig schoss Jeanne an Vivès vorbei, der, irritiert durch die Störung, nach dem Rufer geblickt hatte, und brachte sich in Sicherheit.
Bei späterer Gelegenheit sagte Pierre zu ihr: „Nimm dich vor dem in Acht, Jean, der ist bösartig. Niemand kann ihn leiden, aber er ist für alle wichtig und eigentlich kein schlechter Arzt. Aber, bleib weg von ihm so gut du kannst.“
Das hätte er ihr gar nicht zu sagen brauchen. Sobald sie Vivès auch nur von weitem sah, versuchte sie, sich unsichtbar zu machen.
Die Unruhe unter den Matrosen blieb. Nach einer Weile entschloss sich Giraudais, sich diesen Jean Baret einmal persönlich vorzunehmen. Er beorderte ihn in seine Kajüte, und konfrontierte ihn direkt mit den verschiedenen Vermutungen, seine Person betreffend. Jeanne war lange gewarnt und darauf vorbereitet. Jean Baret eröffnete Giraudais, er verstünde, warum man ihn für weibisch halte. Ihm sei etwas widerfahren, über das man nicht leicht sprechen könne und das für seinen misslichen Zustand verantwortlich sei. Man habe ihn entmannt.
Giraudais zog hörbar die Luft ein. Einen Moment musste er diese Nachricht sacken lassen. Dann fragte er, ob Jean darüber sprechen wolle. Jean senkte den Kopf und sagte, nein, das wolle er nicht, das könne er nicht, man möge ihm verzeihen. Sie standen noch eine Weile ohne etwas zu sagen. Jeanne hielt weiterhin den Kopf gesenkt. Giraudais rang nach Fassung, nach der richtigen Reaktion, fragte sich wohl auch einen Moment, ob er das nun glauben solle. Er hätte dem Menschen befehlen können, sich nackt vor ihm auszuziehen, um Gewissheit zu bekommen. Davor scheute er entschieden zurück. Er kam zu der Überzeugung, dass, was immer nun die Wahrheit hinter diesem merkwürdigen Jungen war, diese Wendung der Dinge seine Männer beruhigen müsse. So befahl er, dass der Diener von Monsieur de Commerson weiterhin ungehindert in dessen Kajüte schlafen könne. Die Nachricht von dem Schicksal des Burschen jagte den Matrosen Angst ein, auch Mitgefühl, und so ließen sie ihn fortan in Ruhe.
Weiter geht es mit den Kapiteln 11 und 12 am 10.12.2023 ...