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Kapitel 1 + 2 | 05.11.2023 | Durch die Hölle und zurück

1.

Louis-Antoine de Bougainville bog langsam in die Rue de l’Ancienne Comédie ein. Er war auf dem Weg ins Café Procop, wo er Diderot treffen würde. Kein ganz angenehmes Unterfangen, wie er vermutete. Er hatte die Kutsche in der Nähe der Kirche St. Germain-des-Près verlassen, um die letzten wenigen hundert Meter zu Fuß zu gehen. Er wollte seine Gedanken ordnen, wollte sich auf die Begegnung mit klarem Kopf vorbereiten. In der Kutsche war das nicht möglich. Die schlechten Straßen bewirkten, dass man unablässig hin- und her geschüttelt wurde. Das vertrug er nicht. Als er das dachte und den Kutscher anhalten ließ, um auszusteigen, musste er leise vor sich hin lachen. Das hätte er sicher niemandem erklären können: Ihm, der als erster Franzose eine Schiffsexpedition um die Welt geleitet, der den Stürmen und Wassern der Ozeane getrotzt hatte, wurde übel in einer lächerlichen Pariser Kutsche? Und doch war es so.

Man schrieb das Jahr 1775. Jetzt im Frühjahr war die Kälte noch nicht ganz aus der Stadt gewichen, aber die Bäume zeigten bereits knospiges Grün, und hin und wieder gelang es der Sonne, ihren Strahlen eine Ahnung der kommenden Wärme mitzugeben.

Bougainville dachte an Diderot, was er von ihm wusste, und daran, was dieser sich wohl von dem bevorstehenden Treffen erwartete. Sie waren einander nie begegnet. Dabei hatte der junge Bougainville bei Jean le Rond d’Alambert Mathematik studiert und sehr jung eine Abhandlung über die Integralrechnung verfasst, die ihm hohe Ehren einbringen sollte. Und d’Alambert war später Mitherausgeber von Diderots Encyclopédie geworden. Dennoch kannte er Diderot nicht persönlich. Selbstverständlich hatte Bougainville das Fortschreiten dieses wichtigen Werkes, der Encyclopédie, verfolgt. Und die Gedanken, die sich in Paris durch die Gruppe der aufgeklärten Philosophen, mit denen Diderot sich umgab, zu verbreiten begannen, waren ihm durchaus sympathisch. Nein, die Kirche hatte kein Recht, die Menschen zu unterdrücken und ja, auch Bougainville war der unumstößlichen Überzeugung, dass nicht der Adel, der Stand, das höchste Gut der Menschen war, sondern dass es auf die Würde des Einzelnen ankam, dass jeder Mensch einen freien Willen besäße, und nach diesem glücklich werden sollte. In seinen entscheidenden jungen Jahren hatte er diese neuen, ketzerischen Ideen geradezu aufgesogen.

Aber dann hatte er Paris und Frankreich 1752 zum ersten Mal verlassen, war als Sekretär an die französische Botschaft nach London gegangen und 1756, gerade einmal 27 Jahre alt, hatte man ihn wegen seiner wissenschaftlichen Verdienste in die Royal Society of London aufgenommen. Da war das Verhältnis zu England, zu den Engländern noch freundschaftlich und voller Respekt gewesen. Er seufzte, als er an diese unbeschwerten Jahre zurückdachte. Auch späterhin hatte er sich kaum in Paris aufgehalten und war schließlich sogar um die Welt gesegelt. Nein, es war keine Zeit gewesen in all den Jahren, Beziehungen zu dem Pariser Philosophenzirkel aufzunehmen.

Trotz seiner frühen wissenschaftlichen Arbeiten war Bougainville kein homme de lettres wie dieser Diderot, er war ein Mann der Tat und des Abenteuers, und er fragte sich seit Diderots Einladung zu diesem Treffen, was dieser wohl von ihm erwartete.

Im Grunde wusste er natürlich, worum es gehen würde. Worum es seit seiner Rückkehr immer wieder gegangen war: Tahiti, dieser Sehnsuchtsort, diese wunderbare Insel in der Südsee, dieses Traumland, das er leichtsinnigerweise „la nouvelle Cythère“ genannt hatte, die Insel der Liebenden. Wenn er ganz ehrlich zu sich war, steckte nicht wirklich eine Unbedachtsamkeit hinter dieser Namensgebung. Ihm war die Wirkung sehr bewusst, ja er hatte sie im Grunde kalkuliert. Als seine Reisebeschreibung Voyage autour du monde 1771 erschien, hatte sich die Aufregung darüber keineswegs gelegt. Allerdings war Aotourou da bereits auf der Heimreise gewesen. Dieser gute Wilde, wie man ihn bezeichnete, der den verwöhnten, nach spektakulären Neuigkeiten gierenden Parisern für einige Monate eine willkommene Abwechslung geboten hatte. Nun musste etwas Neues kommen.

Der König war bei Bougainvilles erfolgreicher Rückkehr hoch erfreut gewesen. Ein Jahr nach Erscheinen seines Reiseberichts hatte Ludwig ihn gar zu seinem persönlichen Sekretär ernannt, und die Leibrente war schließlich nicht unerheblich. Aber schon damals hatten sich Stimmen erhoben, die seine ruhmreiche Weltumsegelung kritisierten, ja, deren Nutzen durchaus in Frage stellten. Man ließ verlauten, dass für Frankreich, zumindest finanziell, im Grunde sehr wenig bei dem ganzen Unternehmen herausgesprungen sei.

Bougainville hatte sehr wohl begriffen, worin die eigentliche Bedeutung des gesamten Unternehmens gelegen hatte und worin eben nicht. Sie hatten China verfehlt, es war ihnen nicht gelungen, die terra Australis incognita zu finden, sie hatten überhaupt kein neues Land für Frankreich einnehmen können. Und von den wissenschaftlichen Aufgaben waren auch nicht alle erfolgreich. Véron, der Astronom, hatte vollkommen versagt. Ihm war die Aufgabe einer Längengradbestimmung auf hoher See zugekommen, aber das hatte sich als unlösbar erwiesen, zu schwierig für den armen Mann. Sicher aus Scham darüber hatte er die Boudeuse schon auf der Île de France verlassen, (heute die Insel Mauritius) um nicht mit leeren Händen vor den König treten zu müssen. Zusammen übrigens mit diesem unglücklichen Commerson und dessen …

Beschämt dachte er, dass James Cook, der Engländer, inzwischen bereits auf seiner zweiten Weltumseglung war, und dass diese Engländer ungleich professioneller dabei vorgingen als die Franzosen. Cook hatte ebenfalls Tahiti angelaufen, und im Übrigen war bereits dessen Landsmann Samuel Wallis auf Tahiti gewesen, wenige Monate vor ihm, Bougainville, was er damals natürlich nicht wusste, aber erklärte, wieso die Eingeborenen so scharf auf Nägel waren. Sie hatten durchaus den überraschenden Eindruck gewonnen, dass den Tahitianern Gegenstände aus Metall nicht gänzlich unbekannt waren und mussten sich fragen, woher das kam. Cook war später länger auf Tahiti geblieben als die Franzosen und hatte eine Reihe wunderbarer Objekte von dort mitbringen können, während sie selber sich damals Hals über Kopf davon gemacht hatten. Die Botaniker, die Cook begleiteten, waren vielleicht nicht erfolgreicher gewesen als Commerson, doch sie hatten ihre Ausbeute heil nach England gebracht, dazu von professionellen Malern dokumentiert. Außerdem entdeckten und benannten die Engländer viele neue Inseln, hatten Neuseeland umsegelt und bewiesen, dass dies nicht der große australische Kontinent war, den ganz Europa in der Südsee vermutete. Während seine beiden Schiffe, die Boudeuse und die Étoile, nur mit Mühe und einer halb verhungerten Mannschaft die holländischen Gewürzinseln erreicht hatten. Nein, wenn man es so klar vor Augen hatte, musste man sich eingestehen, dass seine Expedition nicht erfolgreich gewesen war.

Bougainville verhielt einen Augenblick seine Schritte und blickte in den leicht bewölkten, aber doch sonnigen Pariser Himmel. Das alles konnte seinen Ruhm nicht begründen. Er hatte es natürlich verstanden. Es war die Beschreibung der Menschen, denen sie auf ihrem ungeheuerlich langen Weg um die Welt begegnet waren. Dabei hatten die wirklich Wilden auf Feuerland und Patagonien allerdings das Interesse der Franzosen nur marginal wecken können.  Es war die Beschreibung von Tahiti mit seinen sanften, liebenswürdigen Bewohnern, seinen schönen Frauen, die sich so willig den Fremden angeboten hatten, was die Phantasie seiner Landsleute so nachhaltig anregte. Das war ihm vollkommen bewusst. Noch heute, bei der Erinnerung an diese wenigen, aufregenden Tage, konnte es geschehen, dass ihn ein Schauer des Entzückens, aber auch eines verwirrenden Unverständnisses überzog.

Und nun hatte Diderot genau diesen Teil seiner Reisebeschreibung aufgegriffen und in seinem Supplément dazu Stellung genommen, ja er hatte das Leben dieser guten Wilden, ihre Verhaltensweisen und Motivationen so interpretiert, wie es seinen Philosophenfreunden zu Pass kommen mochte, allen voran natürlich Rousseau. Aber ihm, Bougainville, widerstrebte eine so völlig theoretische Herangehensweise. Diderot war eben ein homme de lettres. Ohne Zweifel ein kluger Mann und tiefgründiger Philosoph. Allein, Bougainville wurde den Gedanken nicht los, dass dieser Mensch nicht die Wirklichkeit im Blick hatte, sondern allzu verliebt war in seine eigenen Ideen und Worte.

 

2.

Bougainville betrat das Café Procop. Diderot saß mit einigen seiner Bekannten oder Freunden an einem der hinteren Tische. Die Gesellschaft schien in lebhaftes Gespräch vertieft. Einen Augenblick konnte Bougainville den bedeutenden Encyclopédisten, denn so nannte man ihn jetzt, aus einer gesicherten Entfernung betrachten. Er hatte ein feines, schmales Gesicht und lebhafte, braune Augen. Diderot war älter als er selbst, Bougainville schätzte, dass er die 60 bereits überschritten hatte. Er selber fühlte sich mit seinen 46 Jahren voller Tatendrang, aber er war ein wenig fülliger als der nahezu asketisch wirkende Diderot. Allerdings hatte dieser keine gesunde Hautfarbe, schien angegriffen. Und das hatte man auch gehört, dass Diderot im letzten Jahr nicht ganz gesund von seiner Reise zur großen Zarin zurückgekehrt war.

Als Diderot nun zu ihm herüberblickte und ihn offensichtlich erkannte, schien er seine Begleiter zu bitten, sie beide allein zu lassen. Diderot winkte ihn heran, während die Männer an seinem Tisch aufstanden, Bougainville ehrfürchtig grüßten und sich in eine andere Ecke des Cafés verzogen.

„Verzeihen Sie, wenn ich mich nicht erhebe, Monsieur de Bougainville, meine Beine machen mir wieder einmal Probleme. Seit ich aus Russland zurück bin, lässt meine Gesundheit überhaupt sehr zu wünschen übrig. Darf ich Ihnen versichern, wie sehr ich mich freue, dass Sie meiner Einladung folgen konnten?“

„Es ist mir eine Ehre, Sie zu treffen, Monsieur Diderot“, antwortete Bougainville mit einer angedeuteten Verbeugung, „und es tut mir außerordentlich leid, von ihren gesundheitlichen Problemen zu hören. Aber im Übrigen war die Reise nach Moskau wohl ein voller Erfolg, so hört man. Ihre Majestät, die Zarin, scheint eine große Bewundrerin Ihrer Ideen zu sein, Monsieur. Eine aufgeklärte Monarchin, so sagt man. Wir leben in erstaunlichen Zeiten.“

Und nachdem weitere Höflichkeiten ausgetauscht waren, kam man zum eigentlichen Thema ihres Zusammentreffens. Die Beschreibung Tahitis in Bougainvilles Reisebericht hatte Diderot dazu verleitet, ein eigenes Bild der dortigen Gesellschaft zu entwerfen und mit einem philosophischen Überbau zu versehen. Ohne die christlich begründete Moral der Europäer sei dieses Volk in all seinen Verhaltensweisen noch immer im Stande der Unschuld, und es erweise sich, dass dieser natürliche Mensch grundsätzlich gut sei, geradezu bar jeglicher Schlechtigkeit. Da jedem Bewohner alles gehöre, es also kein Eigentum gäbe, weder an Besitztümern noch Menschen, gäbe es auch keinen Hass, keinen Neid, keine Eifersucht. Kurz, es handele sich auf dieser Insel offenbar um den idealen Urzustand. Die Freizügigkeit, mit der die Insulaner ihre Frauen und Töchter den fremden Seeleuten angeboten hätten, sei in keiner Weise moralisch verwerflich. Diderot, der, obwohl selber Abbé, also Inhaber der unteren Weihen war, musste als ausgesprochener Gegner der Kirche angesehen werden. Er fand tausend Gründe, warum gerade eine falsche Erziehung zu Scham und Prüderie die Menschen im Laufe der Zeit zu den unfreien Wesen herangebildet habe, die die Europäer heutzutage als Gegenbild zu diesen guten Wilden erscheinen ließen. Darüber hinaus erwähnte Diderot, welche guten Instinkte diese ursprünglichen Menschen bewiesen hatten, welch klare Sicht auf Fakten, die den Teilnehmern der Expedition, der verehrte Kommandant de Bougainville inbegriffen, offensichtlich über Monate verborgen geblieben waren. Er spielte natürlich auf Jeanne Baret an, die als Diener von Philibert de Commerson verkleidet an seiner Schiffsreise teilgenommen und sie alle damit zum Narren gehalten hatte.

Es war ohnehin hart, dem Enthusiasmus des Philosophen seine nüchternen Überlegungen entgegen zu setzen, und Bougainville versuchte, so gut es ging, bei allem seine eigene Meinung zurück zu halten und Diderot durch Beschreibungen der damaligen Ereignisse bei Laune zu halten. Über die unerhörte Angelegenheit der Jeanne Baret ging er leichtfüßig hinweg. Es war nicht ratsam, die Begegnung der Tahitianer und dieser als Mann verkleideten Frau genauer zu beschreiben. Das ganze Drama um diese ungewöhnliche und bedauernswerte Person hatte ja nicht erst auf Tahiti angefangen, und ihr wahres Geschlecht war keineswegs allen verborgen geblieben, und ihm schon gar nicht. Aber es war ihm gelungen, auf der langen Reise selbst wie auch später in seinen Berichten, so wenig Aufhebens darum zumachen wie möglich. Und dabei sollte es bleiben.

Glücklicherweise lagen Diderots Interessen auf anderen Themen. Außerdem, so kam es Bougainville in den Sinn, mochte Diderot den Mut, der dazu gehören musste, unter solchen Umständen als Frau eine Weltumseglung zu wagen, für anerkennenswert, aber nicht für so außergewöhnlich halten. Man wusste, dass Diderot sich mit bestimmten Frauen umgab, die man in der freizügigen Pariser Gesellschaft als Abenteurerinnen bezeichnete, unverheiratete Personen, zumeist von Stand und vermögend, die nach ihren eigenen Vorstellungen lebten. Ja, dachte Bougainville noch einmal, es war eine erstaunliche Zeit, in der sie lebten. Aber diese Frauen kannten keine wirklichen Abenteuer, Abenteuer, wie Jeanne sie erlebt hatte, und keine dieser Damen, so freizügig sie auch immer leben mochten, hätte solche Strapazen auf sich genommen. Natürlich sagte Bougainville nichts von alledem.

Stattdessen lenkte er das Gespräch auf Aotourou. Diderot war sogleich Feuer und Flamme, schien dieser Mensch, der sich Bougainville geradezu aufgedrängt hatte, ihn mit auf die Reise nach Frankreich zu nehmen, doch die tatsächliche Verkörperung all seiner Überlegungen zu der natürlichen Unschuld, die Diderot dem Volk von Tahiti in seinem Supplément zusprach.

„Was nur wird der gute Mann, wenn er denn zurückkehrt, seinen staunenden Landsleuten alles über uns, über unser Land, unsere Errungenschaften erzählen können! Ich würde etwas darum geben, verehrter Bougainville, wenn ich dabei sein könnte. Er hat Paris schon vor einigen Jahren verlassen, wie man hört?“

„Ja“, erwiderte Bougainville und blickte einen Augenblick wehmütig durch das große Fenster, das den Blick auf die Straße freigab. „Aber er konnte unglücklicherweise seinem Volk keinerlei Kenntnis von unserer fremden Welt vermitteln. Er ist zwar gesund auf der Île de France angekommen, wie mich ein Brief, den ich im August 1771 erhielt, wissen ließ, und von dort sollte ihn ein Schiff in die Heimat bringen. Erst im vergangenen Jahr jedoch hörte ich von seinem Ableben auf der Weiterfahrt. Er ist den Pocken erlegen, eine tückische Krankheit.“

„Das tut mir leid.“ Einen Moment schien es, als sei Diderot tatsächlich betroffen. Dann kam er zu seinen Gedankenspielen zurück. „Stellen Sie sich nur vor, lieber Bougainville: die Kirche Notre Dame! Wie würde er ein solches Bauwerk beschreiben? Wie könnte er überhaupt Paris, diese imposanteste Stadt unseres Landes beschreiben, die Häuser und Straßen, die Menschen, die Kutschen, die Tiere! Womöglich könnte er seine Erlebnisse niemals in Worte fassen, denn die Sprache der Tahitianer ist, wie ich ebenfalls hörte und durch die Beschreibungen von James Cook erfuhr, ungeheuer rudimentär, nicht wahr?“

„In ihrem Supplément, Monsieur Diderot, haben Sie den guten Wilden allerdings reife Gedanken und Überlegungen in den Mund gelegt, die an Genauigkeit des Ausdrucks und argumentativer Konsequenz nichts zu wünschen übriglassen.“

Diderot musste lächeln, auf eine freundliche Weise fühlte er sich ertappt.

„Es sind die Ideen, die zählen, Monsieur de Bougainville, man muss sich doch fragen, auf welche Weise diese Menschen, die wir als gute Wilde betrachten, zu dem geworden sind. Ob eine anfänglich gute Natur, wenn man sie nicht weiter beeinflusst, einfach ihren Lauf nimmt, oder ob sich diese Menschen auf ein Fundament von Einsichten stützen. Wir haben der Kirche zu viel Macht über uns erlaubt, und ihr schlechter Einfluss hat uns verdorben. Würden Sie mir da nicht zustimmen?“

Auf jeden Fall widersprach Bougainville nicht. Es hatte keinen Sinn. Sie waren zu unterschiedlich. Er, Bougainville, war kein Philosoph und Diderot, das erkannte er jetzt noch besser als bei der Lektüre dieses Supplément, wusste wenig von den Menschen. Nicht, dass all die Überlegungen nicht äußerst geistreich gewesen wären. Man konnte darüber nachdenken, welche Gründe in der französischen Gesellschaft zu Missständen geführt hatten. Für Bougainville zählte etwas anderes. Die reale Begegnung mit den vielen Menschen unterschiedlichster Art, die er auf seiner Reise getroffen hatte. Es waren nicht die theoretischen Überlegungen über den Zustand dieser fremden Gesellschaften. Es war das Abenteuer der ungewissen Konfrontation, das jedes Mal anders ablief. Wie gern wäre er nicht wieder in See gestochen!

Inzwischen war Ludwig XV. verstorben. Sein Nachfolger, Ludwig XVI., war kaum zwanzig Jahre alt. Seine verwöhnte junge Frau, eine Österreicherin, kümmerte sich nicht um sein Volk und war nicht besonders beliebt. Auf dem neuen Ludwig, den man mit Freuden begrüßt hatte, lagen nun alle Hoffnungen. Er hatte ein schweres Erbe angetreten, Frankreichs Staatskasse war gänzlich leer. Bougainville erwartete nicht, dass Ludwig ein offenes Ohr für ein weiteres kostspieliges Unternehmen haben würde, dessen Erfolge, finanzieller und wirtschaftlicher Art nach allem, was man erlebt hatte, eher zweifelhaft, auf jeden Fall aber unsicher waren. Allerdings war der König an der Marine interessiert. Wer weiß, was sich daraus noch alles ergeben konnte.

Bougainville verließ das Café in bestem Einvernehmen mit dem berühmten Mann, der sofort, als sein Gast aufgestanden war, wieder von seinen Freunden und Verehrern umringt wurde. 


Kapitel 3 + 4 | 12.11.2023 | Durch die Hölle und zurück

3.

Ein Diener hatte ihm zum Nachtmahl ein Stück Braten gebracht. Dazu trank Bougainville einen kräftigen Rotwein. Im Grunde war er dieser einsamen Abende müde. Wenn er sich nicht in Gesellschaft befand, was allerdings recht häufig der Fall war, verbrachte er seine Abende allein in seiner komfortablen Stadtwohnung, nahe beim Jardin du Roi, einer angenehmen, ruhigen Gegend von Paris, im Übrigen ganz in der Nähe der Rue des Boulangers gelegen, in der Philibert de Commerson mit Jeanne Baret gelebt hatte.

Bougainville seufzte tief. Er würde endlich heiraten müssen, diese einsamen Abende zugunsten einer trauten Zweisamkeit aufgeben. Wer weiß, vielleicht würde eine Reihe von Kindern seine Tage verschönern, sein Leben auflockern. Jetzt, wo abzusehen war, dass ihm keine weiteren Expeditionen zur See mehr angeboten würden. Es gab allerdings andere Abenteuer, die vielleicht noch auf ihn warteten. Bougainville glaubte zu wissen, wohin des Königs Interesse an der Marine führen würde. Es gab Unruhen in Amerika. Man würde möglicherweise auf seine Dienste zurückgreifen wollen. Er hatte viele Talente, war ja nicht zuletzt ein Soldat des Königs. Man würde sehen. Vielleicht konnte die Heirat noch eine Weile warten. Und bei Licht besehen, musste er zugeben, dass er eine wirkliche Kandidatin noch gar nicht im Sinn hatte.

Er lehnte sich behaglich im Sessel zurück und ließ seine Gedanken schweifen. Commerson und Jeanne Baret. Er erinnerte sich genau, wann er diesen beiden zum ersten Mal begegnet war:

Rio de Janeiro, Juni 1767

„Die Boudeuse ist eingelaufen, Kapitän!“ La Giraudais, Kapitän der Étoile, erhob sich und begab sich an Deck, um die Ankunft seines Kommandanten zu erwarten. Er und Bougainville kannten und schätzten sich seit langem. Sie waren schon einmal, vor nicht allzu langer Zeit im Südatlantik gesegelt. Beide Schiffe, die Boudeuse, eine Fregatte bestückt mit 26 Kanonen unter Führung von Kapitän Duclos-Guyot und die etwas kleinere Étoile, eine Fleute, ebenfalls ein Dreimaster, die als Versorgungsschiff dienen würde, waren vor über einem halben Jahr von Frankreich aus losgesegelt. Und nun, hier in Rio, sollte ihre gemeinsame Reise um die Welt beginnen. La Giraudais seufzte. Ihm war nicht ganz wohl in seiner Haut. Er wusste, dass Bougainville ihn schätzte und ihm vertraute. Und nun musste er ihm schon bei dieser ersten neuerlichen Begegnung mitteilen, dass die Probleme sich bereits häuften, noch ehe die Reise überhaupt begonnen hatte.

Bougainville, als Kommandant der Expedition, hatte Frankreich, den Hafen von Brest auf der Boudeuse bereits einige Zeit früher verlassen, als die Étoile, da er einen besonderen Auftrag zu erledigen hatte. Sehr zu seinem Leidwesen, ja zu seiner großen Enttäuschung, hatte Ludwig XV. ihn beauftragt, die Nouvelles Malouines (Die heutigen Falkland Inseln) an die Spanier zurück zu geben, jene Inselgruppe vor Südamerika, die er 1764 nach dem unglücklich gegen die Engländer verlorenen Krieg in Kanada für Frankreich eingenommen und eine Kolonie mit von dort geflüchteten französischen Siedlern errichtet hatte. Ludwig war an Frieden mit Spanien gelegen, und Bougainville vermutete, dass die Erlaubnis, die Welt für Frankreich zu umsegeln, nicht zuletzt abhing von der friedlichen Rückgabe dieser Inselgruppe. Inzwischen war auch alles zur Zufriedenheit seiner Majestät abgewickelt worden. Zudem war der Aufenthalt in Buenos Aires durchaus angenehm und höchst interessant gewesen.

Ende Januar 1767 war die Boudeuse vor Montevideo, im Mündungsgebiet des Rio de la Plata vor Anker gegangen. Bougainville und der Prinz von Nassau-Siegen hatten daraufhin Buenos Aires, das etwas weiter den Fluss herauf lag, auf einem kleineren Gaffelschoner, einem Zweimaster, erreicht, um die Übergaberegelungen mit dem dortigen Generalgouverneur festzulegen. Auf dem Rückweg einige Zeit später zogen die beiden Herren es wegen der ungünstigen Winde vor, den Fluss auf der gegenüberliegenden Seite von Buenos Aires zu verlassen und über Land nach Montevideo zurückzukehren. Die Reise ging durch ein nahezu unbewohntes Gebiet, dessen immense Weiten dem Auge wenig Anhaltspunkte zur Orientierung gaben, in Gesellschaft ganzer Herden von Pferden, von denen man eines einfangen musste, wenn man das eigene, erschöpfte Pferd ersetzen wollte. Die Männer erhielten einen ersten Einblick in eine völlig andere, unbekannte Welt, wie sie im Laufe der kommenden Monate noch viele erleben sollten. Sie aßen rohes Fleisch, schliefen in notdürftig aus Häuten zusammengesetzten Zelten und wurden nachts durch das Gebrüll von Raubtieren vom Schlaf abgehalten. Am eindrucksvollsten war die Überquerung von Flüssen gewesen, die teilweise wild und reißend und furchterregend waren. Man setzte die Fremden in lange, schmale, kanuartige Boote, die von links und rechts angebundenen Pferden gezogen wurden. Wenn diese den Grund nicht mehr berühren konnten, zogen sie die Boote schwimmend. Selbst für einen erfahrenen Seemann wie Bougainville waren diese heiklen Konstruktionen mehr als beunruhigend. Der Prinz von Nassau empfahl mehrere Male seine Seele zu Gott, und Bougainville ahnte, dass der gute Mann nicht zum letzten Mal auf dieser ganzen Weltreise, zu der er sich abenteuerlicher Weise entschlossen hatte, wünschen würde, er hätte es nicht getan. Ganz freiwillig war dies indes nicht geschehen. Die vielen ausschweifenden amourösen Abenteuer und die daraus resultierenden finanziellen Verbindlichkeiten des Prinzen ließen es als vorteilhaft für die Familie erscheinen, wenn man seine Ausgaben durch eine solche Reise von vornherein limitieren konnte.

Während des kurzen, etwa zwei Wochen währenden Aufenthalts in Buenos Aires war Bougainville zum ersten Mal Menschen begegnet, die man in Paris sicher als Wilde bezeichnet hätte, als primitive Wesen. Und das waren sie in der Tat. Hier nannte man sie Indios bravos. Bougainville fand sie von unbedeutender Statur, hässlich, zum großen Teil mit geradezu räudigem Hautausschlag überzogen. Sie hatten keine festen Unterkünfte und kleideten sich mit einem Umhang aus Ziegenfell. Mit Pfeil und Bogen, mit Lasso und Steinkugeln bewaffnet ritten sie zu Pferde. Ihr höchstes Bestreben war es, durch die Spanier an Feuerwasser zu kommen und sich dann bis zur Besinnungslosigkeit zu besaufen. Das war eine Plage, für die es kein Hilfsmittel gab. Bougainville war klar, dass diese Eingeborenen, diese Wilden, wenn man so wollte, verdorben waren, dass sie, wenn man sie mit den Ansichten eines Diderots betrachtete, eben nicht mehr die natürlichen Wilden waren, ein Volk in Unschuld. Wenn sie je unschuldig gewesen waren, hatte die Gesellschaft der Eindringlinge, in diesem Fall der Spanier, sie allerdings vollständig zerrüttet.

In Montevideo hatte man die Boudeuse inzwischen überarbeitet, den Rumpf kalfatert und die Segel ausgebessert. Neuer Proviant, Wasser und Fässer mit Bier wurden geladen. Man entledigte sich der Kanonen bis auf vier, um mehr Platz für Tiere zu bekommen, die als lebender Nahrungsvorrat wichtig waren.

Nach der Übergabe der Malouines an die Spanier wurden diejenigen französischen Siedler, die dort nicht mehr unter der Herrschaft des spanischen Königs leben wollten, von Bougainville nach Rio de Janeiro verbracht, wo er auf die Étoile stoßen und endlich, endlich seine Weltumseglung beginnen sollte. Das also war der Moment. Und obwohl la Giraudais diesen Augenblick ebenfalls herbeigesehnt hatte, fürchtete er sich vor der anstehenden Aussprache. Denn die Probleme waren nicht geringfügig.

 

4.

„Verstehe ich Sie richtig, lieber Giraudais? Monsieur de Commerson ist ein ausgewiesener Wissenschaftler, ein hoch angesehener Mann. Die Königin von Schweden höchst persönlich hat sich dafür eingesetzt, dass er unsere Expedition begleiten darf, um die Pflanzen und Tiere der unbekannten Länder, die wir aufsuchen werden, zu sammeln und zu bestimmen, wie er es schon in Frankreich, auch in Zusammenarbeit mit dem berühmten Linneus getan hat. (Carl von Linné (1707-1778), schwedischer Naturforscher, der die Grundlagen der modernen botanischen und zoologischen Taxonomie schuf.) Ihre Majestät, König Ludwig, hat seine ausdrückliche Begeisterung für Commersons Aufgabe kundgetan und erhofft sich großen Ruhm für unser Land durch den zu erwartenden Erkenntnisgewinn.“

„Er ist in der Tat hochgeschätzt, und ich würde mir niemals erlauben, die Bedeutung seiner Mission in Frage zu stellen. Ich habe lediglich auf gewisse Schwierigkeiten aufmerksam machen wollen, die sich vielleicht eher an seinem Diener festmachen lassen, an dem Monsieur de Commerson allerdings mit großem Ernst gelegen ist. Es ist mir peinlich das zuzugeben, aber es hat Probleme gegeben.“

„Probleme? Schwierigkeiten? Welche Art von Schwierigkeiten, mein lieber Giraudais, und wo ist Monsieur de Commerson in diesem Augenblick? Lassen Sie uns die Angelegenheit mit ihm zusammen klären.“

„Monsieur de Commerson und sein Diener, Jean Baret ist sein Name, sind heute Morgen an Land gegangen und untersuchen die Flora von Rio de Janeiro und der Umgebung der Stadt. Wie ich höre, hält sich Monsieur de Commerson selbst im Hafen auf. Er hat eine alte Wunde am Bein und ist nicht gut zu Fuß, deswegen überlässt er das Sammeln seinem Diener, der ihm die interessanten Exemplare dorthin zur Begutachtung bringt. Das geht schon seit Tagen so. Sie sind sehr erfolgreich, wenn ich das als Außenstehender und Laie begutachten sollte. Die Kabine der beiden füllt sich in erstaunlicher Weise mit ihren Fundstücken.“

Staunend hörte Bougainville seinem Kapitän zu. War Commerson, wenn er denn durch eine Verletzung behindert wurde, überhaupt fähig, die lange Reise durchzustehen, fragte er sich. Und was sollte das bedeuten, hatte Giraudais gesagt: die Kabine der beiden?

Was die Wunde betraf, so klärte La Giraudais Bougainville auf, so sei Commerson vor längerer Zeit schon und lange vor seiner Einschiffung von einem Hund gebissen worden. Er habe vielfach Schmerzen und manches Mal würde die Wunde aufs Neue anfangen zu nässen. Aber der Junge, sein Diener, sei heilkundig, habe ein erstaunliches Wissen über die Wirkung der Pflanzen, die er sammelte, auch durchaus jener, die ihm ja bisher noch völlig unbekannt seien. Aber irgendwie sei es ihm wohl durch Vergleich mit solchen Kräutern, deren Wirkung er im heimischen Frankreich beobachtet habe, möglich, Zusammenhänge herzustellen, und auf jeden Fall gelänge es diesem Jungen immer wieder, die Wunde zu beruhigen und das Nässen zu stoppen. Erstaunlich sei dies. Und was die Kabine der beiden anging, da genau lägen eben die genannten Schwierigkeiten. Dann erzählte La Giraudais seinem Kommandanten, was geschah, als Commerson und sein Diener zuerst in Rochefort an Bord gekommen waren. Auf den ersten Blick hatte der Kapitän die gewisse Hilflosigkeit der beiden erkannt.

Zwei Matrosen beobachteten das Herannahen der Kutsche. Ein Herr stieg aus, dem man die blasierte Vornehmheit von weitem ansah. Er hatte einen Diener von eher zarter Natur dabei, der sich um das Gepäck kümmerte und zusammen mit dem Kutscher eine Vielzahl von Kisten und Kästen aus der Kutsche lud und auf den Boden vor dem Anleger des Schiffes auftürmte. Die Matrosen pfiffen belustigt durch die Zähne. La Giraudais, der hinzukam, ließ sich vernehmen. „Das wird Monsieur de Commerson sein. Er ist Arzt und Botaniker. Er reist auf Wunsch seiner Majestät, des Königs von Frankreich mit uns. Er wird unterwegs Pflanzen sammeln und Kenntnisse über fremde Tiere. Behandeln Sie ihn mit Hochachtung, meine Herren. Ihm darf es hier an Bord an nichts fehlen.“

„So, so, Arzt ist er“, machte Vivès verächtlich, „er sieht nicht aus, als könne er Blut sehen.“

François Vivès, Schiffsarzt und Chirurg auf der Étoile, betrachtete die Gestalt da unten auf dem Quai in ihren seidenen Kleidern voller Missgunst. Eine ernst zu nehmende Erscheinung für einen Arzt schien ihm das nicht zu sein.

„Pflanzen“, fügte er dann noch hinzu und wiederholte die Worte des Kapitäns, „fremde Tiere!“ Es hörte sich an, als spucke er dabei aus. Dann wandte er sich um und ging davon.

„Schnuckeliges Kerlchen, das der da bei sich hat“, sagte einer der beiden Matrosen. Die Worte waren nicht für La Giraudais bestimmt. Aber der hatte sie wohl gehört, ebenso wie die Bemerkung von Vivès. Man war klug beraten, nicht alles, was man nebenbei mitbekam, auch zur Kenntnis zu nehmen.

Inzwischen schien es, als habe Commerson begriffen, dass dies die Étoile war und also sein zu Hause für die kommenden Monate und Jahre. Er hatte sich kurz informiert bei einem der Arbeiter, die dabei waren, das Schiff zu beladen, und schritt nun bedächtig über den Anleger auf Deck. Um das Gepäck oder den Diener kümmerte er sich nicht weiter. Der Bursche schien die Kisten und Säcke zu ordnen und trug einen Teil hinter seinem Herrn her.

Die beiden Matrosen pfiffen wieder durch die Zähne und stießen sich lachend in die Seite.

„Hey, du!“ rief der eine. „Trägst du den Sack, oder trägt der Sack dich?“ Sie lachten noch lauter. Der Junge schwitzte. Er senkte den Kopf und wollte an den beiden vorbei, aber sie stellen sich ihm in den Weg. „Du bist jedenfalls kein Matrose. Bist du überhaupt schon mal auf einem Schiff gewesen?“ Der Junge hob widerwillig den Blick und schüttelte den Kopf.

„Was hat denn dein Herr in all den Kisten zusammengepackt? Glaubt er, das hier ist eine Vergnügungsreise?“

„Wie heißt du?“ fragte er dann unvermittelt.

Wieder ein kurzer, scheuer Blick von unten auf die beiden kräftigen Kerle vor ihm.

„Jean“, kam es von dem Jungen.

„Jean also.“ Es entstand eine kurze Pause. Dann sagte der, der die ganze Zeit gesprochen hatte: „Ich bin Pierre, und das hier ist Émile. Komm Émile, wir helfen diesem Jean. Sonst geht ihm noch die Luft aus, ehe er überhaupt angeheuert hat.“ Wieder lachte er. Es hörte sich nicht böse an.

„Danke“, sagte Jean und fügte hinzu: „Ich bin der Diener von Monsieur de Commerson. Ich muss die Sachen in seine Kabine bringen. Es sind Gerätschaften, die er für seine Tätigkeit braucht. Er ist Botaniker.“

Von der Kommandobrücke aus hatte La Giraudais die Szene beobachtet, und ihm war sofort ein Gedanke gekommen. Dieser Commerson hatte offensichtlich keine Ahnung von den beengten Verhältnissen auf einem Schiff. Was dachte er sich dabei, mit dieser Unzahl von Gepäckstücken hier aufzukreuzen? Die Étoile hatte eine Länge von ca. 30 Metern bei einer Breite von 10 Metern, und diesen Platz mussten sich 116 Männer auf vier Decks teilen.

„Ich nehme an, Sie haben nur die nötigste Ausrüstung für ihre Forschungsarbeit mitgebracht, Monsieur de Commerson“, konnte er sich nicht enthalten, in äußerst freundlichem und höflichem Ton zu bemerken. Commerson schien zu begreifen. Er machte eine bedauernde Geste und erwiderte, dass in der Tat seine Aufgabe mancherlei Gerätschaften erforderlich machte und es auch und vor allem Gelegenheiten geben müsse, die zu sammelnden Objekte zu lagern und aufzubewahren, um sie wohlbehalten nach Frankreich bringen zu können. Und da hatte Giraudais ihm aus einer Eingebung heraus, die Kapitänskabine angeboten. Sicher, es geschah aus dem Moment heraus. Und ganz spontan. Aber es zeigte nicht nur Giraudais Großzügigkeit einem Gast gegenüber, dessen Wohlwollen er sich zu erhalten wünschte, umso mehr natürlich als die Konfrontation eines völlig Unerfahrenen mit all den Unbequemlichkeiten und Misshelligkeiten auf hoher See zu äußerst unangenehmen Situationen führen konnte. Es gab Giraudais nämlich darüber hinaus die Gelegenheit, selber sehr viel näher bei seiner Mannschaft zu logieren. Ein solches Schiff zu leiten – jedes Schiff zu leiten – bedeutete eine ungeheure Kraftanstrengung und ein Wagnis. Es verlangte Verstand, Stärke, Autorität, psychologisches Einfühlungsvermögen. Er wusste, dass seine Matrosen niemals ein Wort der Missbilligung gegen ihn äußern würden. Aber hier, in ihrer unmittelbaren Nähe, wäre es leichter, von Problemen, wenn sich solche ergeben sollten, zu hören und gegenzusteuern. Denn dass die Matrosen sich niemals gegen den Kapitän erhoben, war ja keineswegs vollständig wahr. Man hatte anderes gehört. Je länger eine solche Fahrt dauerte, je mehr Strapazen man zu erleiden hatte, etwa wenn Wind und Wetter und Hungersnöte die Menschen an den Rand des Abgrunds brachten, desto mehr lief ein Kapitän Gefahr, die Verantwortung für alles aufgehalst zu bekommen. Das konnte gefährlich werden. Es konnte nützlich sein, wenn er von Anfang an mitten unter seinen Leuten schlief, um eventuelle Unruhen frühzeitig mitzubekommen. Außerdem hatte er bei Vivès ein ungutes Gefühl. Er kannte ihn erst seit kurzem. Er schien ein erfahrener, hart gesottener Chirurg auf See zu sein. Und hart gesotten mussten diese Kerle sicher sein. Aber er war nie mit ihm gesegelt, die Zusammenarbeit war neu. Und er hatte eben kein gutes Gefühl. Der Mensch machte einen bitteren, einen unzufriedenen Eindruck. Giraudais kannte solche Leute, die zur See gingen, um einem noch schlechteren Leben an Land zu entfliehen. Worin auch immer dieses „Schlechtere“ bestanden haben mochte.

Was La Giraudais nicht wusste war, welch großen Gefallen er dem Botaniker und seinem Gehilfen mit seinem Angebot gemacht hatte. Welch übergroße Erleichterung die relativ geräumige Kabine für diese beiden unerfahrenen Mitreisenden bedeutete. So konnten sie ihr ungeheuerliches Geheimnis noch eine Weile für sich behalten. Wenngleich sich herausstellen sollte, dass dieses so offensichtlich vorteilhafte Arrangement keineswegs gänzlich ohne Tücken sein würde. 


Kapitel 5 + 6 | 19.11.2023 | Durch die Hölle und zurück


5.

Frankreich 1745, La Comelle-sous-Beavray

„Maman!“ Jeanne Pochard blickte auf ihre kleine Tochter herab, die neben ihr saß, während sie ihr aus der Bibel vorlas und die sie jetzt mit ihren schönen, kindlich strahlenden Augen ansah. „Ja, meine kleine Jeanne?“

„Maman, die Geschichten, die Sie mir erzählen, die finden Sie alle in diesem Buch, nicht wahr?“

„Ja, natürlich, das weißt du doch. Die stehen alle in der Bibel.“

„Aber wie können Sie die Geschichten darin finden?“

„Wie meinst du das? Ich lese sie dir doch vor. Sie stehen hier alle geschrieben.“

Das kleine Mädchen zögerte einen Augenblick und sagte dann: „Ich habe auch in das Buch geguckt, Maman, ich habe es gestern in die Hand genommen, als Sie es auf dem Tisch haben liegen lassen, um mit der Nachbarin zu sprechen. Ich kann aber keine Geschichten darin finden. Ich sehe nur diese schwarzen Zeichen.“ Jeanne Pochard unterdrückte ein Lächeln. „Das sind Buchstaben. Man muss sie kennen. Dann kann man lesen. Und dann sieht man auch die Geschichten, die sie erzählen.“

„Was bedeutet das?“ Jeanne Pochard überlegte einen Moment. „Es ist so: du hörst, was ich sage. Aber manchmal hörst du nicht gut zu, oder du vergisst es. Wenn ich dir aber meine Worte aufschreiben würde, dann könntest du immer wissen, was ich von dir wollte.“ Die Augen der kleinen Jeanne blieben ernst. „Es ist wie bei deinen Bildern“, sagte die Mutter, „du malst eine Blume. Du siehst die Blume vor dir draußen. Dort steht sie still an ihrem Platz. Jetzt malst du sie und kommst zu mir in die Küche und zeigst sie mir, und ich erkenne sie. Ich weiß, welche Blume es ist. So ist das mit den Worten. Wenn du sie gemalt hast, man nennt das schreiben, dann sagen sie demjenigen, der sie liest, was sie bedeuten. Und so kommen die Geschichten in die Bibel.“

„Maman, da sind so sehr viele Buchstaben in der Bibel. Gibt es wohl genauso viele Buchstaben wie es Blumen gibt?“

Blumen, die Natur überhaupt, war die große Leidenschaft der kleinen Jeanne. Die Mutter lachte. „Nein, mein Liebling. Es gibt sehr viel mehr Blumen als es Buchstaben gibt.“„Und wie viele Buchstaben gibt es? Kennen Sie die alle?“

„Natürlich kenne ich sie alle. Man muss sie alle kennen, sonst kann man nicht lesen. Etwas über zwanzig, glaube ich, ja so viele. Ich müsste sie zählen.“

„Und zwanzig, das sind nicht so viele?“ Das kleine Gesicht bekam einen grüblerischen Ausdruck. Es war Anfang September. Sie hatten erst vor kurzem Nüsse gesammelt. Jeanne Pochard zählte zwanzig Nüsse auf den Tisch. Die kleine Jeanne berührte eine nach der anderen, drehte sich dann, offensichtlich überzeugt, dass eine solche Menge, obwohl nicht gerade klein, zu bewältigen wäre, entschlossen zu ihrer Mutter um und sagte. „Maman, ich möchte die Buchstaben kennenlernen. Glauben Sie, dass ich das kann? Und wenn ich sie gelernt habe, kann ich dann lesen? Helfen Sie mir, lesen zu lernen, Maman?“

Mit Staunen und Freude schloss Jeanne Pochard ihr Kind in die Arme. Es war nicht das erste Mal, dass die kleine Jeanne sie in Erstaunen versetzte. Sie war erst fünf Jahre alt, ein ungewöhnlich aufgeschlossenes Kind, neugierig, wissbegierig. Und immer lief sie draußen herum, pflückte Blumen, sammelt sie geradezu, versuchte sie zu bewahren, wenn sie besonders schön waren.

„Ja, meine kleine Jeanne“, sagte sie jetzt, „ich will dir gern helfen. Und dann lese ich dir nicht mehr aus der Bibel vor, sondern du wirst das tun, wenn ich von all der Arbeit abends zu müde bin.“

Die Kleine jauchzte und klatschte in die Hände vor Begeisterung.

„Hier“, sagte die Mutter und zeigte auf ein Wort in der Bibel. „Siehst du das? Das Wort bedeutet Jesus. Und der erste Buchstabe, siehst du? Das ist ein J. Das ist derselbe Buchstabe, mit dem dein Name anfängt: Jeanne.“„Und Ihrer.“

„Ja, und meiner. Versuch einmal, ein J in den Sand zu malen.“ Mit Feuereifer nahm die Kleine einen Stock in die Hand und versuchte, ein J in den Boden vor der Küche zu zeichnen.

„Der zweite Buchstabe hier im Wort für Jesus ist ein e. Das ist auch der zweite Buchstabe in deinem Namen.“ Als sie beim n angekommen waren und also in ungelenker Schrift der Name Jean in den Sand geschrieben stand, sagte die Mutter: „Das heißt Jean. Weißt du wer das ist?“„Natürlich. So heißt Papa!“

„Richtig. Und weil Papa ein Mann ist, heißt er Jean. Und weil wir beide Frauen sind, na ja, du wirst einmal eine werden, nennt man uns Jeanne und wir bekommen noch ein zweites n und ein weiteres e für unsere Namen.“

Es schien ganz leicht. Sie würde lesen lernen. Das geheimnisvolle Buch, die Bibel, aus der die Mutter schon so viele Geschichten vorgelesen hatte, würde ihr nicht länger mehr verschlossen bleiben. Sie strahlte ihre Mutter an, ergriff das Buch und drückte es voller Begeisterung an sich. Jeanne Pochard nahm es ihr sanft ab und sagte: „Wir müssen ein bisschen vorsichtig sein, meine kleine Jeanne. Wir sagen es niemandem, was wir vorhaben. Es wird Papa nicht unbedingt gefallen, hörst du. Er wird glauben, dass wir darüber die Arbeit vernachlässigen. Ich auf dem Feld und im Haus und du bei all den häuslichen Aufgaben. Papa kann nicht lesen. Er hält es für überflüssig, weißt du, auch ein bisschen für Zeitverschwendung.“„Liest er denn nicht in der Bibel?“

„Nein. Er lässt sich vorlesen. Am Sonntag in der Kirche. Das genügt ihm.“

Und so schlossen sie einen Pakt, und so lernte Jeanne Baret lesen.

Ganz gerecht war es nicht, was sie ihrer Tochter über ihren Mann gesagt hatte. Aber es war einfacher, alles auf den Willen des Vaters zu schieben. Das wurde nicht hinterfragt. Später, wenn das Kind verständiger wäre, würde sie ihre Tochter natürlich in die Konflikte einweihen, die mit ihrer hugenottischen Religion zusammenhingen. Viele ihrer Glaubensbrüder hatten Frankreich vor etwa 60 Jahren verlassen müssen, als man die Ausübung ihres besonderen Glaubens verboten und die unmittelbare katholische Taufe eines jeden Säuglings von Staats wegen vorgeschrieben hatte. Jean Baret, den sie geheiratet hatte, war Katholik. Er hatte sich nicht viel darum geschert, zu welchem Gott sie betete und ob es vielleicht einen Unterschied zwischen dem katholischen und dem hugenottischen Gott gäbe. Auch sie wollte sich nicht mehr mit diesen Dingen befassen. Jean war ein guter Mann, ein fleißiger Mann, einer der sie gut behandelte. Sie hätte es viel schlechter treffen können. Dass er weder lesen noch schreiben konnte, was machte das schon. Das spielte in ihrem von harter Arbeit für ihren Landesherrn bestimmten Leben keine Rolle. Sie selber fand Trost in der Lektüre der Bibel und Jean ließ sie machen. Das Kind war getauft, man ging sonntags zur Messe. Nach außen war alles in bester Ordnung. Niemandem kam es mehr in den Sinn, ihren Glauben zu hinterfragen.

Das war im Haus ihrer Eltern noch anders gewesen. Natürlich war man auch dort des Sonntags in die katholische Kirche gegangen. Aber der Vater hatte darauf bestanden, die rechtmäßige Bibel im Kreise der Familie zu lesen. Er hatte auch dafür gesorgt, dass alle seine Kinder lesen und schreiben lernten. Es war eine lange und gute Tradition, jeden Menschen an der Möglichkeit, Wissen zu erwerben, teilhaben zu lassen. Ganz abgesehen davon, dass ein jeder selber die Bibel lesen können sollte. Jeanne Pochard liebte ihre Eltern und sie war ihnen dankbar für alles, was sie von ihnen gelernt hatte. Aber das Leben war hart. Der Vater war sehr streng und gottesfürchtig. Er hasste Unrecht in jeder Form und war unerbittlich gegen jedermann, von dem er glaubte, dass er sich nicht rechtschaffen verhielt. Damit machte er sich nicht nur Freunde. Im Grunde war er unbeliebt und machte sich durch solche Haltung das Leben unnötig schwer. Hinzu kam, dass die Namen ihrer Eltern, Nicolas Esaic Pochard und Elisabeth Grandjean, für jeden erkennbar hugenottisch waren. Deswegen war es angeraten, äußerst vorsichtig zu sein, um nicht etwa durch ein falsches Wort aufzufallen. Denn noch immer wurden Hugenotten, wenn man sie überführen konnte, verfolgt und hart bestraft. Jeanne Pochard war es leid gewesen, sich in Acht nehmen zu müssen. Mit einem katholischen Mann und einem katholisch getauften Kind brauchte sie keinen Verrat mehr zu fürchten. Die Bibel war die Bibel. Die kleine Jeanne würde rechtzeitig den Unterschied merken, dafür würde sie sorgen.

 

6.

Frankreich 1761, Toulon-sur-Arroux

Philibert de Commerson atmete tief die frische Septemberluft ein, während er über die sonnigen Wiesen seiner neuen Heimat streifte. Er lebte erst seit knapp einem Jahr in Toulon-sur-Arroux, seit er im Oktober 1760 Marie-Antoinette-Vivante Beau geheiratet hatte. Er fühlte sich, als sei er am Ziel all seines Strebens angelangt. Er war jetzt 32 Jahre alt, gesund und durch seine Heirat mit der wohlhabenden Antoinette endlich finanziell unabhängig. Der Weg war nicht ganz einfach gewesen, da sein Vater zunächst darauf bestanden hatte, dass er die Rechte studieren und ihm als Anwalt nachfolgen sollte. Aber Philibert wollte sich anders orientieren.

Es war einer seiner frühen Lehrer, ein Jesuitenpater, der seinen Schülern Gottes Größe in der unglaublichen Vielfalt seiner Schöpfung vorführte. Die regelmäßigen Ausflüge in die Natur lehrten die Schüler, die Dinge zu beobachten. Für Commerson war dies der Beginn einer Leidenschaft, die ihn sein Leben lang nicht mehr loslassen sollte und schließlich dazu führte, dass er das Studium der Rechte nicht nur vernachlässigte, sondern völlig aufgab. Mit Begeisterung untersuchte und sammelte Commerson fortan Pflanzen und Tiere und erkannte durch die fortgesetzte Beobachtung der verschiedenen Arten deren besondere Beschaffenheit und auch, dass ein System hinter allem zu stecken schien. Gerade in solchen Gesetzmäßigkeiten offenbarte sich ihm, wie es sein Lehrer vorhergesehen hatte, das Wirken und Wollen einer göttlichen Macht. Fortan widmete sich Philibert de Commerson mit Leidenschaft der Botanik. Als sein Vater von dieser unglücklichen Wendung seiner eigenen Pläne für seinen Sohn erfuhr, sperrte er ihm das Geld und wollte ihn so zwingen, zu den ursprünglichen Studien zurückzukehren. Schließlich einigte man sich darauf, dass ein Medizinstudium ein akzeptabler Kompromiss für beide Seiten darstellen würde.

Es folgte ein Studium an der Universität von Montpellier, wo Commerson neben den medizinischen auch seine botanischen Studien im Garten der Universität weiter kultivieren konnte. Und schließlich, nach Abschluss der Studien, dachte Commerson keinen Augenblick daran, den ehrenwerten Beruf des Arztes auszuüben und reizte seinen Vater mit neuerlichen Ausflügen in die Natur, die ihn in die entlegensten Gegenden Frankreichs, in die Pyrenäen, aber auch in die Schweiz führten, wo er unter anderem freundschaftliche Beziehungen zu Voltaire unterhielt. 1755 dann erhielt Commerson den ehrenvollen Auftrag, zur Vollendung der Systema naturae des schwedischen Wissenschaftlers Linneus beizutragen. Der schwedische Forscher, unterstützt von seiner Königin, Louisa Ulrika, suchte nach Helfern und Mitarbeitern, die die Komplettierung seines Katalogs aller bekannten Spezies an Tieren und Pflanzen vorantrieben.

Obwohl dies lediglich eine zeitweilige Beschäftigung blieb, ohne große finanzielle Vergütung, hatte sie doch sehr zu seiner allgemeinen Bekanntheit und Wertschätzung unter den französischen Naturwissenschaftlern beigetragen und Bernard de Jussieu, der Direktor des Jardin du Roi in Paris, hatte ihn sogar eingeladen, für ihn zu arbeiten. Nach wie vor jedoch war Commerson vom Geld seines Vaters abhängig, und der väterliche Druck führte schließlich doch noch dazu, dass er als Arzt tätig wurde. Was ihn nicht davon abhielt, weiterhin teilweise recht gefährliche Ausflüge in Gegenden zu machen, in denen er besondere Pflanzen vermutete. Nicht selten fügte er sich bei gewagten Situationen Verletzungen zu, stürzte auch schon mal von kleineren Felsen ab. Besonders unangenehm war der Biss eines rasenden Hundes, den man für tollwütig hielt, was er aber offensichtlich nicht war. Mönche pflegten ihn, aber er musste über drei Monate das Bett hüten. Für den Rest seines Lebens sollte Commerson an dieser gemeinen Wunde leiden.

Aber schließlich, nach vielem Hin und Her hatte er mit seiner Heirat die endgültige Lösung für alle Probleme gefunden. Antoinette war nicht mehr ganz jung, genauer gesagt war sie sieben Jahre älter als er. Aber sie war von angenehmem Äußeren, hatte eine liebenswürdige Art des Umgangs und vor allem schätzte sie seine Interessen, ja sie begleitete ihn vielfach auf seinen Ausflügen in die Natur. Und nicht zuletzt war sie sehr vermögend. Commerson konnte sein Glück zunächst gar nicht fassen, als er begriff, dass sie noch frei und zu haben war. Hatte wirklich niemand vor ihm versucht, Antoinette zu erobern? Sie war allerdings sehr selbstbewusst und hatte einen scharfen Verstand. Er schmeichelte sich, dass vielleicht hierin ihre Ablehnung möglicher Kandidaten gelegen haben mochte. Ihr fortgeschrittenes Alter war für Commerson kein Nachteil. Er hatte gehofft, dass hierdurch eine Gefahr abgewendet wäre, die er allgemein in einer Heirat gefürchtet hatte. Darin allerdings sah er sich getäuscht. Antoinette war guter Hoffnung.

Während Philibert de Commerson seinen Gedanken nachhing, fiel sein Blick auf eine weibliche Gestalt, die in einiger Entfernung ihren Blick auf den Boden geheftet, unbekümmert durch die Felder streifte. Es war das zweite Mal, dass er diese Person erblickte. Sie sammelte offensichtlich Kräuter. Auf jeden Fall sah sie sich die Blumen und Pflanzen genau an, manche schnitt sie ab und tat sie in einen Korb. Aber er hatte auch schon beobachtet, dass sie die Pflanzen mit der Wurzel ausgrub. Er dachte, dass sie eine dieser Kräuterfrauen sein müsse, die ein gewisses Verständnis von der Wirkung bestimmter Wurzeln, Blätter und Blüten besaßen. In Toulon-sur-Arroux kannte er eine alte Hexe, die er manchmal zu Rate zog, wenn er bestimmte Mittel benötigte. Nein, eine Hexe war sie natürlich nicht. Sie war sogar recht freundlich und zuverlässig. Aber eben alt und ziemlich arm. Sie hatte ihm immer helfen können. Merkwürdig war, dass sie keine Ahnung von dem Aufbau der Pflanzen hatte, deren Wirkungen sie so gut kannte. Es war auch unmöglich, irgendeine sinnvolle Aussage über Zusammenhänge von ihr zu bekommen. Er hatte ihr bei Gelegenheit ein Blatt aus seinem Herbarium gezeigt. Es war eine Brennnessel gewesen, ein sehr gewöhnliches Kraut, und er wusste, dass sie daraus einen Sud kochte und dass sie einen Tee daraus für bestimmte Krankheiten, die die Blase oder Nieren angingen, empfahl. Aber diese Hexe – wenn er sich recht erinnerte, hieß sie die alte Marie – hatte mit seinen Abbildungen nicht viel anfangen können. Und natürlich konnte sie weder lesen noch schreiben.

Er sah noch einmal zu der weiblichen Person hin, die ihn gar nicht zu bemerken schien. Sie war jung. Ihre Kleidung war schlicht. Es musste sich um die Tochter eines einfachen Tagelöhners handeln, wie sie hier die Felder der Landesherren bearbeiteten. Wahrscheinlich war sie auf dem besten Weg, eine solche Kräuterhexe zu werden wie die alte Marie. Wenn er ihr noch einmal begegnete, würde er sie ansprechen.

 


Kapitel 7 + 8 | 26.11.2023 | Durch die Hölle und zurück

7.

„Jeanne, bring den Kleinen nach draußen, er ist dabei, meine Pflanzen durcheinander zu bringen.“

Der Kleine, das war François Archambaud, Commersons zweijähriger Sohn. Seine Frau, Antoinette, war ein paar Tage nach seiner Geburt verstorben und hinterließ ihrem Mann ein Haus, das Vermögen und die Verpflichtung, den Jungen groß zu ziehen, ihrer beider Nachkomme und damit letztlich der Garant für Commersons Verfügungsgewalt über all die hinterlassenen Güter.

Commerson hatte seine Frau sehr geschätzt, ihre kurze Ehe war harmonisch verlaufen, voller gegenseitigem Respekt und, ja, einer gewissen Zuneigung. Auch empfand Commerson ein freundliches Gefühl für das kleine Wesen, das unschuldig schuldig war am Tod seiner Mutter. Aber er konnte sich nicht wirklich um das Kind kümmern. Es gab selbstverständlich eine Amme, und das Dienstpersonal versorgte ihn mit allem, was sein Leben weiterhin erträglich machte. Aber nach einer Zeit der angemessenen Trauer wurde es ihm doch lästig, mit allem, was die Angelegenheiten der Haushaltsführung anging, befragt zu werden. Er hatte ja endlich, mit seinem Umzug nach Toulon, die ärztliche Tätigkeit aufgenommen und außerdem verlangten seine botanischen Studien, die weit mehr waren als ein einfaches Hobby, ebenfalls einen großen Teil seiner Zeit. So kam es, dass er zwei Jahre nach der Geburt seines Kindes und dem Tod seiner Frau, im April 1764 Jeanne Baret als Haushälterin in sein Haus holte.

Er hatte die junge Frau, der er mehrfach in den Wiesen zwischen Toulon und La Comelle, dem Ort, aus dem Jeanne stammte, begegnet war, schließlich angesprochen. Sie war in der Tat, wie er schon vermutete, eine jener Frauen, die von der heilenden Wirkung bestimmter Kräuter Kenntnis besaßen und auf deren Hilfe viele Mediziner im Grunde angewiesen waren. Auch die alte Marie hatte ihm ja mehr als einmal mit bestimmten Mittelchen geholfen, wofür er sie jedes Mal auch angemessen entlohnte. Die armen Weiber lebten von dieser Zusammenarbeit. So oft Commerson aber mehr aus diesen Frauen an Wissen herausholen wollte, war er doch jedes Mal gescheitert. Offensichtlich gab es einen Kodex unter ihnen, der sie ihr Wissen für sich behalten ließ. Commerson verstand das. Umso erstaunter war er, als er Jeanne traf – Jeanne Baret, so nannte sie ihm ihren Namen –, dass sie sich nicht nur mit Heilpflanzen auskannte, sondern ein darüberhinausgehendes, allgemeines, tieferes Verständnis an der Pflanzenwelt bekundete. Und dass sie ganz offensichtlich bereits zahlreiche Beobachtungen zu den verschiedenen Arten gemacht hatte, ohne doch die wissenschaftliche Einteilung und Kriterien zu kennen, wie Linnaeus sie vorschrieb. Sie hatten sich wahrhaftig austauschen können. Und während Jeanne entzückt und geschmeichelt über das Interesse dieses vornehmen Herrn an ihrer Person war, reifte in Commerson der Gedanke, diese ungewöhnliche Frau an sich zu binden. Im Haus konnte sie seine Diener überwachen, mit ihnen alle lästigen Notwendigkeiten besprechen, ihm mit einem Wort den Rücken frei halten, und für seine Arbeit würde er endlich eine Art – ja, er musste es wohl so sehen –  Partner bekommen, mit dem er verständiger als mit jedem anderen Menschen seiner Umgebung reden konnte. Das schien unfassbar und von großem Vorteil. Als er ihr seine Herbarien zeigte, begeisterte sie sich sofort dafür und verstand, welcher Nutzen daraus gezogen werden konnte. Sie war gescheit, interessiert und brachte viele Dinge, die er in den letzten Jahren gesammelt hatte, in eine Ordnung, die er ihr vorgab, aber selber aus Gründen einer gewissen lethargischen Veranlagung nicht unbedingt immer beizuhalten im Stande war. Daraus hatte sich eine innige beiderseitige Zuneigung entwickelt.

Dem Hauspersonal war diese Wendung nicht verborgen geblieben. Die Frauen blickten mit Neid auf diese dahergelaufene Person, die sich mit den dämlichen Pflanzen so wichtigtat. Es gab Unordnung und Schmutz durch diese Pflanzen und „Madame“, wie sie Jeanne hinter ihrem Rücken nannten, war sich offensichtlich zu schade, den Dreck, den sie mit dem ewigen Rumhantieren und Umpflanzen und Wässern verursachte, selber weg zu wischen. Das blieb an ihnen hängen. „Madame“ gab stattdessen Anweisungen zur Führung des Haushaltes und zur Vorbereitung des Essens, und dann verzog sie sich in die Stube, um mit Monsieur de Commerson lange Gespräche über das Grünzeug zu führen. Es war unerträglich.

Schließlich munkelte man, dass es sicher nicht bei den Gesprächen bleiben würde. Der Gärtner verzog sein Gesicht, als man diese Vermutung einmal besprach und deutete an, dass diese Person, die er noch nicht einmal für besonders reizvoll halte, neben ihren Heilkräutern wahrscheinlich auch noch andere kenne, die sie dem Herrn zu bestimmten Zwecken verabreiche. Man wisse ja Bescheid über solche schamlosen Weiber.

Jeanne bemühte sich, über die feindliche Stimmung hinweg zu sehen, die Ablehnung, die sie spürte, nicht allzu nah an sich herankommen zu lassen. Aber eines Abends kam es zu einem offenen Konflikt. Man erwartete Commersons Schwager, François Beau, den Pfarrer der schönen romanischen Kirche St. Jean-Baptiste von Toulon, zum Abendessen. Als dieser bemerkte, dass Jeanne zusammen mit ihm und Commerson an einem Tisch sitzen sollte, nahm er Commerson beiseite und sagte ihm rund heraus, dass er das für völlig inakzeptabel halte, dass ihm überhaupt die offensichtlich enge Beziehung, die Commerson zu dieser Hausperson zu unterhalten scheine, ein Rätsel und darüber hinaus äußerst unangenehm sei.

Jeanne musste mit den anderen in der Küche essen, und man überließ es ihr auch, das Essen für die Herren in die Stube zu tragen.

„Hat der Herr Pfarrer dir gezeigt, wo dein Platz ist!“ sagten die Mädchen voller Genugtuung, und Jeanne biss die Zähne zusammen.

Die Situation wurde nicht einfacher, als sich im Frühsommer herausstellte, dass die unschickliche Vertrautheit, die der Pfarrer angeprangert hatte, tatsächlich über die Notwendigkeit häuslicher Verpflichtungen hinausgegangen war. Jeanne Baret war guter Hoffnung.  Nicht nur das Hauspersonal vibrierte vor gemeiner Begeisterung, die gesamte Dorfgemeinschaft empörte sich. Man verlangte, dass der angesehene Arzt diese liederliche Person aus seinem Haushalt entließ, und François Beau forderte dies ebenfalls mit großem Nachdruck.

Nun erwies sich, dass Commerson nicht willens war, sich unter Druck setzen zu lassen, denn er hatte sehr wohl verstanden, dass seine finanzielle Unabhängigkeit ihm tatsächlich die Freiheit gab, die er sich genommen hatte und dass er auch weiterhin so zu leben beabsichtigte, wie es ihn gut dünkte. Er traf Vorkehrungen, die ihn nach außen hin vielleicht als lieblos erscheinen lassen mochten, die ihn aber schützen sollten und damit letztlich auch Jeanne Schutz boten. Er schickte Jeanne in die nächstgelegene Stadt, Digoin, etwa 30 km südlich von Toulon, um dort eine Schwangerschaftsbescheinigung ausstellen zu lassen. Laut einer königlichen Verordnung mussten alle unverheirateten Frauen, die ein Kind erwarteten, eine solche Bescheinigung ausfüllen, in der sie unter Zeugen den Vater des Kindes benennen konnten.

Am 22. August 1764 weigerte sich Jeanne Baret vor dem Notar von Digoin den Vaternamen des Bastards zu nennen. Dies tat sie vor zwei amtlich bestellten Zeugen. Damit konnte niemand Commerson für diese Schwangerschaft verantwortlich machen, auch nicht sein Schwager, François Beau, der ihm nur zu gern am Zeug geflickt hätte.

Jeanne war zum ersten Mal in ihrem Leben allein in einer Kutsche gereist, um diesen schwierigen und demütigenden Auftrag zu erfüllen. Zum ersten Mal auch war sie auf eine für Ihresgleichen unvorstellbar weite Reise gegangen. Sie hatte sich mehr als fünfzig, vielleicht sechzig Kilometer vom Ort ihrer Geburt entfernt. Keiner, den sie aus ihrem Dorf kannte, und auch kaum jemand aus ihrer neuen Heimat Toulon hätte das gewagt. Sie war von Philibert de Commerson auf diese Reise geschickt worden, und obwohl sie eine gewisse Aufgeregtheit verspürte, hatte sie doch Vertrauen in diesen Mann. Ohne dass sie es in diesem Augenblick wissen konnte, gab ihr die Fahrt einen kleinen Vorgeschmack auf das, was noch kommen sollte.

Commerson hatte inzwischen seine Vorbereitungen getroffen. Er nahm Abschied von seinem Schwager und von seinem kleinen Sohn, den er zuversichtlich in der Obhut des Pfarrers ließ, wohl wissend, dass dieser sich seiner annehmen und ihn hüten würde wie seinen Augapfel, denn der Kleine war sozusagen das Faustpfand für das schwesterliche Erbe, das ihm eines Tages zustehen würde.

Es war ein frostiger Abschied. Zwar gab es nicht viel dagegen einzuwenden, dass Commerson seine wissenschaftliche Laufbahn als Botaniker in Paris verfolgen wollte, wo er auf eine bedeutendere Karriere hoffen konnte, als sie ihm im beschaulichen Toulon je beschieden sein könnte. Es war auch offensichtlich, dass ein zweijähriger Knabe dabei hinderlich sein würde, und der Junge war im Umfeld seines Paten und des elterlichen Erbes sicher bestens aufgehoben. Aber dass er diese Person, statt sie auf die Straße zu werfen, mit nach Paris nehmen würde, war mehr als der christliche Schwager ertragen wollte.

Als Jeanne aus Digoin zurückkam, brachen sie auf. Jeanne war 24 Jahre alt, Commerson 36, als sie die Kutsche bestiegen, die sie nach Paris bringen würde. So waren sie auf dem Weg, zuerst in die Welt einer großen Stadt und dann in die unermesslichen Weiten der gesamten Welt.

 

8.

Paris, Rue du Boulanger. Jeanne konnte es nicht fassen. Commerson zog in eine wunderbare Wohnung mit beinahe so vielen Zimmern wie in dem schönen Haus in Toulon. Es war eine unglaubliche Erleichterung nach dieser endlosen, beschwerlichen Fahrt. Mehr als einmal wäre Jeanne am liebsten umgekehrt oder an Ort und Stelle ausgestiegen, um diesem unerträglichen Gerüttel ein Ende zu bereiten. Auch hatte sie Sorge, dem Kind möge etwas zustoßen. Schlecht hatte sie sich gefühlt, elend, nicht nur körperlich. Da war diese Ungewissheit, auf welches Abenteuer sie sich eigentlich einließ. In Toulon hatte sie sich im Grunde sicher gefühlt, trotz der nicht gerade angenehmen Verhältnisse. So weit weg war das nicht von ihrem Zuhause, von La Comelle. Sie hätte immer zurückgehen können, zu ihren Eltern. Aber jetzt! Paris, die Hauptstadt von Frankreich! Der König selbst sollte dort leben oder doch in der Nähe, im Schloss von Versailles. Jeanne hatte keine Vorstellung davon, weder von der Stadt noch von dem Schloss oder auch vom König. Es machte ihr Angst. Wohin führte sie dieser Mann?

Commerson hatte sich allerdings während der zwei Tage dauernden Fahrt rührend um sie gekümmert. Hatte versucht, ihr die Angst zu nehmen und ihr versichert, wie schon viele Male vor der Abfahrt, dass in Paris alles besser würde, dass sie sich dort wohlfühlen würde, in einer schönen Wohnung, in einer freien Umgebung, unter Menschen, die sie akzeptieren, die nicht auf sie herab sehen würden. Wieder hatte sie sich gezwungen, ihm zu vertrauen. Und auch diesmal hatte er Recht behalten.

Sie brauchte nicht lange, um sich einzugewöhnen. Die neuen Lebensumstände waren überwältigend. Niemals hatte sie so vornehm gewohnt. Insgeheim wünschte sie sich, ihre Mutter könne sehen, wie weit sie es gebracht hatte, wie sehr sich ihr Leben seit dem Zusammentreffen mit Monsieur de Commerson verbessert hatte. Natürlich wusste sie auch, dass es manches gab, was ihre Mutter nicht gutheißen würde. Sicher würde sie Jeanne vorwerfen, sich gegen ihren Glauben gewendet, gegen alle guten Sitten verstoßen zu haben. Doch das hatte sie nicht. Es stimmte wohl, dass Commerson sie nicht geheiratet hatte. Aber er war ein freier Mann. Sie hatte sich nicht auf ein Verhältnis eingelassen, bei dem einer lebenden Ehefrau Unrecht getan wurde. Und sie liebte Philibert. War das denn ein Unrecht? Er respektierte sie auf eine Weise, wie ihr das niemals vorher geschehen war. Er sprach zu ihr wie zu Seinesgleichen. Er diskutierte seine Arbeit mit ihr. Er fragte sie sogar nach ihrer Meinung! Er holte ihren Rat ein, er sagte ihr deutlich mit Worten, dass er ihre Ansichten für klug hielt. Nein, es konnte nicht falsch sein, diesen Mann zu lieben. Sie lernte von ihm, jeden Tag. Über Pflanzen und Tiere natürlich, ihre gemeinsame Leidenschaft, aber auch über so viele andere Dinge, von denen sie nichts verstand. Und sie nahm auf, was er sie lehrte mit wachem Interesse und ihrer nie endenden Neugier.

Es gab ihr eine große Genugtuung, dass dies Geben nicht einseitig blieb, denn auch sie hatte Kenntnisse, die Commerson bisher verborgen geblieben waren. Voller Stolz hatte sie für ihn ein Heft angelegt, in dem sie aufgeschrieben hatte, was sie wusste. Er hatte diese Liste, diese „Tables des plantes médicamenteuses“ mit großem Entzücken angenommen und sorgfältig in seine ihm teuersten Unterlagen eingefügt. (Liste von Heilpflanzen. Das 32 Seiten starke Heft befindet sich unter dem Nachlass von Philibert de Commerson im Musée national d’histoire naturelle in Paris (Ridley, Ausgabe von 2011, S. 33 f. Dort auch die scharfsinnige Zuordnung der Liste an Jeanne Baret. Vgl. außerdem Abb., ibid., zwischen S. 180 und 181).  Sie hatte dabei gegen einen Ehrenkodex verstoßen, denn immer war das Wissen über die Heilkräuter von all den weisen Frauen nur mündlich weitergegeben worden. Was aber auch daran liegen mochte, dachte Jeanne Baret voll geheimen Stolzes, dass kaum eine von diesen Frauen lesen und schreiben konnte. Jedenfalls hatte Monsieur de Commerson die Bedeutung ihres Geschenks sehr wohl verstanden und hielt es in hohen Ehren.

Nein, sie hätte es ihrer Mutter ins Gesicht sagen können. Sie empfand keine Scham, diesen Mann zu lieben, und sie fühlte keine Schande darüber, dass sein Kind in ihrem Leib heranwuchs.

Auch hatte sie ihren Glauben nicht verleugnet. Als die Rede auf Paris und das neue Leben gekommen war und Philibert ihr riet, mit allem anderen auch ihren Namen hinter sich zu lassen, hatte sie nach einiger Überlegung eingewilligt, als Jeanne de Bonnefoy – vom guten Glauben – mit ihm nach Paris zu gehen. Und das war ein deutliches Zeichen. Sie hatte dem Glauben ihrer Mutter nicht abgeschworen, und sie fühlte sich nicht schuldig vor ihrem Gott.

Und nun Paris, die Straßen voller Menschen, alles war neu und interessant, auch ein bisschen furchteinflößend. Aber sie hatte ein junges Mädchen, Berthe, und einen jungen Burschen, Henri, die ihr bei der Haushaltsführung halfen. Anders als in Toulon, wo sie im Grinsen der Männer und den hochnäsigen Blicken der Frauen im Hause von Monsieur de Commerson die ganze Verachtung für ihre Person zu spüren bekam, begegnete man ihr hier mit Freundlichkeit. Es machte ihr Spaß, mit Berthe durch die Straßen auf die Märkte zu gehen. Sie lernte von ihr, mit den Händlern zu feilschen, und als Kind des Landes konnte sie ihrerseits Berthe auf die Qualität oder Mängel der Ware hinweisen. Niemand schien Anstoß daran zu nehmen, dass sie nicht verheiratet und doch schwanger war und dass sie ganz offensichtlich mit dem vornehmen Herrn de Commerson zusammenlebte. Ihre anfängliche bange Zurückhaltung wich einer befreiten Selbstverständlichkeit. Und da Philibert seine Kontakte zu den bedeutenden Naturwissenschaftlern in Paris und allen voran mit dem Direktor des Jardin du Roi, Monsieur Jussieu, wieder aufgenommen hatte und glücklich seiner Leidenschaft, dem Botanisieren, nachgehen konnte, waren die ersten Monate in der neuen Welt von großer Freude und einem glücklichen Zusammensein erfüllt. Commerson nahm sie sogar mit, um ihr die Besonderheiten der Stadt zu zeigen, führte sie gar ins Theater. Jeanne fühlte sich wie im Paradies.

Und in der ganzen Zeit bemühte sie sich ständig darum, die Pflanzen, die Commerson mitbrachte, zu pflegen, manche zu trocknen und die immer weiterwachsende Anzahl in einem genauen System zu ordnen. Denn auch das hatte Commerson sie gelehrt, die Klassifizierung nach Linnaeus, die Einordnung nach Gattung und Art einer Pflanze und deren spezielle Besonderheiten. Die lateinischen Namen blieben ihr fremd, aber sie begriff sehr wohl und hatte es auch vor Commersons Anweisungen gewusst, dass Ähnlichkeiten in Art der Blüte, der Blätter, der Stängel und Wurzeln auf Verwandtschaften hinwiesen und auch auf Wirkungen von Pflanzen, wenn sich solche erkennen ließen, heilsame wie todbringende.

Dann kam der Winter, und der Geburtstermin rückte näher. Sie freute sich auf das Kind. Es war eine weitere Gemeinsamkeit, die sie mit Philibert verbinden würde. Sie hatte wohl zur Kenntnis genommen, dass er ihren Zustand weitgehend zu ignorieren schien. Er fragte nie, wie es ihr ging, aber Jeanne glaubte, dass dies aus Höflichkeit geschah oder weil so ein Zustand bei einer Frau ja nichts Besonderes war. Auch zu Hause machte niemand viel Aufhebens von einer schwangeren Frau. Lediglich die Frauen untereinander sprachen darüber. Aber die Männer ignorierten das meistens. Und hier war es eben genauso. Mit Berthe konnte sie darüber sprechen. Und Berthe war wirklich rührend und hilfsbereit, wenn Jeanne eine Arbeit zu schwer wurde, rücksichtsvoll wie eine jüngere Schwester irgendwie. Und selbst Henri, obwohl er selbstverständlich keinerlei Bemerkungen über ihren Zustand machte, ließ durch kleine Gesten wissen, dass er verstand, wie es ihr gerade ging.

Im Dezember 1764 kam der kleine Jean-Pierre Baret zur Welt. Die Geburt verlief problemlos, und Jeanne konnte nicht genug über dieses kleine Wunder in ihren Armen staunen. Zunächst war sie gänzlich absorbiert in der Pflege ihres Sohnes, und auch Berthe kümmerte sich voller Fürsorge um den Neuankömmling. Es dauerte eine gewisse Zeit, bis Jeanne merkte, dass sich die Stimmung im Haus veränderte.

Commerson war nicht begeistert. Die von Pflanzen überfüllte Wohnung eignete sich nicht für die Aufzucht eines Kindes. Nicht von ungefähr hatte Commerson den kleinen Archambaud in Toulon zurückgelassen. Es war nicht so, dass er grundsätzlich etwas gegen Kinder hatte, aber er konnte auch nicht wirklich viel mit ihnen anfangen. Jedenfalls nicht, so lange sie so klein waren, das hatte er zur Genüge mit Archambaud gesehen. Waren sie aber noch kleiner, wie jetzt der neugeborene Jean-Pierre, dann störten sie regelrecht. Sie brachten durch ihr durchdringendes Geschrei und die Notwendigkeit, ständig versorgt werden zu müssen, eine große Unruhe in Commersons Umfeld. Und sie lenkten Jeannes Aufmerksamkeit von den wichtigeren Dingen in seinem Leben ab. Commerson wurde nervös, ungeduldig, schließlich äußerst gereizt, und im Januar hielt er es nicht mehr aus. Er bat Jeanne, den Säugling weg zu geben. Sie war wie betäubt, konnte nicht glauben, dass er es ernst meinte. Und dann brachte sie ihr Kind in ein Pariser Findelhaus, wo man ihn einer Pflegemutter anvertraute.

Grundsätzlich waren Findelhäuser eine gute Einrichtung, hatten sie doch geholfen, die Unsitte abzustellen, bei der verzweifelte Mütter ihre Kinder einfach bei Wind und Wetter auf der Straße ablegten, wo sie vielfach erst gefunden wurden, wenn sie bereits gestorben waren. Vor allem im Winter ging das bei den tiefen Nachttemperaturen nur allzu schnell. Die Findelhäuser garantierten zunächst das Überleben der Unglücklichen, denn vielfach wurden sie von Frauen aufgenommen, denen eigene Kinder verwehrt blieben, oder solchen, die für ein geringes Entgelt sich um die Waisen kümmerten. Man ließ Jeanne wissen, dass sie das Kind jederzeit zurückholen könne. Man versuchte, sie zu trösten. Wenn sie im Augenblick keine Möglichkeit habe, sich um den Jungen zu kümmern – denn man begriff natürlich, dass es sich hier um eine unverheiratete Mutter handelte – so könnten sich doch ihre Verhältnisse eines Tages ändern. Das geschah manchmal. Und dann würde alles gut. Ja, versuchte Jeanne sich einzureden, es ist eben im Augenblick wirklich nicht einfach. All die Pflanzen in der Wohnung, die Philibert so wichtig waren. Sie war mit dem Kleinen ja kaum noch dazu gekommen, alles in Ordnung zu halten. Es würde sicher eines Tages alles anders werden. Sie unterdrückte ihre Traurigkeit. Viel lag ihr daran, Philibert nicht zu betrüben.

Wenig später fand sie in Commersons Unterlagen einen Brief von François Beau, in dem dieser den Schwager auf die Geburt des Bastards ansprach und anfragte, ob etwa eine neuerliche Hochzeit anstünde. Der Brief lag offen da. Commerson hatte sich, wie bei den vornehmen Leuten üblich, keinerlei Gedanken darüber gemacht, ob vielleicht ein Unbefugter seine Post lesen könne, denn die Dienerschaft konnte im Allgemeinen nicht lesen. Jeannes Blick war zufällig auf das Schreiben gefallen. Das Wort Bastard hatte ihre Aufmerksamkeit geweckt. Also ließ der Schwager sie nicht aus den Augen, hatte womöglich einen Spitzel hier in Paris. Es traf sie wie ein Schlag. Paris gab ihr das Gefühl, durch einen unermesslichen Raum und ebensolche Zeit von ihrer Heimat entfernt zu sein. Sie hatte sich in ihrem neuen Leben weit weg von der kritischen Beurteilung durch ihre alte Welt geradezu unantastbar, unverwundbar gefühlt. Nun musste sie erkennen, dass sie dem allen nicht wirklich entfliehen konnte.

Philibert sprach nicht mit ihr über dieses Schreiben. Zu gern hätte sie seine Antwort gewusst. Wenn sie jetzt mit Berthe dasaß und Wäsche flickte, was früher ein munteres, geschwätziges Unterfangen war, blieb sie oft still und nachdenklich. Berthe respektierte ihre Zurückhaltung, die sie darauf zurückführte, dass Jeannes Herz voller Traurigkeit war, weil sie ihr Kind weggegeben hatte. Aber es war nicht allein die Trauer um den kleinen Jean-Pierre, die Jeanne umtrieb. Zum ersten Mal machte sie sich Gedanken um die Zukunft. Sie fühlte mehr als sie es wusste, dass Philibert sie nicht heiraten würde. Es gab andere Männer in seinem Umfeld, die ein ähnliches Leben führten, unverheiratet, und das hieß letztlich ohne Verantwortung zu übernehmen, aber doch die angenehme Gegenwart einer Frau genießend. Frauen, die sich darauf einließen, waren nicht von Stand, sondern wie sie, Jeanne, die nichts zu verlieren, aber viel zu gewinnen hatte. Und war das etwa nichts, eine schöne, große Wohnung mit vornehmen Möbeln, wie ihre Mutter sie niemals auch nur zu Gesicht bekommen hatte, ein Schrank voller Wäsche und Kleider. Niemals Hunger leiden. Ein Dach über dem Kopf, durch das die Kälte auch im Winter und bei Regen nicht durchsickerte. Aber geheiratet wurde keine von diesen Frauen. Nicht einmal jener berühmte Mann, von dem man so viel Aufhebens machte, den sie alle zu bewundern schienen, dieser Rousseau, hatte seine Maitresse geheiratet. Und dabei hatte sie ihm fünf Kinder geboren. Fünf. Und alle hatte sie weggegeben. Hatten die Männer kein Gefühl?

Die Zeiten besserten sich. Nachdem man den Stein des Anstoßes, den kleinen Jean-Pierre, außer Haus gebracht hatte, wurde Commerson wieder liebenswürdig und zugewandt. Jeanne schöpfte Hoffnung. Dann kam im Sommer die Nachricht vom Tode des Jungen, und Jeanne ließ sich für einen Augenblick gehen, weinte sich in der Küche bei ihren beiden Helfern aus. Dabei braute sich ein noch schlimmeres Unheil über ihrem Kopf zusammen. Denn zur selben Zeit, als sie die Nachricht vom Tod ihres Sohnes erhielt, wurde Commerson so schwer krank, dass Jeanne auch um sein Leben bangen musste. Das Fieber, die Schmerzen in der Brust, die unglaubliche Kurzatmigkeit ließen sie befürchten, er könne sich Tuberkulose eingefangen haben, was einem sicheren Todesurteil gleichgekommen wäre.

Jeanne war außer sich. Aufopferungsvoll pflegte sie Philibert, sorgte dafür, dass der Haushalt weiterlief, und kümmerte sich weiterhin um die Pflanzen, die ebenfalls versorgt werden mussten. Jetzt plötzlich bekamen die Ängste um ihre Zukunft noch eine ganz andere Dimension. Sollte Philibert wirklich sterben, stünde sie absolut mittellos da. Es war ihr bewusst, dass Commersons Schwager sie einfach aus dem Haus treiben konnte mit nichts als ihren Kleidern auf dem Leib. Da sie nicht verheiratet war, also lediglich als Haushälterin fungierte, gehörte ihr nichts. Und so, wie sie François Beau erlebt hatte, würde er genau das tun. Sie konnte nicht einmal mehr ihren Sohn ins Feld führen, der ja auch Commersons Fleisch und Blut war. Nicht nur war der arme Jean-Pierre verstorben, in der Schwangerschaftsbescheinigung von Digoin hatte sie ja beteuert, dass der Vater des Kindes unbekannt sei. Genau das hätte ihr François Beau mit Freuden unter die Nase gerieben.

Sie bekam Angst. Was würde aus ihr werden? Würde sie ins Haus ihrer Eltern zurückkehren müssen, um ihr Dasein als Kräuterfrau wieder aufzunehmen?

Schlimme Wochen folgten. Manchmal glaubte Jeanne, den Mut zu verlieren. Immer, wenn sie sich vor Augen hielt, dass ihr Sohn bereits tot war und Philibert, ihr einziger Halt, ihr Schutz, selber so hilflos krank danieder lag und möglicherweise ebenfalls sterben würde, wollte ihr Herz zerspringen vor Angst und Kummer.

Nach und nach besserte sich aber Philiberts Gesundheitszustand. Jeanne begann, aufzuatmen. Es sollte keineswegs die letzte Prüfung sein, die ihr auferlegt wurde.