Hier erscheinen alle Kapitel des Fortsetzungsromans "CLONE CITY" von Brigitte Tietzel


1

„Sie leben nur einmal“, sagte er, und in seinem Blick lag ein Funken von Wahnsinn, der mich erschreckte. „Ich habe mein Leben doppelt leben müssen. Aber in Wirklichkeit habe ich es gar nicht gelebt. Verstehen Sie?“ stieß er hervor. „Weil er nicht ich war. Ich war nicht er. Ich war ich! Oh Gott, nein, Sie können nicht verstehen!“ Seine Augen verengten sich. Sein Körper wirkte wie durch eine unsichtbare Kraft zusammengezogen, so als schrumpfe die gesamte Haut und schien doch gleichzeitig platzen, sich befreien zu wollen. Ein Kampf tobte in diesem Menschen, wie ich mir einen vom Teufel Besessenen im Mittelalter vorstellte. Vielleicht war der, der vor mir saß, vom Teufel besessen.

Mich schauderte. Kälte durchdrang mich. Es lag an dem Raum, ohne Zweifel, denn draußen war warmer Sommer und heller Sonnenschein. Aber hier, an diesem Ort, schien alles kalt. Oder cool? Cooles Design nannten sie das: ACDC – a cool design café. Neudeutsch, wie so vieles jetzt. Ich hatte davon gehört, auch wenn ich niemals zuvor hier gewesen war. Er hatte den Treffpunkt vorgeschlagen. Mir war das natürlich recht. Ich hätte ihn überall getroffen. Selbst in der Hölle.

Vielleicht war das die Hölle? Irgend so ein Schriftsteller, der um die Mitte des letzten Jahrhunderts gelebt hatte und den sie, glaube ich, Sartre nannten, hatte damals geschrieben: „Die Hölle, das sind die anderen.“ Meine Großmutter hatte noch davon gehört und fand es bedeutend. Meine Eltern und wir hatten uns längst daran gewöhnt. Ja, was denn sonst? Natürlich waren die anderen unsere Hölle, unsere ganz gewöhnliche Hölle. Man lernte, den schlimmsten Auswirkungen aus dem Weg zu gehen.

Aber das hier war neu. Der da vor mir behauptete, die anderen, das sei er selbst, und er sei sich selbst die schlimmste Hölle, sein ärgster Feind. Natürlich nicht in unserem altmodischen Sinn: wir stehen uns oft selbst am meisten im Weg, diese Tour. Nein, er meinte schon die anderen. Die anderen Ichs. Die anderen Ichs, die man nicht loswurde, niemals. Die einem zeigten, wie man es machen konnte, auch machen konnte, so dass man in ständigem Konflikt mit sich selber lag.

Was unsere Großeltern Identitätskrise nannten, war harmloser Kinderkram dagegen. Sie hatten gar keine Ahnung wovon sie sprachen. Natürlich nicht. Weil es solche wie den hier noch gar nicht so lange gibt. Ein paar Rinder und Schafe und Affen von der Sorte hatten sie damals, in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts, als meine Großeltern noch jung waren. Aber Versuche mit Menschen waren strikt verboten. Ganz offiziell ist das natürlich auch heute nicht legal. Obwohl jeder weiß, dass die Regierungen sie schon seit langer Zeit einsetzen. Kontrolliert natürlich. Hauptsächlich für militärische Zwecke. Für irgendwelche geheimen Aufträge. Wenn sie abgehen, werden sie aufgefüllt.

Man nennt es abgehen. Es ist nicht ganz sicher, ob solche Abgänge durch natürlichen Verschleiß erfolgen, so wie bei uns. Also ob sie sterben – und auf welche Weise, ob „natürlich“, oder ob sie getötet werden, wenn man sie nicht mehr braucht, oder ob sie einfach nur größeren Gefahren ausgesetzt sind und deswegen schneller verschleißen, also sterben. Ich kann es ja ruhig so nennen. Keiner weiß genau, wie sie sterben, wann und warum. Ob sie genauso sind wie wir, in dieser Beziehung.

Und niemand weiß, was sie empfinden, ob sie überhaupt etwas empfinden. Jedenfalls werden sie ersetzt. Aufgefüllt durch ein anderes Gleiches. Man weiß auch nicht, ob das Gleiche die Empfindung des anderen, also desselben anderen, kennt. Es ist alles geheim. Und faszinierend. Ich sterbe vor Verlangen, es zu erfahren. Deswegen sitze ich hier. Man weiß, dass einige entwischen konnten. Und auch, dass manche außerhalb des Schutzbereichs der Regierung ausgesetzt wurden. Sozusagen bewusst unter uns gemischt wurden. Von Forschern, die wissen wollten, wie sie sich in die Gesellschaft der Normalen, der Einzigartigen, zu denen ich gehöre, integrieren würden. Was sie tun würden, wenn sie ohne besonderen Auftrag leben müssten, auf sich gestellt. Aber manche scheinen auch tatsächlich ganz entwischt zu sein. Es heißt, dass man sie kaum erkennen könne, weil sie eigentlich wie normale Zwillinge wirken. Und ehrlich gesagt, bin ich auch noch keinem begegnet.

Vor diesem.

So viele Zwillinge gibt es auf der Welt ja nicht mehr. Die wenigen, die man mal gesehen hat, verblüffen zwar zunächst durch ihre Gleichartigkeit. Aber andererseits erkennt man meistens auch die Unterschiede. Zum Beispiel die Beine. Bei den Frauen sind es oft die Beine, die bei der einen dicker, bei der anderen dünner sind. Bei den Männern weiß ich es nicht so genau. Ich habe mich nie dafür interessiert.

Mit den Klonen ist es anders. Sie sind identisch, wie man weiß. Gänzlich identisch. Sie werden geformt und manipuliert, und sie reagieren völlig gleich. Faszinierend. Sie sollen sehr vielseitig verwendbar sein. Es gibt so viele Gerüchte, man wüsste gern mehr! Es soll vorgekommen sein, dass man Personen, die Nachforschungen anstellten, wegen Hochverrats hingerichtet hat. Seit es die Todesstrafe wieder gibt.

Ich weiß, dass ich mich auf sehr gefährlichem Terrain bewege, und vielleicht ist es ja auch das, was mich frösteln lässt. Denn natürlich habe ich Angst vor der Begegnung. Klone sind unberechenbar, heißt es. Wer weiß, ob er mich nicht in eine Falle locken will. Andererseits, warum sollte er das wollen. Wenn ich ihn so vor mir sehe, dieses zitternde, sich windende Wesen, das den Anschein erweckt, als wolle es vor sich selber fliehen, kann ich nicht glauben, dass es mir schaden will. Ich habe Mitleid.

Und doch ist auch Vorsicht geboten. Man kann der Regierung nicht trauen, das ist wahr, aber kann man deswegen schon den Klonen trauen? Nur weil die Regierung vor ihnen warnt? Ich weiß es nicht. Ich fühle mich mulmig. Ja, ich gebe zu, dass ich Angst habe. Schließlich steht nichts Geringeres als mein Leben auf dem Spiel. Denn wenn es rauskommt, dass ich mich mit ihm getroffen habe – wer soll mich dann noch schützen?

Es ist auch gar nicht so recht nachvollziehbar, warum er sich mit mir treffen wollte, warum er ausgerechnet mich ausgesucht hat. Natürlich, ich bin Journalist, aber ich kann doch nicht über ihn schreiben. Hofft er, dass ich mich über die Gebote der Regierung hinwegsetze, dass ich gegen die ausdrücklichen Belange meiner Zeitung handele? Aber das kann ich ja gar nicht. Meine Artikel würden niemals abgedruckt! Selbst wenn es mir gelingen sollte, eine Nachricht über ihn an unserer Zensur vorbei zu schmuggeln, was in hohem Maße unwahrscheinlich ist, so würde der Scanner sich weigern, so etwas zu drucken. Überhaupt keine Frage. Und sollte der Scanner schlafen, also aus irgendwelchen Gründen seine Aufsichtspflicht vernachlässigen, was ihn unweigerlich seinen Job und in diesem Fall sicher sein Leben kosten würde – wenn alle diese extrem unwahrscheinlichen Umstände einträfen und ein Artikel über mein Zusammentreffen mit dem Klon erschiene, und wenn dann tatsächlich ein Exemplar dieser Ausgabe unter die Menschen käme – was wäre bewirkt? Würde man mir glauben? Und wenn man mir glauben würde, welches wären die Konsequenzen? Was könnten die Konsequenzen sein? Nun, vielleicht wäre das abhängig von dem, was ich schriebe.

„Nein“, sagte er wieder, „Sie können nicht verstehen, was ich empfunden habe. Und doch“, fuhr er nach einer kleinen Pause fort, „haben Sie niemals gedacht – was wäre gewesen, wenn? Nun?“ Wieder dieser lauernde Blick. „Haben Sie das nicht manchmal im Leben gedacht?!“

Was wäre gewesen, wenn? Gott – natürlich habe ich das schon einmal überlegt. Was wäre gewesen, wenn ich nicht Journalist geworden wäre?

Ich hätte malen können. Ich glaube, malen ist das einzige, was ich wirklich gut kann. Ich meine nicht, malen, wie es heute üblich ist. Rote und bunte oder weiße Streifen und Einheiten neben einander setzen. Diese hyper-abstrakte Malkultur, wie sie von der Regierung gefördert wird. Auch farbige, zerrissene Flächen werden hochgeschätzt, wobei vor allem die Art des Zerreißens von Fläche jetzt sehr im Gespräch ist. Ich glaube nicht, dass ich das gekonnt hätte. Die Farben, die man jetzt vorschreibt, sind mir ganz und gar zuwider, die grellen Kombinationen, die man favorisiert, weil sie Zeichen für Lebensfreude und Dynamik sind.

Ich könnte dagegen meine Großmutter zeichnen. Sie hatte ein ganz liebes Gesicht. Ich weiß, dass „lieb“ kein schätzenswertes Wort mehr ist. Aber ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Und es stammt ja auch aus einer längst vergangenen Zeit. Ihr Gesicht ist mir faltig in Erinnerung. Gar nicht glattgezogen, wie das meiner Mutter.  Meine Mutter starb im letzten Jahr an Verwachsungen. Früher, glaube ich, zu Zeiten meiner Großmutter, nannte man es noch Krebs. Aber das ist heute ganz unpopulär. Man nennt es nicht mehr so. Eine Zeitlang nannte man es spontanes Wachstum, dann Hypertrophie, heute Verwachsungen.

Sie war ganz glatt, meine Mutter, man hatte ihr die Haut mehrmals gespannt und den ganzen Körper gerichtet. Ab einem gewissen Alter ist das heute bei Frauen sehr üblich. Mehr noch als bei Männern, die natürlich ebenfalls auf jugendliches Aussehen achten. Mein Vater ist früh umgekommen beim Drachenfliegen. Aber die Männer aus dieser Generation sehen kaum älter aus als wir, weil sie sich natürlich auch glätten lassen. Ich brauche das noch nicht, und ich habe auch eine gewisse Scheu davor. Ich muss immer an meine Großmutter denken, und wie wundervoll entspannt ihr Gesicht ausgesehen hat, trotz der Falten.

Falten sind heute völlig out. Kein Angestellter in unserer Zeitung, zum Beispiel, kann sich Falten leisten. Ich muss mich selbstverständlich auch richten lassen, wenn es so weit ist. Aber manchmal wünsche ich, ich könnte alles so laufen lassen, wie bei meiner Großmutter.

Ich darf nicht so viel von meiner Großmutter erzählen. Schon gar nicht, dass ich sie so liebte. Das ist völlig passé. Man soll sich überhaupt nicht mit seinen Großeltern identifizieren. Man gerät in Verdacht der Sabotage. Und es ist ja auch völlig richtig. Unsere Welt darf nicht rückwärtsgewandt sein. Ganz ausgeschlossen. Wir müssen auf dem Weltmarkt konkurrieren können. Großmütter sind lächerlich altmodisch. Sie bedeutet mir wahrscheinlich auch gar nicht so viel. Es ist nur – ich denke eben oft an sie. Sie stammt noch aus einer so anderen Zeit. Ich weiß, dass ich das eigentlich nicht sollte, mich daran erinnern. Manchmal tue ich es eben.

Ich kann mir nichts anderes vorstellen als Alternative für mein jetziges Leben, nicht wirklich jedenfalls. Ich kann schreiben, also schreibe ich – im Auftrag und für die Zeitung, das heißt für die Regierung. Was wäre gewesen, wenn ich nicht Journalist geworden wäre? Das weiß ich wirklich nicht. Etwas anderes zu tun hätte gar keinen Sinn gemacht, zum Beispiel malen: meine Großmutter zu malen, das wäre keine Möglichkeit gewesen, meinen Lebensunterhalt zu verdienen.

Aber ich ahne, was er meint, und vielleicht hat er Recht. Schließlich hat mich niemand davon abgehalten, es mit malen zu versuchen. Es liegt wohl an mir, dass ich es nicht wollte. Unsere Regierung ist ungeheuer tolerant. Die toleranteste Regierung, die es überhaupt gibt. Ich hätte eine Alternative ergreifen können. Gar keine Frage. Wir sind frei zu tun und zu lassen, was wir wollen. Natürlich innerhalb gewisser Grenzen. Das ist klar. Manche Dinge sind eben nicht vernünftig. Und warum sollte man sie dann tun. Zum Beispiel: niemand zwingt einen, sich glätten zu lassen. Aber jeder weiß, dass es höchst unvernünftig wäre, es nicht zu tun. Also tut man es. Selbstverständlich. Was wäre, wenn man es nicht täte? Absurder Gedanke. Nein, so betrachtet, ist seine Frage eigentlich doch unsinnig.

 „Hören Sie“, sagte ich deswegen, „ich weiß nicht, was das alles mit mir zu tun hat.“

„Hosenscheißer!“ grunzte er und versank dann in Schweigen, so dass ich schon Angst bekam, ich könnte ihn verärgert haben. Wenn er mich verachtete, würde er vielleicht nichts mehr sagen. Ich beeilte mich also, vorsichtig zuzugeben: „Natürlich gibt es Überlegungen, ob man alles richtig gemacht hat.“

Dann überfällt mich plötzlich so ein komisches Gefühl. Ich hätte es ihm ja gern gesagt, aber woher weiß ich denn, ob er nicht doch eine Falle ist? Eine Falle, die die Regierung mir bereitet?

Die Stelle des stellvertretenden Chefredakteurs ist neulich frei geworden. Er ist beim Tauchen umgekommen, heißt es, auf den Malediven. Ein besonders fähiger Mann, der schon zum wiederholten Mal diesen Urlaub ausnutzen durfte auf der Insel, die der Zeitung gehört. Es gibt viele solcher Orte, die die Regierung aufgekauft hat und den größeren Behörden zur Verfügung stellt für solche Zwecke: Belohnungsurlaube zur Motivierung der fähigen Mitarbeiter. Jedenfalls bin ich im Gespräch für diesen Posten. Noch nicht offiziell. Aber ich habe Gerüchte gehört. Das ist immer die erste Phase. Mit den Gerüchten, die verbreitet werden, checkt man alles ab, die Person, das Umfeld, die Neider. Ist es da nicht wahrscheinlich, wenn ich im Gespräch für so einen wichtigen Posten bin, dass man mich auf Herz und Nieren prüft?

Plötzlich wird es mir ganz klar, er ist eine Falle, in die ich um ein Haar völlig unvorsichtigerweise hineingetappt wäre. Beinahe hineingetappt wäre. Ich muss mich zusammennehmen. Schon die Tatsache, dass er so erschreckend emotional reagiert, hätte mich stutzig machen müssen. Ein emotionaler Klon? Ein Zweifler? Ein Widerspruch in sich selbst!

„Jeder denkende Mensch hat solche Zweifel“, wiederholte ich mit fester Stimme. „Allerdings werden solche Zweifel ganz selbstverständlich überwunden. Unsere Regierung ist großzügig und tolerant und unterstützt selbständiges und individuelles Denken. Jeder wirklich intelligente Mensch kommt zu dem Schluss, dass der vorgeschlagene Weg letztlich der beste ist.“

Damit meinte ich natürlich, dass man in der Schule irgendwann nahegelegt bekommt, für welchen Beruf man sich spezialisieren soll. Und das ist wirklich gut überlegt. Die Lehrer beobachten einen über Jahre und wissen am besten, was man kann. Dann gibt es diese Infos der Regierung, die einem mitteilen, wo man welche Berufe braucht und schließlich sind da diese Beratungen. Jedes Jahr wird den Schülern nahegelegt, was sie anstreben sollen. Das ist sehr praktisch, weil es sozusagen kaum Arbeitslose mehr gibt. Die Nachfrage regelt das Angebot. Bei mir war sehr bald klar, dass ich schreiben kann. Übrigens besonders schön schreiben. Das ist eine eigene Begabung und bedeutet, dass man nicht etwa politische Berichterstattungen von mir erwartet. Für politische Berichterstattungen sind andere verantwortlich. Die erfordern ein ganz besonders präzises Arbeiten und eine enorme Flexibilität. Immer wieder sind hierbei in kürzester Zeit Richtungsänderungen erforderlich, weil bei der Menge der anfallenden Regierungsarbeit und der Fülle der ständigen Erkenntnisse andauernd neue Maßstäbe gesetzt werden müssen. Diese Art zu schreiben ist nicht einfach und ehrlich gesagt mit viel Stress verbunden.

Es gibt aber auch Schreiber für Kulturelles. Journalisten, die mit der Erbauung der Bürger zu tun haben, die für ihre Entspannung sorgen. Dafür bin ich zuständig. Man hat sehr früh eine gewisse poetische Neigung in mir entdeckt, die dazu beitragen kann, die Stimmungen der Menschen in positiver Weise zu beeinflussen. Ich habe mir bereits einen Namen gemacht. Ich bin kein ganz Unbekannter mehr. Auch das spricht für das System, dass es Begabungen wie meine erkennt und fördert.

In seinen brennenden Augen, die mich förmlich zu durchbohren schienen, entdeckte ich eine Spur von Ungläubigkeit, ein heißes Flackern, eine Unsicherheit, die gleich darauf von einer maßlosen Überheblichkeit verdeckt wurde, einer geradezu speienden Verachtung, die mich im Innersten traf und mir Angst machte. Einen Augenblick sah es so aus, als würde er einfach aufstehen und weggehen. Meine erschrockenen Augen trafen diesen Blick ohne Schutz. Nein, er war keine Falle, ich begriff es zu spät. Ich würde ihn verlieren, ich würde diese einmalige Chance verlieren, etwas von einer verdeckten Wahrheit zu erfahren, die mitten unter uns existierte, von der man immer wieder hinter vorgehaltener Hand flüstern hörte. Eine ungeheure Wahrheit. Eine Wahrheit, die unsere Grundfesten, die Grundfesten der Regierung, auf das endgültigste und nachhaltigste erschüttern könnte. Eine Wahrheit, nach der ich dürstete, die mich aufklären würde, die mir helfen würde, vieles zu verstehen, vielleicht sogar mich selbst.

Dieses Wesen, das aussah wie ein Mann, wie ein richtiger Mensch, konnte der Schlüssel dazu sein. Und ich hatte alles vermasselt. Weil ich feige war, weil ich ihm misstraute. War diese Wahrheit also in Wirklichkeit zu viel für mich? Ich versuchte, seinem Blick stand zu halten, ihn für mich zurück zu gewinnen. Ich hörte mich sagen: „Hören Sie, es ist gänzlich müßig, über Alternativen zu spekulieren. Alternativen kann es höchstens für solche wie Sie geben.“ Eine atemlose Sekunde lang schien alles still zu stehen: meine Bewegungen hielten inne, mein Hirn hörte auf zu denken. Er saß völlig unbeweglich vor mir. Der Ausdruck in seinem Gesicht hatte sich kaum verändert und doch schien mir, als habe die tiefe Verachtung sich daraus etwas zurückgezogen, sei vielmehr einer angewiderten Müdigkeit gewichen, einem Überdruss, dessen Überwindung ihn unendliche Kraft zu kosten schien. Vielleicht mehr als er aufzubringen in der Lage wäre.

Ich wartete. Kaum wagte ich zu atmen. Die ganze Zeit über blieb sein Blick auf mich gerichtet, aber es war deutlich zu spüren, dass er mich nicht wirklich wahrnahm. Dann endlich, nach schier endlos scheinenden Minuten, kam er zurück in die Gegenwart und fragte, allerdings ohne Neugier und wie um etwas ohnehin Bekanntes lustlos zu bestätigen: „Die Geschichte dieser alten Frau – aus dem vorigen Jahrhundert – das haben doch Sie geschrieben?!“ Du meine Güte! Meine Großmutter! Diese Jugendsünde. Konnte er das gelesen haben?

Als Student, fast noch als Schüler, hatte ich eine Kurzgeschichte über ihren Tod verfasst. Sie war veröffentlicht worden in „Literarische Spielereien“, einem Blatt, in dem die Regierung jungen Schreibenden die Möglichkeit zu einer ersten Vorstellung gibt, einer ersten Konfrontation mit dem Leser – und dem Kritiker. Es hatte mir damals viel Lob eingetragen, und ich war danach in den Kader für schönschreibende Journalisten aufgenommen worden. Es hatte aber auch ernste Warnungen gegeben. Ich hatte die Worte „Liebe“ und „Zuneigung“ in unverhältnismäßiger Weise verwendet. Ich war mir schon damals durchaus der Tatsache bewusst, dass im Gebrauch solcher Worte eine Gefahr liegt. Lieben – würde man natürlich die Welt, unser Land, die glorreichen Errungenschaften unseres Systems, das unsere fähige Regierung weltweit zu solchem Erfolg gebracht hat. Liebe auf Personen bezogen ist heute eher unüblich, um nicht zu sagen verpönt. Es ist ein Zeichen von Unreife. Liebe, wie sie früher, zu Zeiten meiner Großmutter noch üblich war, stiftet Unruhe und Unfrieden. Wir haben uns davon befreit. Ich liebe meine Eltern nicht.

Sie sind einem Aufruf der Gemeinde nachgekommen, als ich gezeugt wurde. Sie brauchten damals dringend mehr Jungen, weil sich aus irgendeinem Grund zu viele Bürger für Mädchen entschieden hatten. Also hatte meine Mutter sich den Samen meines Vaters einspritzen lassen, der als genetisches Material geprüft und mit Prädikat ausgezeichnet worden war. Ich glaube nicht, dass sie je direkten sexuellen Kontakt miteinander hatten. Sie waren dann aufgefordert, sich in den ersten Jahren nach meiner Geburt ausführlicher um mich zu kümmern. Aber daran kann ich mich nicht mehr genau erinnern. Selbstverständlich hat die Gemeinschaft später meine Erziehung übernommen. Ich habe meine Eltern dann bis zu ihrem Tod in regelmäßigen Abständen getroffen, und sie haben mich über den Fortgang ihres Verfalls informiert. Man muss schließlich gewappnet sein.

Mit meiner Großmutter, das war irgendwie anders. Von ihr habe ich die altertümliche Verwendung der Wörter Liebe und Zuneigung. Und wenn ich an sie denke, bekommen solche Worte tatsächlich einen ganz eigenen Sinn.

So habe ich es damals in dem Aufsatz geschrieben, und ich versuchte es zu rechtfertigen als ein Stilelement meiner Erzählung, das dem Leser diese vergangene Zeit vor Augen führen sollte. Man akzeptierte das als legitimen, aber gescheiterten Versuch der Annäherung an die Vergangenheit. Er wurde als übertrieben kritisiert. Außerdem wurde angemerkt, dass ich das Überholte der Zeit, für die meine Großmutter stand, nicht genügend herausgearbeitet hätte. Zwar wäre sehr schön deutlich geworden, dass diese Frau für etwas stand, das wirklich für immer vorbei war, aber ich hätte das lediglich konstatiert, sogar möglicherweise mit einem dekadenten Anflug des Bedauerns, der sicher meiner Jugend zuzuschreiben und deswegen verzeihlich war, den es aber auf jeden Fall zu überwinden gälte. Und ich hätte wahrscheinlich aus den gleichen Gründen wenig deutlich und analysierend darauf hingewiesen, dass diese Zeit zu Recht vergangen war, weil sie tatsächlich überholt war, das heißt, der gegenwärtigen Zeit, dem augenblicklichen Stand der Entwicklung nicht mehr entsprach.

Andererseits hatte man doch das schriftstellerische, das poetische Potential gelobt, das mich als geeigneten Kandidaten für Freizeitjournalismus erscheinen ließ. Ich sollte unseren Leuten heitere Entspannung bringen. Und wirklich, darin bin ich unerreicht!

Sie war in Würde gestorben. Ihr wunderbares, faltiges Gesicht, das ich so oft mit diesem merkwürdig bedrückten Ausdruck gesehen hatte, wenn sie meinte, dass ich sie nicht beobachtete und das immer so freundlich und heiter und, ja, liebevoll war, wenn sie mich bewusst ansah – war schließlich ganz friedlich und entspannt gewesen im Tod. Ich bin noch heute sicher, dass sie eine ganz einzigartige Frau war.

Allerdings habe ich den Verdacht, dass meine Eltern nicht so glücklich über die Einmischung meiner Großmutter in unser Leben waren. Ich habe es schon angedeutet. Meine Mutter hat häufig gesagt, sie hoffe, es gebe keine Schwierigkeiten ihretwegen. Mein Vater hat seine Mutter dann verteidigt. Und ich durfte sie weiterhin sehen. Im Grunde hätte das so nicht vorkommen dürfen. Alte Leute verbreiten veraltete Weisheiten. Darin liegt ja die Gefahr. Als Kind macht man sich das nicht bewusst.

Ich habe damals die Kritik der Regierung natürlich ernst genommen und auch wenn ich immer noch oft an sie denken muss, ist mir doch klar, dass hierin ein sentimentaler Rückgriff auf eine völlig ferne Welt liegt. Es ist, als ob man vor sich hinträumt, einen wirren, gefährlichen Traum. Ich habe einen Hang zu solchen Gefahren. Immer gehabt. Ich glaube, die Regierung schätzt gerade das an mir. Ich stehe für die kalkulierte Gefahr. Ich gebe all denen die Möglichkeit eines Ventils, die irritiert sind, unsicher. Solche gibt es natürlich immer. Unsere Welt ist voll davon.

Das Gesicht meiner Großmutter war anrührend schön, als sie starb. Wirklich hatte ich das Gefühl, eine ganze Welt ging mit ihr unter. Eine Welt, die ich natürlich nicht mehr kannte, aber aus der sie mir verbotenerweise einiges erzählt hat. Nicht alles habe ich verstanden. Vieles blieb mir fremd. Und als sie starb, war das vorbei. Es gab niemanden mehr, den ich danach hätte fragen können. Ganz ausgeschlossen natürlich, einen der sehr wenigen Restbestände in unserer Gemeinde darauf anzusprechen. Es gab bei uns, wie überall, kaum noch alte Leute, und die meisten trauten sich ohnehin nicht, etwas zu sagen. Sie wurden ausgelacht, weil sie vielfach unsinniges Zeugs plapperten. Irgendwie fand ich es schade, dass meine Großmutter mir nichts mehr erzählen konnte. Vage hatte ich sogar das Gefühl eines Verlustes.

Immer noch blickte mein Gegenüber mich an, jetzt wieder lauernd. Es mochten einige Minuten vergangen sein, in denen ich meinen Gedanken nachgehangen hatte. Ich hatte ihm noch nicht geantwortet. Aber er brauchte meine Antwort nicht. Er kannte die Geschichte ohnehin, erwartete gar nicht, dass ich etwas sagte.

„Wie ist das?“ fragte er plötzlich. Ich muss sehr erstaunt ausgesehen haben. Er fügte sofort hinzu: „Wenn man weiß, von wem man abstammt?“

„Nun, ich habe meine Eltern natürlich regelmäßig gesehen“, erwiderte ich wahrheitsgemäß.

„Ach, ja?“ Wieder war da diese abgrundtiefe Verachtung. „Und was wissen Sie über Ihre Eltern?“

„Sie sind vollkommen intakt“, beeilte ich mich zu versichern, „das heißt, jetzt natürlich nicht mehr. Aber so lange sie lebten, waren sie vollkommen intakt.“ Ich konnte mir nicht vorstellen, was er von meinen Eltern wollte. Da konnte doch etwas nicht stimmen.

„Sie waren intakt?“ wiederholte er, und ich wusste nicht, ob das Spott war oder Erstaunen oder Neugierde. „Und was noch?“

„Was meinen Sie?“

„Wer war ihr Vater? Wer war Ihre Mutter?“

Was sollte das jetzt? Wollte er mich doch in Gefahr bringen? Prüfen, aushorchen?

Was weiß ich über Klone? Immer wieder wird davor gewarnt, sich mit ihnen einzulassen. Wobei das ja wirklich nahezu unmöglich ist.

„Wer mein Vater war?“ fragte ich zögernd. „Er hat alle Prüfungen bestanden.“

„Samen ausgezeichnet?“

„Ja.“

„Natürlich. Und Ihre Mutter? Zeugungsfähig, bereitgestellt?“

„Klar.“ Irgendetwas in der Art, wie er das alles sagte, machte das Gespräch höchst unerfreulich.

„Und weiter?“

„Was weiter?“

„Haben Sie sie geliebt?“ Da war wieder dieses Wort.

„Wen?“ fragte ich wider Willen, denn auf solche Gespräche sollte ich mich nicht einlassen. Durfte ich mich auf keinen Fall einlassen.

„Ihre Eltern.“

Ich lachte unsicher auf. Er wollte mich vielleicht wirklich reinlegen. „Was wollen Sie von mir? Meine Eltern waren vollkommen in Ordnung. Sie haben sich vorbildlich verhalten bei meiner Zeugung.“

„Sollte ich mich getäuscht haben?“ fragte er, mich prüfend ansehend, so, als könne eine solche Blickkontrolle ihm Klarheit verschaffen über sein Gegenüber.

Was um alles in der Welt will er von mir? Warum hat er mich ausgewählt? Wird er mir sein Geheimnis verraten? Was muss ich tun?

„Was wollen Sie von mir?“ fragte ich noch einmal, obwohl ich mir vorgenommen hatte, geduldig zu sein und abzuwarten und ihn auf gar keinen Fall zu reizen.

Er hatte bisher nichts angerührt, nichts bestellt. Er hatte nur dagesessen. Jetzt nahm er den Wasserkrug, der auf dem Tisch stand, goss sich einen Schluck in ein Glas und führte es zu den Lippen, wobei er für einen Moment die Augen schloss. Dann sagte er heiser: „Ich möchte Ihnen meine Geschichte erzählen, und ich möchte, dass Sie mir helfen.“

Augenblicklich erfüllten mich eine heiße Freude und eine abgrundtiefe Angst. Warum ich? Wie konnte ich ihm helfen?

2

 

Es war spät geworden. Ich konnte nicht riskieren, mein Zeitkontingent ohne mögliche Erklärung weiter auszudehnen. Ich sagte es ihm. Er war einverstanden, dass wir uns zu einem späteren Zeitpunkt wiedersehen würden. Er würde mich kontaktieren, wenn die Gelegenheit günstig war. Hatte auch er Angst? Konnte auch er nicht einfach über seine Zeit verfügen? Aber das war unwahrscheinlich. Er war ganz offensichtlich niemandem verantwortlich. Er gehörte nicht in unsere Gesellschaft. Er war ein Ausgestoßener, ein Geflüchteter – oder eigentlich ein Niemand. Er existierte gar nicht, hatte offiziell nie existiert.

Andererseits lag gerade darin sein Problem. Warum hatte ich es nicht gleich verstanden? Wenn er nicht existierte, durfte er auch nicht entdeckt werden. Er hatte kein Recht, durch die Straßen zu gehen, sich aufzuhalten, wo auch immer. Zum Beispiel in diesem Café. Wenn man ihn fragen würde, in welchem Auftrag er handelte, mit welcher Befugnis und für welchen Kader er arbeitete, in welchem Quartier er lebte, welches seine Identitätsnummer war – ich bin überzeugt, er könnte keinerlei Auskunft geben.

Natürlich habe ich keine Ahnung, wie sie Klone registrieren. Vielleicht hatte er ja dieselbe Nummer wie sein – wie soll ich es nennen – wie sein anderes Ich? Aber das ist eigentlich ebenfalls unwahrscheinlich. Irgendwie muss aus der Kennung hervorgehen, dass er ein Klon ist. Wenn man angehalten wird und sich ausweisen muss, wird alles registriert: wo man ist, wie lange man dort mit wem bleibt und so weiter, und dann wird das mit der Sollkarte verglichen. Zeitliche Abweichungen von fünf Minuten in beiden Richtungen werden toleriert. In begründeten Ausnahmefällen, etwa, wenn man ein öffentliches Verkehrsmittel benutzt hat, das nachweislich aufgehalten wurde – der Begriff Verspätung ist erst kürzlich aus dem offiziellen Sprachgebrauch ausgesondert worden -, also, wenn man solchen Zwängen ausgesetzt war, können Zeitabweichungen akzeptiert werden. Selbstverständlich müssen Abweichungen vom geplanten Gesprächspartner ebenfalls dokumentiert sein. Es kommt praktisch nicht vor, dass jemand nicht mit der Person zusammentrifft, die er treffen soll – außer natürlich, sie wurde vorher offiziell ersetzt, was durch einen besonderen Vermerk dokumentiert wird. Was ich meine ist, es kommt nicht vor, dass man bewusst versucht, seinen Arbeitgeber oder eine andere offizielle Stelle hinters Licht zu führen, um jemanden zu treffen, den man nicht treffen soll. Das kommt niemals vor. Es ist viel zu gefährlich. Und es macht auch gar keinen Sinn.

Ich erinnere mich, dass meine Großmutter von „heimlichen Rendezvous“ erzählt hat. Das ist mir immer als eine höchst komische und völlig überflüssige Angelegenheit vorgekommen. Warum sollte man sich mit einer Frau (oder einem Mann) heimlich treffen wollen? Damals muss es Neurosen und Schwierigkeiten gegeben haben, die wir inzwischen, Gott sei Dank, überwunden haben.  Wenn bei uns zwei Menschen den Drang verspüren, einander zu begegnen und sich anzufassen, verabreden sie sich, um einen Befreiungstermin zu beantragen und gehen in die Badehäuser. Das steht einem zweimal im Monat zu. Und es reicht völlig aus. Mir scheint es im Grunde sogar übertrieben viel. Ich habe schon lange keinen Befreiungstermin mehr beantragt.

Mir ist klar, dass diese Begegnung mit dem Klon außerhalb jeder Norm ist, dass ich etwas Ungewöhnliches und streng Verbotenes tue, dass ich mein Leben riskiere. Und er tut das auch. Er riskiert sein Leben als Klon. Was ist das Wert, so ein Leben als Klon? Wie immer er sich ausweist, wenn er es denn überhaupt kann, was ich bezweifeln muss, er kann diese Begegnung auf keinen Fall rechtfertigen, und deswegen schwebt er in ebenso großer Gefahr wie ich.

Wir sahen einander nicht nach, als wir uns trennten, und doch fühlte ich bei aller Unterschiedlichkeit, die uns als Angehörige zweier verschiedener Welten definierte, in dieser Gefahr, die uns beide bedrohte, eine sehr merkwürdige, geradezu verbindende Gemeinsamkeit, die mich ebenso berührte wie sie mich tief erschreckte.

Ich eilte über den Breslauer Platz zum Bahnhof, wo die große Uhr nicht nur die Zeit, sondern auch in riesigen Zahlen das Datum angab – wir leben im Jahr 2064 –, und während mir das Datum ins Auge sprang überlegte ich wieder einmal, ob es mir vergönnt wäre, das 22. Jahrhundert zu erleben.

Ich bin jetzt 28 Jahre alt, geboren 2036. Ich wäre 64, wenn das neue Jahrhundert anbricht. Damit stehe ich auf der Kippe. Normalerweise sortieren wir die Alten zwischen 60 und 65 Jahren aus. Wenn sie allerdings früher sehr krank werden, auch schon eher. Aber viele, eigentlich die meisten, sind bis 60-65 noch sehr gut einsetzbar. Dann ist allerdings abzusehen, dass sie bald krank werden, im Grunde alle, und so sortiert man sie aus, bevor es so weit ist. Es macht ja überhaupt keinen Sinn, abzuwarten, bis sie wirklich krank werden, um sie dann aufzupäppeln, bevor sie trotzdem sterben. Das ist viel zu teuer. Und lohnt sich nicht. Wenn sie erstmal 65 sind, sind sie praktisch nicht mehr ergiebig. Sie sind meistens müde und ohne Energie und lungern nur noch herum. Und man kennt das ja noch von früher: die, die das Glück hatten, auch noch in späteren Jahren gesund und voller Energie zu sein, nützten das lediglich dazu aus, sich selber zu amüsieren. Sie lagen der Gesellschaft nur noch auf der Tasche. Die Kranken und die Müden sowieso. Und das ging dann oft noch zwanzig, manchmal dreißig Jahre so weiter. Als das überhandnahm, hat die Regierung im Jahr 2048 beschlossen, dem durch das neue Gesetz ein Ende zu machen. Jetzt duldet man niemanden mehr über 65 Jahren. Das ist eine große Erleichterung. Wenn ich also Glück habe, kann ich das neue Jahrhundert gerade noch erleben. Ich strebe das an. Es wird ein Riesenfest geben.

Der Dom ist nach wie vor die größte Attraktion in unserer Stadt. Das war er schon zu Zeiten meiner Großmutter, als die Stadt noch Köln hieß. Irgendwann, Anfang unseres Jahrhunderts, hat man im Zuge der um sich greifenden Globalisierung angefangen über einen Namen nachzudenken, der einen etwas internationaleren, urbaneren Touch hatte, und da ist man auf „Co-lone“ gekommen. Darin steckt viel von dem, was die Regierung für unsere Stadt erwartet, wofür wir alle stehen sollen: das Englische des Namens zeigt natürlich die Weltoffenheit unserer Gesellschaft, die Möglichkeit auch, von allen anderen Völkern zur Kenntnis genommen und begriffen zu werden. Das „Co“ steht für Co-Operation, für Co-Ordination und ist ein Hinweis auf das Zusammenspiel aller für unsere Gesellschaft und für unsere Regierung, und auf die Arbeit unserer Regierung für unsere Gesellschaft. Es ist ein Symbol für den Erfolg unseres Systems. Das „lone“ wiederum steht für das Einzigartige, für die einsame Größe unserer Stadt, die, auch wenn sie im Weltverbund der Regierungen integriert ist, wenn sie zur gemeinsamen Aktion immer bereit ist, doch eine natürliche Besonderheit, eine Auserwähltheit besitzt, die für sie seit Jahrtausenden gültig war, und die uns alle auszeichnet und motiviert, für diese Stadt und die Regierung und unsere Gesellschaft, die eine Gemeinschaft von Gleichen ist, zu leben, zu arbeiten und uns einzusetzen bis zum Letzten.

Die Türen des Doms waren noch geöffnet. Ich hatte gerade noch Glück. Keine fünf Minuten später und ich hätte keinen Einlass mehr gefunden, wäre somit unter Umständen in die schreckliche Situation geraten, für meinen Aufenthalt von über einer halben Stunde keine Erklärung angeben zu können. Nicht auszudenken! Ich durfte mich nicht hinreißen lassen! Sollte es ein nächstes Treffen mit dem Klon geben, würde ich unbedingt in einem breiteren Zeitrahmen planen müssen. Jetzt hatte ich den Besuch im Dom angegeben.

Es finden eigentlich täglich von der Regierung befürwortete Veranstaltungen im Dom statt, die dazu dienen, den Arbeitenden zu entspannen und gleichzeitig zu bilden, ihn auszurichten auf seinem Weg, ihn zu bestärken in seinem stetigen Bemühen, Gott und der Gemeinschaft zu dienen. Die sogenannten Diener Gottes sind gleichzeitig Diener der Regierung. Denn die Regierung ist gottgewollt. Alles, was wir für die Regierung tun, tun wir für die Gesellschaft und für Gott. Es ist alles eine schöne Harmonie. Ich bin ein regelmäßiger Domgänger. Man darf es allerdings auch nicht übertreiben und diese Vergünstigung nicht allzu häufig ausnutzen. Das gesunde Maß ist, wie bei allem eigentlich, streng einzuhalten. Wir werden sehr wohl darauf hingewiesen, dass auch eine gewisse Gefahr im zu häufigen Domgang liegt, weil man sich unter Umständen einlullen lässt, wenn man den weißgekleideten schönen jungen Menschen zuhört, die einschmeichelnde Melodien summen oder singen. Das ist bekannt. Allerdings sind die bekennenden Gebete – „Für wen gebt ihr Eure Stärke? Für das Wohl der Gemeinschaft“, „Wem könnt Ihr vertrauen in allen Lebenslagen? Gott und der Regierung. Sie wissen Trost und Hilfe“ – von heilsamer Wirkung, und die Predigt ist natürlich in jeder Weise hilfreich.

Ich muss zugeben, dass ich meine Domgänge vielfach eher zum Träumen benutze. Was gesagt wird, kenne ich inzwischen wirklich gut. Es wiederholt sich laufend, und die Bekenntnisse murmele ich meistens ohne nachzudenken automatisch mit. Dabei gehen meine Gedanken auf und davon, vielfach zu solchen Dingen, an die ich im Alltag lieber nicht denken darf, weil sie für meine Arbeit und meine Einstellung eher hinderlich sind. Ich rede selbstverständlich mit niemandem darüber. Aber ich habe für mich beschlossen, dass die Domgänge eine für mich sehr heilsame Entspannung sind, die auch helfen, einen gewissen Druck von mir zu nehmen, den ich manchmal verspüre, ich weiß nicht, warum.

Ich konnte mich noch gerade informieren, welcher Prediger heute gesprochen hatte und über welches Thema und stellte beruhigt fest, dass er mir bekannt und seine Art zu reden geläufig waren. Sollte mich jemand fragen, sollte das geschehen, sage ich, was nicht sehr wahrscheinlich war, denn niemals war ich bisher geprüft worden, aber jeder musste doch immer damit rechnen – dann würde ich wissen, was ich zu antworten hatte.

Ein Gefühl tiefer Befreiung erfüllte mich, und ich merkte erst jetzt, unter was für einem enormen physischen wie psychischen Zwang ich mich die ganze Zeit über befunden hatte. Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Meine Lippen murmelten die Schlussgebete. Ich sah wieder das gehetzte Gesicht des Mannes vor mir, der mich ausgewählt hatte, um mir seine Geschichte zu erzählen. Seine verbotene Geschichte. Die Geschichte eines verbotenen Lebens. Ein verdoppeltes Leben? Oder ein Leben aus zweiter Hand? Er schien verzweifelt über die Verdopplung. So als litte er unter dem Verlust seiner Identität. Das war bemerkenswert. Ich habe nie viel über meine Identität nachgedacht. Auch nicht über meine Herkunft, meine Eltern, worüber er so aufgeregt schien.

Es gab ja auch nicht viel nachzudenken, wenn man es recht betrachtete. Mit meinen Eltern war, wie ich es schon erzählt habe, alles in bester Ordnung. Da mein Vater vor einigen Jahren beim Drachenfliegen umgekommen und meine Mutter ebenfalls bereits tot ist, habe ich eine Sorge weniger. Denn die Kinder sind für den Abgang der Eltern verantwortlich. Meine Mutter war 54 als sie starb. Sie hatte die Glättungen bemerkenswert gut überstanden. Ich brauchte mir noch keinerlei Gedanken über die Organisation ihres Abgangs zu machen. Das hat sich jetzt ohnehin erledigt. Ich bin das einzige Kind meiner Eltern geblieben. Meine Mutter war nicht begeistert von der Schwangerschaft und der Geburt. Sie sagte immer, sie sei zu früh auf die Welt gekommen. Bald würde man die Kinder gänzlich außerhalb des Mutterleibs entwickeln können. Die Regierung arbeitet an diesem Problem auf Hochtouren. Aber noch ist man nicht so weit, noch ist der Mutterleib die beste Garantie für eine positive Entwicklung der Kinder. Wenn es nur darum ginge, die eigenen Gene zur Verfügung zu stellen, sagte meine Mutter, und um die ersten Jahre der Aufzucht, dazu hätte sie sich gern mehrmals zur Verfügung gestellt. Aber die Geburt selber war schmerzhaft und unangenehm. Ich glaube, ich muss ihr dankbar sein, dass sie das überhaupt mitgemacht hat.

Andererseits gab es da jetzt diesen Klon. Wie hatten sie den denn entwickelt? Im Mutterleib doch wohl nicht? Ich öffnete erschrocken die Augen. Wie, wenn die Regierung längst so weit war, aber dies aus besonderen Gründen nicht zugeben wollte? Wie war der Klon entstanden? Wo kam er her? Wie wurden alle diese Klone erzeugt, von denen man so manches munkeln hörte und von denen man so wenig Sicheres wusste?

Es gab noch ein anderes Problem, an dem die Regierung arbeitete, so jedenfalls hieß es hinter vorgehaltener Hand, und für das sie bis jetzt ebenfalls noch keine Lösung gefunden hatte. Die Aufhebung des Todes oder das ewige Leben. Natürlich würden wir alle, die wir unserer Bestimmung folgten, das ewige Leben in einer anderen Welt jenseits des Todes erlangen. Das war selbstverständlich. Und hier in diesem Dom, in diesem wundervollen, beruhigenden Raum, durch den das von Gott gesandte Licht in mystischer Dämmerung flutete, begriff man, dass dies Leben wunderbar sein würde, ruhig, ohne Anstrengungen, ohne jegliche Angst, etwas falsch zu machen, Bestimmungen richtig zu erfüllen und dergleichen.

Es geht aber um ein anderes ewiges Leben, denke ich, ein diesseitiges, ein Leben auf dieser Welt. Ich weiß nicht genau, warum man das auch noch will. Die Lösung der Entsorgung der 60-65jährigen hat ja nicht nur seine Gründe im bevorstehenden Alter, das Krankheit und ein schmarotzendes Dasein bringen würde, was beides verhindert werden soll. Es geht doch auch darum, Platz zu machen für die nachwachsenden Generationen. Wie sollte das möglich sein, uns alle am Leben zu erhalten, wenn niemand mehr entsorgt wird? Oder soll das vielleicht nur für bestimmte Mitglieder der Gesellschaft gelten, für besonders Auserwählte? Ob das auch etwas mit den Klonen zu tun hat? Ob es einen Zustand gibt, in dem Klone unsterblich werden? Ich fühle, wie ich vor Aufregung zu zittern beginne, wie mir die Hitze den Körper entlangfährt und mir der Schweiß ausbricht. Ich bekomme Angst. Ich bin einem Geheimnis auf der Spur, ich kann die Konsequenzen meiner Entdeckung nicht absehen. Wohin führt mich das alles? Ich blicke in das Gewölbe des Doms und spüre, dass mein Herz zerspringen möchte vor nie gekannter, nie auch nur geahnter Erregung.

Eine Hand legt sich auf meine Schulter, und für den Bruchteil einer Sekunde glaube ich zu vergehen. Es ist Schröder aus der Abteilung Reise und Erholung. Hat er auch einen Domgang angemeldet? Oder ist er mir nachgeschickt worden? Hat er mich beschattet? Oder hat er mich gesucht und nicht gefunden, bis gerade? Kann er sich einen Reim aus meinem Abtauchen machen?

Er sieht völlig harmlos aus.

„Komm“, sagt er, „sie schließen jetzt. Lass uns gehen.“

Mit Mühe kann ich mich erheben, wanke ein wenig aus der Bank heraus, fange mich dann.

„Ergreifend“, sage ich. Man muss immer sofort in die Offensive gehen.

„Ja,“ bestätigt er, „heute war es wieder besonders schön.“

Wir schließen uns den anderen an, werden zum Hauptausgang geschwemmt. Wir greifen gleichzeitig in die Tasche, um dem Mann in rotem Gewand etwas in die Büchse zu tun, die er vor seinem Bauch trägt. Ich sehe, dass unsere Münzen gleich groß sind.

Auf dem Domvorplatz merke ich, dass mein Verdauungssystem jeden Augenblick versagen wird. Der Schreck seiner Handauflegung ist mir in die Eingeweide gefahren. Ich bitte ihn, auf mich zu warten, wenn ich jetzt die öffentliche Toilette benutze. Wir haben denselben Weg in die Redaktion. Er verspricht es und wartet auch brav.

Auf dem Weg zur Redaktion kamen wir am Museum für alltägliche Kunst vorbei.

Sie nennen es MAK. Es ist eines der wenigen, die noch existieren. Ich weiß von meiner Großmutter, dass es im vorigen Jahrhundert sehr viele verschiedene Museen gegeben hat. Auch solche, die Gegenstände aus fremden Kulturkreisen aufbewahrten. Das wurde dann aber zu kostspielig. Im Zuge der Globalisierung war es auch gar nicht mehr nötig, die Menschen interessierten sich immer weniger dafür, zumal man ja reisen konnte, wenn man von der Regierung geschickt wurde.

Es soll auch ein Museum zur Geschichte der Stadt gegeben haben, aber die Regierung hat beschlossen, dass eine allzu intensive Beschäftigung mit Geschichte, also mit lange vergangenen und das heißt vor allem mit lange erfolgreich überwundenen Ereignissen, nicht sinnvoll ist. Es muss die Menschen verwirren und lenkt nur ab von den Errungenschaften der neuen Zeit. Heute gibt es natürlich das Museum für befreiende Kunst, MBK, dessen altes Gebäude neben dem Dom erst vor wenigen Jahren abgerissen und durch den jetzigen markanten Turmbau ersetzt worden ist, der mehr Platz bietet für die Arbeiten der Künstler von heute, deren Werke die positiven Wirkungen von Formen und Farben auf die Gesellschaft beweisen, aber auch das Geschwür der depressiven Nachdenklichkeit, des Zweifels, der Unruhe und Unsicherheit anprangern. Solche dräuenden Werke, die zu pädagogischen Zwecken und als Abschreckung mehrmals im Jahr gesammelt und dann zu einer viel diskutierten Ausstellung zusammengestellt werden, werden danach im museumseigenen Ofen verbrannt. Wir sortieren ältere moderne Kunst, die keinen Bezug mehr zu den Anforderungen unserer neuesten Zeit hat, ebenso aus, wie die alten Menschen. Sie nützen nicht mehr und nehmen Platz weg.

Wie anders dagegen das Museum für alltägliche Kunst! Es lebt, das kann man sagen! Es brummt vor Leben. Alle wichtigen gesellschaftlichen Ereignisse finden hier statt. Quasi jede Woche, jeden Samstag, Sonntag treffen sich hier diejenigen, die etwas zu sagen haben. Es ist gerade das Alltägliche, das uns immer wieder fasziniert. Es gibt ja ständig etwas Neues in unserem Alltag, und hier kann man es bewundern. Hier wird es zuerst vorgestellt, vom Publikum ausprobiert, angenommen oder auch nicht. Es gehört zu den köstlichen Momenten unseres freiheitlichen Bewusstseins, wenn ein Produkt, das in Zukunft unseren Alltag bestimmen soll – ein Möbel, ein Kleidungsstück, ein Fahrgerät oder ein neuer Typ von Bildschirm – unter Schreien der Anwesenden ABGELEHNT wird! Oh, ich liebe diese Augenblicke, ich fühle ihre reinigende Kraft mit jeder Faser meines Körpers.

Und dann erst die angenommenen Produkte, jene, die wir bald alle besitzen, mit denen wir arbeiten und uns vergnügen werden. Welche gestalterische Phantasie offenbart sich darin, welch enormer Wille drückt sich darin aus, unsere Welt zu verbessern, zu verschönern, lebbarer zu machen für uns alle!

Es hat auch hier natürlich Objekte in der alten Sammlung gegeben, deren man sich entledigen musste. Ballast, den niemand mehr verstand, mit dem niemand mehr etwas anfangen konnte. Auch hat es wohl so ausgesehen, dass das recht große, noch aus dem vorigen Jahrhundert stammende Gebäude, damals vollständig für die Ausstellung der Sammlung gedient hat! Das war natürlich eine entsetzliche Raumverschwendung, und man kann sich leicht vorstellen, dass eine völlig verwirrende Vielzahl von Objekten die Besucher unmutig gemacht hat. Auch habe ich neulich einen Vortrag darüber gehört, dass man die meisten der Gegenstände gar nicht anfassen durfte! Kann man das nachvollziehen? Wie konnte man in einem solchen Museum FUN haben? Ich bin oft froh, wenn ich über all die Errungenschaften unserer Regierung nachdenke und darüber, wie viel von dem altmodischen Unsinn, dem unsere Vorfahren noch anhingen, inzwischen abgeschafft wurde, und wieviel unbelasteter wir deswegen heute leben können.

„Hast du Karten für das Ov-Ov-Festival bekommen?“ fragte Schröder mich eben, als wir das MAK passierten.

„Meine Frau hat sich darum bemüht“, gab ich zur Antwort, „ich weiß noch nicht, ob es ihr gelungen ist. Ich werde sie erst in der nächsten Woche wiedersehen.“

Das Ov-Ov-Festival ist das Jahresfest der Förderergesellschaft des Museums. Die hieß zu Zeiten meiner Großmutter Overstolzengesellschaft. Kaum jemand hat heute noch eine Ahnung, woher der Name kommt, und im Grunde ist es ein langweiliges und unbedeutendes Details der Vergangenheit. Heute heißt die Gesellschaft, unserer Zeit und unserem Sprachgebrauch angepasst und also sehr viel angemessener Ov-Ov-Gesellschaft, wobei man seit einiger Zeit drüber diskutiert, ob man das lächerlich altmodische Wort Gesellschaft nicht überhaupt weglassen sollte. Die „Ov-Ovs“ reicht völlig aus und vermittelt etwas von jenem Schwung, der die weitgehend jugendlichen Mitglieder charakterisiert.

Karten dafür bekommen möchte wohl jeder lebende Mensch in unserer Stadt, ob jung oder alt. Hier trifft man alle wichtigen Personen, die in unserer Gesellschaft überhaupt etwas zu sagen haben. Zunächst einmal sind alle bedeutenden Vertreter der Regierung anwesend. Außerdem können Karten gekauft werden. Sie sind so teuer, dass nur die allerreichsten, die allerwichtigsten Angehörigen der Oberschicht hier zuschlagen können. Solche kaufbaren Karten sind aber limitiert. Es gibt Berichte von wagemutigen Unglücklichen, die sich ruiniert haben für solche Karten, in der grundsätzlich durchaus berechtigten Hoffnung, auf dem Fest Kontakte knüpfen zu können, die weit mehr wert waren als alles Geld, das man vorher geopfert hatte. Aber auf geheimnisvolle Weise klappte das nicht immer. Ich glaube, es gehört noch mehr dazu als nur das bloße Geld. Verbindungen von Glück und Erfolg bringender Tragweite müssen schon vorher wenigstens in Ansätzen bestanden haben, sie können an solchen Tagen nicht einfach geknüpft werden.

Es gibt auch freie Karten für den gewöhnlichen Bürger. Freie Karten, die nichts kosten, jedenfalls kein Geld, die aber in einer langen, intensiven, von Regierungstreue, Disziplin, Zuverlässigkeit, Belastbarkeit geprägten Vorbereitungsphase erarbeitet werden können. Die Regierung vergibt in jedem Jahr nur etwa zwanzig solcher Karten, und man kann sich vorstellen, welche Auszeichnung das bedeutet. Man ist ein gemachter Mann, wenn es einem gelingt, eine solche Karte zugewiesen zu bekommen. Ihr Besitz wird in die Personalakte eingetragen. Man kann als einfacher Bürger nur einmal im Leben am Ov-Ov-Festival teilnehmen, aber man hat lebenslange Vorteile davon – wenn diese Vorteile nicht durch ein Fehlverhalten wieder aufgehoben werden, was durchaus geschehen kann, aber selten geschieht, weil die Inhaber solcher Vorteile alles dafür tun, sie zu behalten. Wenn sie jemandem wieder abgenommen werden, vermerkt man auch das in der Personalakte, und es ist ein Makel, den man nie mehr los wird.

Einer der Vorteile, zum Beispiel, ist der, dass man, wenn es zur Entsorgung im Alter kommt, auf jeden Fall bis 65 zurückbleiben darf, selbst wenn man bereits krank ist. Und umgekehrt, kann beim geringsten Zweifel immer gegen jemanden entschieden werden, der mit dem Makel der Entehrung behaftet ist.

Wenn Schröder mich nach den Karten fragt und ich ihm in der beschriebenen Weise antworte, so bedeutet das nicht, dass wir beide die Möglichkeit, Karten zu bekommen, tatsächlich ernsthaft in Betracht zögen. Es wäre sehr unwahrscheinlich, dass es ausgerechnet uns träfe. Wir haben beide nie etwas wirklich Außergewöhnliches geleistet. Wir fallen beide nicht negativ auf, das ist wahr, und unsere Bilanz ist im Ganzen eher positiv. Aber darin unterscheiden wir uns nicht von den meisten anderen Menschen. Und es ist eigentlich immer so, dass sich alles von heute auf morgen zu unseren Ungunsten ändern könnte. Denn man weiß nie. Nein, wir sind definitiv nicht die Kandidaten für eine so begehrte Auszeichnung. Aber es ist ein weit verbreiteter Topos, so zu sprechen, kurz bevor das Ov-Ov-Festival sich nähert. Man gibt damit zu erkennen, dass man sich der Bedeutung des Festes bewusst ist, dass man gern daran teilnehmen würde, dass man bereit wäre, alles dafür zu tun und so weiter.

Schweigend setzten wir unseren Weg fort.

Anders ist es mit meiner Frau. Ihr Ehrgeiz schreckt mich manchmal, obwohl ich auch stolz auf ihre Leistungen bin. Sie arbeitet ebenfalls in unserer Zeitung. Sie hat vor Jahren als Frauenbeauftragte angefangen. Heute ist sie Ressortleiterin für Frauenfragen, eine der wichtigsten Abteilungen überhaupt, natürlich nach Politik, Wirtschaft und Finanzen, und Sport. Es war eine große Ehre für mich, als uns vor zwei Jahren vorgeschlagen wurde, unsere Sympathie für einander im Sinne einer positiven Auswirkung für die Regierung als Ehepaar einzusetzen.

Ich weiß, dass meine Großmutter diesen Zusammenschluss, der zunächst nur die Zusammenlegung zweier Haushalte bedeutete, unter dem völlig befremdlichen Gesichtspunkt von Liebe und Zuneigung versucht hätte zu ergründen. Aber, ich sagte es schon, das sind gefährliche Beweggründe, gefährliche Gefühle, von denen wir uns zu unserem eigenen Wohl weitgehend befreit haben. Ich weiß, Gott sei Dank, nicht einmal mehr genau, was sie bedeuten. Auch meine Eltern haben sich sicher nicht geliebt. Manchmal denke ich, dass mein Vater so etwas wie Zuneigung zu seiner Mutter verspürt haben muss, weil er sich einfach weigerte, sie zu entsorgen. Und ich selber kann mich in Hinblick auf meine Großmutter ja auch nicht ganz davon lossprechen. Aber mir ist die große Gefahr, die darin liegt, immer bewusst gewesen. Es ist ja damals alles gut gegangen, Großmutter ist schließlich auf natürliche Weise gestorben, und mein Vater ist beim Drachenfliegen umgekommen, noch ehe man ihn zur Rechenschaft gezogen hat.

Es war mir eine Ehre, mit meiner Frau zusammengebracht zu werden. Sie war allgemein bewundert und hat, wie gesagt, eine ziemliche Karriere gemacht. Ich hatte schon von ihr gehört, ehe ich sie kennenlernte, und als man uns auf dem Betriebsfest zusammenbrachte, haben wir uns wirklich gleich gut unterhalten. Es war von daher eine geradezu logische Entwicklung, dass man uns heiraten ließ. Als mein Samen geprüft wurde, war ich froh, dass er für gut befunden wurde. Er wurde nicht prämiert, wie der meines Vaters, aber er gilt immerhin als gut. Wir haben eine ausreichende Menge davon deponiert. Und wenn wir die Erlaubnis erhalten, kann meine Frau jederzeit darauf zurückgreifen.

Manchmal schreckt mich ihr Ehrgeiz. Ich glaube auch, dass sie seit einiger Zeit massiv versucht, die Erlaubnis zur Zeugung zu erhalten. Sie ist so alt wie ich. Sie ist noch jung genug. Aber ich glaube, sie denkt mehr über ihr Alter nach. Sie hat sogar schon davon gesprochen, sich bald glätten zu lassen. Das ist eher ungewöhnlich für eine Frau unter dreißig Jahren. Man fängt im Allgemeinen nicht gern unter dreißig an. Wegen der möglichen Folgen. Je eher man anfängt, sagt man, desto eher ist die Haut dann schließlich ausgeleiert. Aber sie muss wissen, was sie tut. Jedenfalls kann sie es durchaus schaffen, die Erlaubnis zur Zeugung auch ganz allein zu erringen. Gewöhnlich wird sie beiden Eltern im dritten bis fünften Jahr der Ehe zugeteilt. Wenn einer von beiden sich allerdings besondere Verdienste erworben hat, geht es auch einseitig. Ich gebe ja zu, dass ich mich nicht besonders angestrengt habe. Ich bin eher der unauffällige Typ. Ich versuche, meine Sache gut zu machen, das ja. Aber es liegt mir nicht, mich hervorzutun, vor allem nicht auf Kosten von anderen. Aber das ist natürlich ein Fehler. Meine Frau hat sich bereits mehrfach darüber beklagt.

Ich denke also, sie wird es allein erreichen. Manchmal glaube ich fast, sie hat es schon geschafft. Irgendetwas scheint in den letzten Wochen gewesen zu sein, etwas, das sie zufriedener erscheinen lässt. Wir sehen uns regelmäßig, aber doch nicht so häufig. Auch wenn sie zu Hause ist, meidet sie vielfach ein Zusammentreffen. Ich glaube, ich bin ihr nicht bedeutend genug, ich halte sie von der Arbeit ab, davon, weiter zu kommen. Immerhin könnte es durchaus sein, dass sie sich hat befruchten lassen und mir noch nichts davon gesagt hat. Mir ist nicht ganz wohl bei dem Gedanken. Es wäre dann auch mein Kind. Und wir müssten für die ersten vier Jahre nach der Geburt viel enger miteinander leben, um dem Kind, wie es heißt, Sicherheit und einen rahmenden Halt zu geben, der es befähigen würde, sich danach im allgemeinen Aufzuchtzentrum durchzusetzen und zu lernen, für die Gesellschaft da zu sein.

Wie kann ich einem fremden Wesen Sicherheit und einen rahmenden Halt geben? Natürlich erhalten wir rechtzeitig Verhaltensmaßregeln für die Anfänge der Erziehung. Aber das wird viel Zeit in Anspruch nehmen, wird mich ablenken von vielem, das ich sonst zu tun gewohnt war. Ich muss an meine Großmutter denken und an ihre warmen braunen Augen. Sie hätte es Liebe genannt, Geborgenheit. Ich weiß es. Warum kann ich das nicht empört von mir weisen, wie ich es sollte? Es ist aber keine Gefahr. Ich glaube nicht, dass ich in den Fehler verfallen würde, dieses fremde neue Wesen zu lieben oder den Wunsch verspüren könnte, ihm Geborgenheit zu geben.

Etwas anderes macht mir größere Sorgen und verursacht mir Unbehagen. Ich denke an den Klon. An seine Geschichte, die mir gehören soll. Ein Kind würde mein Leben völlig umkrempeln: die Zeit, die Ablenkung, die neue Verantwortung, die Unfreiheit! Wie soll es mir unter solch veränderten Umständen noch gelingen, den Klon zu treffen? Ich merke, wie ich ganz selbstverständlich davon ausgehe, dass ich ihn noch einmal treffen werde, noch viele Male.

„Wir sind da“, sagte Schröder, der ebenfalls ganz in Gedanken versunken, schweigend neben mir her gegangen war.

„Ja“, antwortete ich und dachte dankbar, dass es schließlich noch gar nicht sicher war, dass ich mich auch täuschen konnte, dass ich mir vielleicht völlig unnötigerweise solche Gedanken machte. Wahrscheinlich würde sie es mir zuletzt doch sagen. Sagen müssen. Und selbst, wenn sie es tatsächlich bereits getan hatte – ein Kind braucht eine Weile, bis es auf der Welt ist, immer noch. Noch war ich also frei. Ich betete, dass er nicht zu viel Zeit vergehen lassen möge, bis wir uns wiedersehen konnten. 

3

 

Wir trafen uns im Müngersdorfer Stadion bei einem Spiel der Co-lone Lonely Boys gegen die Hamburger Kings. Solche Freundschaftsspiele sind sehr beliebt, weil man sich gehen lassen darf. Alkohol und Schlägereien sind an der Tagesordnung, ja werden sogar gefördert. Nicht selten werden die Spieler mit einbezogen. Auf diese Weise kann man diejenigen, die sich gar nicht unter Kontrolle haben und der Gesellschaft gefährlich werden könnten, unauffällig aussortieren. Es gibt Verletzte bei solchen Schlägereien, und immer sind auch ein paar Todesfälle zu verzeichnen.

 

Das hat natürlich nicht das Geringste mit den ernsthaften Spielen unserer nationalen Fußballligen zu tun, die in großer Ruhe und gesittet ablaufen. Die Regierung würde niemals zulassen, dass hier Ausschreitungen vorkommen. An einem solchen Fußballspiel als Zuschauer teilzunehmen, ist eine große Ehre und noch lange nicht jeder kann das erreichen. Wir von der Zeitung allerdings, sind zwei-, dreimal im Jahr alle dabei, das ist man unserem allgemeinen Ansehen schuldig.

 

Diese Fun-Plays dagegen – da kommt jeder hin, der will. Unsereiner geht natürlich nicht sehr oft, schon um sich nicht mit dem Pöbel gemein zu machen. Aber manchmal eben doch. Dazu sagt niemand etwas. Ich war schon recht lange nicht mehr bei den Lonely Boys, deswegen fand ich seinen Vorschlag genial. In dem Tohuwabohu, das dort herrschen würde, könnte man sicher unauffällig miteinander sprechen. Auch war da nicht die Zeitfalle. Zwei Stunden als Rahmenlimit, damit konnte man schon etwas anfangen! Natürlich musste man auf der Hut sein. Das muss man immer und überall. Aber sie würden eher auf die Krawallbrüder achten, würden die Schläger provozieren, um die wirklich renitenten herauszufinden, das Geschwür unserer Gesellschaft.

 

Ich erschrak, als ich ihn auf mich zukommen sah. Jetzt, wo ich wusste, dass er anders war als wir anderen, meinte ich, es auch in seinem Äußeren zu erkennen. Da war eine finstere, düstere Stimmung, die ihn umgab wie eine Aura, die man beinahe mit den Händen greifen konnte. Auch ging eine Härte von ihm aus, die mich im Innersten erschütterte. Etwas in seinem Blick wirkte geradezu metallisch, und ich fühlte seine kompromisslose Unerbittlichkeit. Gleichzeitig wuchs meine Angst, Angst nicht nur vor den Konsequenzen meines Fehlverhaltens, meiner sträflichen Wissbegier, sondern auch vor ihm. Selbst wenn er keine Falle war – und nach allem glaubte ich das eigentlich nicht mehr – würde mich mein Einlassen auf ihn, auf seine Geschichte, vielleicht mehr kosten, mehr von mir fordern, als ich das heute abzuschätzen in der Lage war. Allerdings war mir klar, dass es kein Zurück mehr gab.

 

Er ging an mir vorbei und sagte leise, dabei durchaus in eine andere Richtung blickend: „Komm mit!“

Und als hätten wir uns abgesprochen, als hätten wir dies oft und lange geprobt, ging er weiter, und auch ich schlenderte noch ein paar Schritte in meine Richtung, ehe ich stehen blieb, mich umsah, als überlegte ich unschlüssig, womit ich mich erfreuen könnte, sah, dass auch er stehen geblieben war und ging dann gezielt auf einen Stand zu, an dem Würstchen verkauft wurden und Getränke. Ich vermied Bier, um nicht in die Gruppe der Trinker einsortiert zu werden. Dann zog ich mich zurück an einen der etwas abseits vom Hauptstrom befindlichen Stehtische. Er hatte sich ebenfalls etwas zu essen gekauft und kam jetzt langsam auf mich zu, langsam, nicht gezielt. Er wartete sogar, bis sich ein weiterer Mann zu mir gesellt hatte, um sich erst dann zu uns zu stellen. Um uns herum herrschte reges lautes Treiben.

„Wie ist die Wurst?“ fragte er mich, und ich antwortete schnell: „Gut. Wirklich gut.“

„Und dieses neue Zeug, was du da trinkst?“ fragte er den Fremden, „kann man das genießen?“ Der hatte ein ordinäres Gesicht, einen leeren, dumpfen Ausdruck in den Augen.

„Bier ist besser“, kam die Antwort.

„Und warum trinkst du das dann?“

Ich fragte mich, was er beabsichtigte.

„Ham' keins mehr.“

„Lass dich nicht verarschen. Geh rüber in die Südkurve, Mann! Wenn der dir da auch keins geben will, helfen dir die Kumpel.“

Also das war es. Er hatte messerscharf gesehen, dass man dem hier kein Bier mehr geben wollte. Manche von den Würstchenverkäufern scheuten die Randale. Und er hatte noch etwas begriffen. Wenn sie sich trauten, hier kein Bier an solche auszugeben, von denen sie Ärger erwarteten, den die Regierung bei solchen Gelegenheiten ausdrücklich zu fördern beabsichtigte, hieß das auch, dass die Beobachter heute an anderer Stelle konzentriert waren.

„Du bist in Ordnung“, sagte der Ordinäre und war verschwunden.

 

Wir fanden einen umgeschlagenen Baumstamm am Rande des Geschehens, auf dem wir uns niederließen. Niemand achtete auf uns. In der Menge bist du am einsamsten, wenn du ihre Vorlieben nicht teilst. Und du kannst dich in ihr wunderbar verstecken.

 

„Sie haben mich noch aus einer embryonalen Zelle geschaffen“, sagte er unvermittelt. Ich zuckte zusammen, fühlte, wie meine Hände feucht wurden. Unwillkürlich versuchte ich, meinen trockenen Mund mit Speichel aufzufüllen.

„Hast du überhaupt die geringste Ahnung von all dem?“ fragte er, „von allem, was da so vor sich geht? Weißt du, was sie tun mit uns, wofür sie uns brauchen und verwenden und wie viele von uns sie aufziehen und wieder verbrauchen?“

„Nein“, antwortete ich atemlos.

„Also weißt du gar nichts?“

„Nur, was man so hört, nichts Genaues.“

„Gibt es das tatsächlich, in euerer Gesellschaft, dass ‚man was hört‘?“ Er sagte ‚in eurer Gesellschaft‘. Natürlich fühlt er sich nicht zugehörig, das kann ich verstehen.

„Nun?“ fragte er noch einmal, als ich nicht antwortete, „wie ist das mit dem Hörensagen?“

 

Ich kann es ihm nicht genau erklären. Manche Dinge liest man einfach zwischen den Zeilen. Oder man hört es neben den tatsächlich ausgesprochenen Worten. Es gibt auch immer wieder welche, die unvorsichtiger sind, als andere. Und dann sind da noch die ganz legalen Gerüchte, die, die von der Regierung bewusst in die Welt gesetzt werden, um die Reaktionen der Menschen darauf zu erfahren. Also, was auch immer der Hintergrund für mein Wissen ist, auf jeden Fall habe ich von den Klonen gehört und auch von dem großen militärischen Zweck, den sie erfüllen, auch wenn der in seinem ganzen Ausmaß natürlich verborgen bleiben muss.

 

Ich sagte es ihm.

„Ja“, erwiderte er, „militärischer Zweck. Das ist wohl so. Alles dient dem einen großen Zweck, die Regierung unverwundbar zu machen. Dafür brauchen sie Menschen in großer Zahl. Verstehst du. Nicht so sehr die Maschinen, Gewehre, Panzer, die ganze Latte. Davon haben sie ohnehin genug. Nein, sie brauchen Menschen, eine Masse von Menschen, unvorstellbar viele, unverwundbare Menschen. Solche, gegen die es keine Mittel gibt. Die überall einsetzbar sind mit tödlicher Präzision und einer Wendigkeit, einer allseitigen, umfassenden Verwendbarkeit, die keine einzelne Maschine je erreichen wird.“

„Sind Klone unverwundbar?“ fragte ich und dachte gleichzeitig, wieso hat er dann Angst, wieso ist er so vorsichtig? Meinetwegen? Er stieß einen grunzenden Laut aus, der so angefüllt war von Hass und Verachtung, dass er mich zutiefst erschreckte.

„Du hast wirklich keine Ahnung!“ stieß er hervor. „Nein, Klone sind nicht unverwundbar. Im Gegenteil.“ Er machte eine kleine Pause, um dann mit einer Schärfe fortzufahren, die mich frösteln ließ.

„Sie benutzen uns als Maschinen, sie tun tatsächlich so, als seien wir Maschinen – nein, im Grunde gehen sie mit den Maschinen viel sorgsamer um, weil die kaputt gehen können, gewartet, gepflegt werden müssen, damit sie möglichst lange halten. Solche Sorgfalt lässt man bei den Klonen nicht walten.“ Wieder hielt er einen Moment inne. Dann sagte er, und plötzlich war da eine unsägliche Erbitterung in seiner Stimme: „Aber wir sind es nicht. Wir sind keine Maschinen. Das ist das schreckliche, wir sind Menschen.“

Das Wort hatte etwas grenzenlos Unheimliches, so wie es aus seinem Mund kam. Der Blick aus seinen stahlharten, metallischen Augen traf mich wie ein dumpfer Schlag. Etwas lag darin, das zu mir drang wie der Aufschrei eines verwundeten Tieres, das gefangen ist und sich seiner Hilflosigkeit bewusst und das dennoch nicht aufgeben wird, das kämpfen wird um sein bereits verlorenes Leben bis zum letzten Atemzug.

 

Die Bedeutung dessen, was er gesagt hatte, dämmerte langsam in mir hoch.

„Das Einzigartige hat einen bestimmten Wert, den das Vielfache nicht hat“, fuhr er fort, „das verstehst du doch? Es ist wie mit jedem anderen Gut: wenn man es leicht erhält, wenn es viel davon gibt, kümmert man sich nicht weiter darum. Sie haben die Möglichkeit, uns identisch zu vervielfältigen. Deswegen gilt ihnen ein Menschenleben nichts. Inzwischen können sie jeden von uns klonen. Jeden von euch. Sie könnten auch dich klonen, machst du dir das klar?!“ sagte er und blickte mich eindringlich an.

 

Ich bin völlig durchnässt von meinem eigenen Schweiß. Nein, ich habe niemals daran gedacht, es ist eine zu absurde Möglichkeit, und ich glaube auch jetzt nicht daran, da er mich damit konfrontiert. Schließlich bin ich aus dem Embryonalstadium lange hinaus. Ich weiß immer noch nicht, was er von mir will und ob er mich fertig machen möchte.

 

„Wie – wäre das möglich?“ fragte ich, mich vorsichtig nach allen Seiten umschauend, um einen eventuellen Mithörer auszumachen. Ich sah niemanden, der dafür in Frage gekommen wäre. Wir saßen wie auf einer Insel. Gleichzeitig wusste ich, dass es keinen Schutz dagegen gab. Die Regierung kann jeden, den sie beobachten möchte, so beschatten, dass er nicht das Geringste davon bemerkt. Irgendwie vertraute ich darauf, dass er es wissen würde, oder spüren, wenn uns Gefahr drohte. Es ging mir durch den Kopf, dass ich mich schon auf ihn zu verlassen begann. Konnte das gut gehen?

 

Er lachte bloß, statt eine Antwort zu geben.

„Bei mir früher war es noch eine embryonale Zelle. Natürlich bin ich, wenn man es genau nimmt, jünger als mein erstes Ich, das bereits einige Wochen lebte, ehe man es untersuchen und feststellen konnte, dass seine Entwicklung völlig normal verlief. Erst dann hat man dem Embryo eine Zelle entnommen, um mich zu klonen. Es war damals alles noch ein enormer Aufwand. Aber natürlich ist es das letztlich auch heute noch, trotz aller Fortschrittlichkeit. Jedenfalls, wenn man die Verdopplung so perfekt vornimmt, wie das bei uns der Fall gewesen ist. Aber es wird immer einfacher. Und bei denen, die für militärische Zwecke eingesetzt werden, ist man ohnehin nicht so sorgfältig. Es kommt da nicht auf geringe Differenzen an. Selbst Fehlentwicklungen, schwächliche Exemplare etwa, lässt man gelten, es findet sich immer ein Verwendungszweck. Man züchtet bei denen auch immer gleich mehrere von einer Sorte, zehn, zwanzig Stück auf einmal. Sie werden in Kasernen gehalten und gedrillt und auf ihre Aufgabe eingeschworen. Sie funktionieren nahezu perfekt, musst du wissen. Sie leben kein normales Leben. Sie werden bis zu ihrem Einsatz großgezogen und dann verbraucht. Sie haben keinerlei soziale Kontakte, natürlich auch keinerlei sexuellen...“ Seine Worte ebbten weg. Er blickte in eine mir unbekannte Ferne. Als er mir schließlich seinen Kopf zuwandte, wusste ich, was er fragen wollte.

 

Ich hob etwas verunsichert die Schultern. Er würde meine Antwort nicht mögen. Ich dachte an meine Erfahrungen mit den Badehäusern, die mich nicht sonderlich erbaut hatten, obwohl es grundsätzlich auch nicht unangenehm war. Allerdings hatte es etwas Überflüssiges an sich. Aber es galt als notwendig für die Lebenshygiene. Ich kannte andere, die mit großer Begeisterung in die Badehäuser gingen, lieber noch als zu einem Spiel der Lonely Boys. Ich wusste, dass er etwas anderes meinte.

„Deine Frau?“ fragte er. Ich schüttelte langsam den Kopf. Natürlich hätte es sein können. Es war ja nicht verboten. Man musste lediglich für die Zeugung von Kindern die Erlaubnis einholen. Ich hatte aber, ehrlich gesagt, niemals die geringste Lust verspürt, mit meiner Frau – und ich habe auch nicht den Eindruck, dass sie je einen Gedanken daran verschwendet hat. Ich glaube, bei meinen Eltern und bei den meisten Menschen war und ist das genauso.

 

Wenn ich noch einmal meine Großmutter anführen darf, so weiß ich allerdings, dass diese allgemeine Einstellung zur Sexualität eine Errungenschaft unserer neuen Zeit ist. Die Generation meiner Großeltern scheint noch einigen Wert darauf gelegt zu haben. Sie hat auch immer behauptet, eine Gesellschaft, die sich nicht mehr auf die gesunden sexuellen Gefühle ihrer Mitglieder verlassen könne, sei in sich krank, verliere ihre Menschlichkeit und müsse über kurz oder lang scheitern. Aber ich denke, sie hat hier, wie bei so vielen anderen Dingen, einfach nicht den genügenden Weitblick gehabt. Denn Gefühle machen uns schwach, lenken uns von unseren Pflichten ab – und wie könnten Schwachheit und Pflichtvergessenheit zum Wohl einer Gesellschaft eingesetzt werden? Da stimmt doch was nicht, das muss man doch einfach sehen! Ich verstehe selber nicht, warum ich trotzdem immer das Gefühl hatte, dass meine Großmutter mit allem, was sie sagte, auf eine letztlich gar nicht nachzuvollziehende Art Recht zu haben schien. Vieles habe ich niemals begriffen.

 

Ich las in seinen Augen ein Wissen, das über meines weit hinausging.

„Haben Sie...?“ ich wollte fragen ‚mit Ihrer Frau‘? Aber ich wusste nicht einmal, ob er eine Frau hatte. Ich wusste immer noch gar nichts über ihn. Er schien zu merken, dass ich an mehr als an der Antwort auf diese eine Frage interessiert war.

„Letztlich weiß ich nicht, ob ich mehr zu bedauern bin, oder ihr!“, sagte er versonnen, und zum ersten Mal war für einen Moment das Harte, Wahnsinnige, Bösartige, das ihn sonst so ganz zu umfangen schien, von ihm gewichen.

 

„Bei uns war alles anders, musst du wissen. Nicht wie bei diesem militärischen Kanonenfutter. Die Sorgfalt mit der man uns aufgezogen hat, war unvergleichlich. Ich bin als identische Verdoppelung meines Ichs aufgewachsen. Der kleine Altersrückstand, der zunächst bestand, konnte durch Wachstumsspritzen leicht aufgeholt werden. Im Alter von zwei Jahren gab es diesen Unterschied nicht mehr. Aber es gab einen anderen, einen viel gravierenderen Unterschied zwischen mir und meinem ersten Ich. Denn ich war der Ersatz. Er war, sozusagen, das Original.“  Die Bitterkeit legte sich wieder in seine Züge.

 

„Hatten Sie dieselbe – Mutter?“ wagte ich zu fragen, weil mir immer noch nicht klar war, wie das alles ablief.

„Du meinst denselben Aufzuchtkörper!“ Was für ein Wort! Aber es traf den Sachverhalt wahrscheinlich ziemlich genau. Ich nickte.

„Ich will versuchen, es zu erläutern“, sagte er, „es hört sich zunächst ein bisschen kompliziert an, aber ich denke, du begreifst, wie es sich verhält. Da waren am Anfang natürlich der prämierte Samen der Vaterfigur und die ebenfalls ausgewählte Eisubstanz der weiblichen Komponente. Man hat uns nie mitgeteilt, wer die Personen hinter diesem Erbgut waren. Ich glaube nicht, dass sie es für wichtig hielten, dass man das wusste, oder vielleicht hielt man es sogar für gefährlich.“ Er stockte einen Augenblick, überlegte, dann fuhr er entschieden fort: „Nein, ich glaube, sie finden das gänzlich unbedeutend. Wer weiß auch, ob diese...“ wieder hielt er einen Augenblick inne, „...ob diese väterlichen und mütterlichen Komponenten zum Zeitpunkt des Zusammenschmelzens der beiden Ausgangsmaterialien überhaupt noch existierten. Tatsache ist, dass sie die Materialien im Reagenzglas verschmelzen und dann einem Mutterkörper einpflanzen. Diese Körper sind zwischen siebzehn und fünfundzwanzig Jahre alt. Sie gebären jedes Jahr so ein zusammen gemischtes Wesen. Dann werden sie ausgewechselt. Sie sind nach durchschnittlich acht Geburten auch ziemlich verbraucht und nicht mehr gut zu verwenden.“

 

Ich starrte ihn an, um herauszufinden, ob er meinte, was er sagte. Nichts deutete darauf hin, dass er mich etwa verhöhnen wollte.

„Was geschieht dann mit diesen – Körpern?“ Ich versuchte an junge Frauen zu denken, die ich kannte. Schwer vorstellbar, dass sie jedes Jahr schwanger würden. Im normalen Leben bekamen die Frauen die Erlaubnis zur Fortpflanzung zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahren. Er zuckt mit den Schultern.

„Ich weiß es nicht“, sagte er, „ich habe mich nie darum gekümmert.“

Auf meinen fragenden Blick hin gestand er, dass er mit dem Körper seiner Austrägerin nach der Geburt keinen Kontakt mehr gehabt und dass er niemals gewusst hatte, wer sie war.

„Wir wurden einer Amme zugewiesen. Wir hatten jeder eine eigene. Später übernahmen verschiedene Personen unsere Erziehung. Ja, so war das noch damals. Inzwischen ist der Fortschritt auch über dieses eher mittelalterliche Verfahren hinweggegangen.“

 

Ich spürte den bitteren Spott und wagte nicht, mich nach den jetzt üblichen Methoden zu erkundigen. Stattdessen lag mir etwas auf der Seele, was ich die ganze Zeit über schon wissen wollte.

„Wie alt sind Sie?“ fragte ich ihn.

„Eine gute Frage“, erwiderte er und lachte gehässig auf. „Er wäre jetzt 33.“

Ich verstand nicht sogleich.

„Er? Sie meinen Ihr anderes Ich? Das...“

„Original. Ja. Das meine ich.“

„Aber dann sind sie ja auch...“. Es war nicht zu glauben. Dreiunddreißig Jahre, kaum älter als ich selber. Ich wusste nicht, was ich mir eigentlich vorgestellt hatte. Wenn man ihn genau ansah, erkannte man, dass er die Wahrheit gesagt hatte. Natürlich, er hatte sich nicht glätten lassen. Er stand auf der Kippe. Wenn er sich nicht bald dazu entschloss, würde er sehr unangenehm auffallen. Aber das allein war es nicht. Ich starrte ihn an. Er wirkte um vieles älter, verbrauchter, abgenutzter.

„Ich -“, sagte er und seine Stimme verdüsterte sich ebenso wie sein Blick, in den ein wahnsinniger Schmerz zurückgekehrt war, „mich kannst du nicht mit denselben Maßstäben messen. Es sind nicht die Jahre, die mich altern lassen. Es ist dieses Leben aus zweiter Hand, dieses Ersatzleben. Die Spannung, die sich niemals lösen darf, die Frustration, die nie ihre Befriedigung findet, der Neid auf das Original, der einen zerfrisst, der Hass, der sich ständig steigernde Hass, an dem man kaut und würgt und der einen schließlich zu ersticken droht.“

 

Er schwieg eine Weile, während wir beide wie von einer Reise plötzlich zurückgekehrt, uns wieder fanden in dem Getümmel des Stadionbetriebs, der an uns vorbeiflutete und über uns hinwegschwappte, ohne uns zu berühren.

„Du kannst nicht wissen, wie das ist“, fuhr er fort, „du kannst es dir in deinen furchtbarsten Träumen nicht vorstellen. Es gibt für euch keine annähernd vergleichbare Erfahrung. Ich habe mit ihm leben müssen, neben ihm. Ich habe ihn beobachten müssen, ich habe tun müssen, was er tat, um jederzeit für ihn einspringen zu können. Denn das ist es, was sie wollen: sie schaffen Ersatzmenschen, die die ersten ersetzen können, wann immer sie wollen oder gezwungen sind, es zu tun. So braucht man niemals zu fürchten, dass eine wichtige Person vom Feind eliminiert wird. Sofort hat man den Ersatz bei der Hand. Man setzt auch bei Feindberührung direkt den Klon ein, um den Gegner zu täuschen, der nicht absehen kann, ob sich eine Attacke lohnt, wenn sie doch nur den Ersatzmann trifft. Natürlich standen wir am Anfang einer Entwicklung, die inzwischen längst über solche Umständlichkeiten hinausgewachsen ist. Aber man hatte schon Großes vor mit K1."

„K1?“

Er nickte. „Später, als wir geflohen sind, hat er den bürgerlichen Namen Wallraf angenommen. Aber solange wir gemeinsam aufgezogen wurden, waren wir K1 und K2. Ich habe ihn so gehasst! Der einzige, der das begriffen hat und nachvollziehen konnte, war er selber, weil er dachte wie ich. In allem, was er tat, hat er schon meine Reaktion vorausgesehen, die seine eigene gewesen wäre. Er hat tatsächlich sogar versucht, mich zu trösten, mir zu helfen, irgendwie. Deswegen habe ich ihn gleichzeitig geliebt.“

 

Seine Stimme schien wieder zu versagen. „Liebe“, flüsterte er leise. „Liebe. Was für eine Wohltat es ist, allein dieses Wort auszusprechen. Du hast keine Ahnung, was das bedeutet. Wenn ihr es überhaupt verwendet, dieses Wort, dann habt ihr seine Bedeutung schon auf eine Art vergewaltigt, die ihm seine Wirksamkeit gänzlich genommen hat. Aber hüte dich“, sein Gesicht kam nahe an meines heran, und wieder hatte der Ausdruck seiner Augen etwas Bedrohliches, „es ist ein gefährliches Wort. Es kann sich freimachen von eurer Pervertierung, kann sich verselbständigen und dann plötzlich gewinnt es an Kraft und Wirkung zurück, und du bist der Verlierer – oder der Gewinner.“

 

‚Meine Großmutter –‘, wollte ich sagen, wie um ihm zu bedeuten, dass ich trotz allem verstand, wovon er sprach. Aber ich wagte es nicht.

 

„Natürlich“ fuhr er fort, „hat auch er mich gehasst, weil ich ihm im Nacken stand, weil ich immer da war, ihn beobachtete, ihn bedrohte mit meiner Möglichkeit, ihn jederzeit ersetzen zu können. Nur wenn ich seine Angst spürte, fühlte ich ein kleines bisschen Befriedigung. Ich hätte ihn vernichten wollen! In all den Jahren unseres gemeinsamen Aufwachsens, in denen ich mich nicht frei entwickeln konnte, weil er sich entwickelte und ich ihm nacheifern musste, war kein Wunsch, keine Empfindung je stärker als dieses hasserfüllte Trachten danach, ihn los zu werden. Gleichzeitig begriff ich, dass mein Leben ohne ihn doch das gleiche sein würde, weil wir identisch waren. Mein Gott!!“

 

Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, mit einer endgültig anmutenden Geste, so als wolle er seine Augen schließen um nichts mehr sehen, um nicht mehr daran denken zu müssen. Aber sein inneres Auge ließ sich nicht verschließen mit dieser äußeren Handbewegung. Er wurde gemartert von der Erinnerung, von seinem Bewusstsein, das, ich begriff es wohl, durch und durch gespalten war.

 

„Je mehr er war wie ich, je mehr ich die Nähe spürte, die uns verband, die uns aneinander kettete auf grausame Weise, desto unerträglicher wurde die Situation. Wir hatten bei allem wenig Gelegenheit, allein miteinander zu sprechen. Wir waren ständig umgeben von Personen, die uns bewachten und betreuten. Ich glaube, sie haben ihn auch betreuen müssen. Ich denke zwar, alles in allem hatte er den glücklicheren Part erwischt, weil er das Original leben durfte, während ich lediglich der Ersatzmann war. Aber er hat ebenfalls große Schwierigkeiten gehabt, da bin ich mir sicher. Denn schließlich kam die Idee zur Flucht von ihm. Auf diesen Gedanken wäre ich nie gekommen, so sehr war ich darauf fixiert, mich von ihm durch seine Nichtexistenz zu befreien. Allerdings leuchtete mir der Vorschlag sofort ein. Es schien die einzige wirkliche Möglichkeit, uns voneinander zu trennen.“

 

In unserer unmittelbaren Nähe brach eine Schlägerei los. Ich wurde unruhig. Er gab mir einen Wink und wir schlenderten langsam davon, Richtung Ausgang. Das Spiel war, wie immer, leicht ausgeartet und jetzt schrien die alkoholisierten Fans beider Mannschaften gegeneinander an. Bald würde die ganze Umgebung in einem chaotischen Durcheinander brodeln, und die Sicherheitskräfte würden die Hauptstörenfriede aussortieren.

 

Er sagte: „Wir sehen uns wieder.“ Und ich fragte: „Warum ich, K2, warum erzählen Sie mir das alles?“

„Nenn mich nicht K2, es würde uns sofort verraten. Ich bin jetzt Wallraf, das kannst du dir doch merken? Und siez‘ mich nicht, wir sind über solche Formalitäten hinaus, Böll.“

Ich erschrak. Er hatte zum ersten Mal meinen Namen genannt.

 

Ich sah ihm nach, während wir verschiedenen Ausgängen zustrebten. Selbst von hinten strahlte er etwas aus, das seine 33 Jahre Lügen zu strafen schien. Er ging aufrecht, aber er ging nicht wie ein junger Mensch. Er musste um das Jahr 2031/2032 herum entstanden sein. Es war unfassbar, in all den Jahren hatte man nie, niemals an offizieller Stelle auch nur das Geringste über das Klonen erfahren. Und hier lief der lebende Beweis herum, dass die Regierung offensichtlich bereits seit Jahrzehnten mit großem Erfolg auf diesem Gebiet arbeitete. Großer Erfolg, dachte ich, weil ich gewohnt bin, in Zusammenhang mit unserer Regierung immer alles als ‚großen Erfolg‘ zu werten. Aber ich spürte eine Angst in mir hochsteigen und ein Bewusstsein, dass diese Größe Raum gab für erschreckende Möglichkeiten.

 

 

‚Zehn, zwanzig Exemplare‘, gehen mir K2‘s Worte durch den Kopf. Ich erblicke die alkoholisierte Menge der pöbelnden, schreienden Fans und unwillkürlich denke ich, dass die sich nicht viel unterscheiden würden von einem Haufen gleichartiger Klone. Mir schießt kurz durch den Kopf, dass man vielleicht im Archiv etwas über die Entwicklung des Klonens finden könnte. Es ist nicht sehr wahrscheinlich – jedenfalls nicht für die letzten fünfzig Jahre. Aber vielleicht aus einer noch früheren Zeit, vielleicht aus einer Zeit, als man noch nicht so weit war und darüber noch harmlos berichten konnte. Ich erinnere mich, dass meine Großmutter davon erzählt hat, von den erfolgreichen Klon-Versuchen mit Tieren, und wie aufgeregt sie war, weil sie fürchtete, man würde schließlich auch Menschen klonen. Man hat bereits am Anfang unseres Jahrhunderts oder sogar noch am Ende des vorigen damit experimentiert, da bin ich ganz sicher. Aber an Zeitungen oder Schriften aus dieser Zeit heranzukommen, ist gänzlich ausgeschlossen.

 

 

4

 

Er hatte mir immer noch nicht gesagt, warum er mich ausgewählt hatte. Ich nahm den Gliederbus in die Stadt.

 

Ich fahre nicht gern mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Seit sie den Gebrauch von Privatfahrzeugen vor einigen Jahren drastisch eingeschränkt haben, sind die Busse so ungeheuer überfüllt und mir wird leicht schlecht, wenn ich mit so vielen unbekannten Menschen in Kontakt komme. Der Geruch. Die Ausdünstungen von Schweiß und Misstrauen. Aber zu laufen kam natürlich gar nicht in Frage.

 

Ich musste auf jeden Fall noch einmal in die Redaktion zurück. Schröder hatte so eine merkwürdige Andeutung gemacht. Erst habe ich gar nicht darauf reagiert. Ich war völlig absorbiert von dem bevorstehenden Treffen im Stadion. Aber es klang in mir nach. Irgendetwas schien dahinter zu stecken. Er hatte gesagt: ‚Dr. Spenglers Artikel über die technische und wissenschaftliche Überlegenheit der Co-lone-University sei auf beträchtliches allgemeines Interesse gestoßen‘. Er hatte es mir im Vorbeigehen gesagt, vor aller Augen und Ohren, gerade in dem Moment, als ich meine Freimarke an der Pforte abholte, die mich zum Ausgang und zur Teilnahme an dem Spiel der Co-lone Lonely Boys berechtigte. Also in dem Augenblick, als ich der Redaktion den Rücken kehrte und einem gewiss erlaubten, aber doch auch wieder nicht so dringend erwünschten Vergnügen nachzugehen gedachte. Hatte ich falsch reagiert? Würde man das gegen mich verwenden? Wollte er mich warnen? Wovor?

 

Ich muss ein Wort zu Schröder sagen. Nichts von dem, was Schröder äußert, ist unwichtig. Er hat eine unnachahmliche, geradezu unheimliche Art, die größten Allgemeinplätze von sich zu geben, belanglose Mitteilungen verlauten zu lassen, unangreifbare Kommentare abzugeben, die allesamt aus offiziellen Verlautbarungen zitiert worden sein könnten, zum Teil auch sind, so dass ihm niemals auch nur das geringste Fehlverhalten nachgewiesen werden kann.

 

Und doch war es gerade die frappierende Redundanz seiner Worte, die mich eines Tages begreifen ließ, dass er niemals ohne eine dahinter steckende Absicht spricht, die eben nicht offen liegt, die nur der versteht, der sich darauf einlässt und versucht, herauszubekommen, warum Schröder in einem gegebenen Moment etwas ausspricht, was ohnehin allgemein bewusst ist. Er hat mir auf diese Weise schon viele Informationen zukommen lassen, die sich allesamt als wichtig herausgestellt haben.

 

Natürlich kann man ihn darauf nicht ansprechen. Er würde völliges Unverständnis vortäuschen, völlige Ahnungslosigkeit. Und ich weiß auch nicht, ob er nicht gezielt von der Regierung eingesetzt worden ist, um auf diese subtile Weise Dinge zu klären, die man offiziell nicht ansprechen und diskutieren möchte. Vertrauen kann ich zu Schröder nicht haben. Aber seine Informationen sind zu gebrauchen, und ich kann mich darauf verlassen, dass ich sie auch verstehen soll, wie er sie weitergibt – ob mit oder ohne Segen der Regierung. Er weiß längst, dass ich ihn verstehe. Was mir nicht klar ist, ist, in wie weit auch andere verstehen, wovon Schröder spricht. Ich nehme aber an, dass der eine oder andere das Spiel sehr wohl begreift. So etwa entstehen Gerüchte. Anders wäre das gar nicht möglich.

 

Ich musste die ganze Zeit, während ich in dem überfüllten Gliederbus stadteinwärts fuhr, über diesen merkwürdigen Satz nachdenken. Dr. Spengler war ein hoch angesehenes Mitglied der Redaktion. Er schrieb sowohl über Wissenschaft und Fortschritt, als auch über Politik. Er war ungeheuer vielseitig und in der Lage, ein- und denselben Sachverhalt von den verschiedensten Seiten aus so zu beleuchten, und verständlich zu machen, dass die Regierung niemals in die Verlegenheit kam, sich auf einen bestimmten Standpunkt festgelegt zu haben, bei was es auch sei, wenn der sich aus unterschiedlichsten Gründen als unhaltbar erweisen sollte. Der Posten des stellvertretenden Chefredakteurs, der durch das Unglück beim Tauchen des bisherigen Stelleninhabers vakant geworden war, hätte nach aller Regel der Wahrscheinlichkeit und Plausibilität von Dr. Spengler ausgefüllt werden sollen. Dass ich selber gerüchteweise in den Genuss einer möglichen Wahl gekommen war, konnte allerlei bedeuten und zwar ebenso sehr, dass ich tatsächlich dafür in Frage kam, wie dass ich auf keinen Fall hierfür in Frage käme.

 

Natürlich ist es schmeichelhaft, zu glauben, ich könnte für einen solchen Posten im Gespräch sein. Aber wenn ich ehrlich bin, denke ich eher, es ist eine Prüfung, die man mir auferlegt, um herauszufinden, wie ich mit solch unvermuteter und letztlich unverdienter Ehrung umgehen würde. Ich habe mich bisher schlicht bedeckt gehalten. In solchen Situationen ist es immer besser, abzuwarten. Ich habe auch mit meiner Frau nicht darüber geredet. Ich halte sie für ehrgeizig genug, hieraus Kapital schlagen zu wollen. So könnte sie etwa damit hausieren gehen, dass man mich überhaupt mit der Neubesetzung in Verbindung bringt, auch wenn keine Chance besteht, dass ich tatsächlich in die engere Wahl komme. Aber ich halte dieses Spiel für gefährlich, es kann zu leicht ins Gegenteil umschlagen. Sie ist verblendet genug, das nicht zu begreifen.

 

Wenn Schröder mir gegenüber Dr. Spengler erwähnte, konnte er damit beispielsweise auf die Neubesetzung verweisen. Er hatte positiv von Spengler gesprochen: einer seiner Artikel ist – wieder einmal – auf beträchtliches allgemeines Interesse gestoßen. Das war eine typische Schröder-Aussage: Der ohnehin anerkannte Spengler hat weiter für seinen Ruhm gesorgt. Damit war die Besetzung der Stellvertreterstelle sozusagen gelaufen. Das war eigentlich klar und ohnehin zu erwarten. Darin lag nicht die geringste Information für mich. Was also wollte er damit wirklich sagen? Mir stieß das Wort ‚beträchtlich‘ auf. Beträchtliches Interesse, das war eigentlich ein sehr starkes Wort. Beispielsweise wenn die Regierung ‚beträchtliches Interesse‘ an mir hätte, wäre ich ein gemachter Mann.

 

Der Bus fuhr langsam, aber stetig. Da er auf Schienen lief, konnte es keine unliebsamen Abweichungen geben. Ich registrierte den unangenehmen Geruch nach eingepferchten Menschen kaum, weil ich plötzlich aufgeregt wurde. Es gab noch eine andere Möglichkeit. Wenn die Regierung ‚beträchtliches Interesse‘ an mir hätte, könnte dies auch meine Vernichtung zur Folge haben. Ich verstand vollkommen, dass man an meinen augenblicklichen Aktivitäten ganz sicher beträchtliches Interesse haben und dass mir das keineswegs zum Guten gereichen würde. Beträchtlich war ein starkes Wort, aber es war nicht eindeutig positiv. Wie, wenn Schröder mir sagen wollte, dass mit Spengler keineswegs alles so gut lief, wie man glaubte? Er hatte nicht gesagt ‚großes‘ oder ‚größtes‘ oder ‚uneingeschränktes‘ Interesse. Aber das konnte man bei einem Mann wie Spengler schließlich erwarten. Wieso nur beträchtliches Interesse? War Spengler in Ungnade gefallen? Rückte ich auf der unsichtbaren Hierarchie der Stellenanwärter nach oben?

 

Vorsichtig sah ich mich nach allen Seiten um. Wurde ich beobachtet? Ich hoffte, dass man mir meine innere Erregung nicht ansah und versuchte ganz harmlos auszusehen. Was konnte ich Liebenswürdiges, Gesetzestreues tun, dass man mir positiv auslegen müsste? Jetzt rächte es sich, dass ich normalerweise eher unbehelligt durchs Leben ging. Vielleicht war schon alles zu spät. Vielleicht hatten sie mich im Stadion beobachtet, hatten beobachtet, dass ich mit diesem auffällig anders aussehenden Mann nur dagesessen und geredet hatte, ohne einen einzigen Blick auf das Spiel zu werfen. Vielleicht erkannten sie Klone ja auch sofort wegen dieser Andersartigkeit?

 

Warum hatte ich mich darauf eingelassen, mich sozusagen mit ihm vor aller Augen zurückzuziehen, statt mich mitten ins Gewühl der Zuschauer zu begeben, was von mir erwartet wurde? Aber wir hätten dort nicht sprechen können bei all dem Gebrüll, und die Gefahr, dass uns jemand belauscht hätte, wäre allzu groß gewesen. Abgesehen davon, wäre er mit seiner düsteren Ruhe, mit seiner Miene des gänzlich Unbeteiligten im Getümmel womöglich noch mehr aufgefallen.

 

Ich schwitzte wieder unerträglich, aber wenigstens das fiel nicht auf in diesem heißen, vollen Bus, in dem noch viele Fans der Lonely Boys schunkelten und grölten und einen Dunst von Alkohol verbreiteten, der nicht zum Aushalten war.

 

Plötzlich stieß mir einer von ihnen seinen heißen Atem ins Gesicht und sagte laut: „Ich kenn’ dich doch, du warst auch bei dem Spiel.“ Es war der Ordinäre, der, dem K2 den Rat mit dem Bier gegeben hatte. Ich kriegte einen Mordsschrecken. Was, wenn er mich auf meinen Begleiter ansprach? Was, wenn er gar nicht der besoffene, ordinäre Kerl war, der er vorgab zu sein, sondern ein Beobachter, auf mich angesetzt, und ich war ihm in die Falle gegangen?

„Hallo!“ versuchte ich herauszubringen, es klang kalt und krächzend.

„Ein Superspiel“, sagte der und kippte auf seinen Füßen. Ganz offensichtlich hatte er einen Weg gefunden, an Bier zu kommen, wie gesagt, wenn er nicht...

„Wir haben sie eingeseift, die Scheiß Hamburger, 2:0, hamse verdient, jawoll!“ Ich begann vor Schreck mit den Augen zu zwinkern. Mein Gesicht verzog sich in einem nervösen Flattern. Antworten konnte ich nicht. Er musste es für Zustimmung halten, rülpste mir ins Gesicht und sagte, indem er sich bereits umdrehte, um die Tür zu erreichen: „Du und dein Kumpel, ihr seid okay, völlig okay.“ Dann stieg er aus.

 

Mir war siedend heiß eingefallen, dass ich keinen Moment daran gedacht hatte, mich nach dem Verlauf oder dem Ausgang des Spiels zu erkundigen. Dem Kerl sei Dank. 2:0 für uns. Es wäre das erste, wonach ich in der Redaktion gefragt würde.

 

Wenn Spengler auf dem absteigenden Ast war, woran lag das? Natürlich an dem Artikel, den er geschrieben hatte, jenem Artikel über die „technische und wissenschaftliche Überlegenheit der Co-lone University“. An der Tatsache als solcher war nicht zu deuteln. Das war nicht anzuzweifeln und nicht ironisch abzuwerten. Unsere Universität war einzigartig in ihrer Fortschrittlichkeit. Schröder würde das nie in Zweifel ziehen, nie etwas anderes behaupten wollen. Die Information musste in dem Artikel selber liegen. Gleich, wenn ich in die Redaktion kam, würde ich die heutige Ausgabe noch einmal daraufhin durchsehen, was Spengler geschrieben hatte.

 

Der Pförtner fragte: „Und wie ist es ausgegangen?“

„Wie schon?“ gab ich augenzwinkernd zur Antwort. „Wir haben sie eingeseift! 2:0. Ein unsäglicher Haufen, die aus dem Norden.“

„Gab’s viel Zoff?“ fragte er wieder.

 

Ich habe nie gesehen, dass ein anderer Mann in der Pförtnerloge Dienst macht. Dieser hier scheint da angewachsen zu sein. Er weiß über alles Bescheid, und dabei kann er doch kaum etwas aus eigener Anschauung kennen.

 

„Wie üblich“, sagte ich vage, „ich glaube nichts Besonderes. Hab mich rechtzeitig davongemacht.“

Damit ließ ich ihn stehen, ehe er mir weitere, vielleicht unangenehmere Fragen stellen konnte und ging rüber in den Lesesaal. Einige Kollegen aus den weniger wichtigen Ressorts saßen da und zogen sich die Ausgabe von heute oder von gestern rein. Die Stars, die Anführer kommen natürlich morgens.

„He, Böll!“ sprach mich einer aus der Ratgeberecke an, den ich flüchtig kannte. „Wieso bist du jetzt noch hier?“ Das sollte nicht etwa heißen, wie kommt es, dass du überhaupt noch in der Redaktion bist, denn wir arbeiten rund um die Uhr. Das heißt, jeder kann zu jeder Tages- und Nachtzeit hier sein. Es kommt eben darauf an, wann man gebraucht wird. Unsere Zeitmesser sorgen ohnehin dafür, dass wir die fälligen Stunden arbeiten – und kein Entkommen. Was er meinte, war die Tatsache, dass ich offensichtlich erst jetzt dazu kam, die heutige Ausgabe unserer Zeitung zu lesen.

 

Aber warum sagte er das? Blitzschnell überlegte ich, wie ich reagieren sollte. Normalerweise war das keine Bemerkung wert. Wir trafen uns nicht das erste Mal so spät im Lesesaal. Wir gehören beide einer Gruppe von Schreibern an, deren Bedeutung für das Erscheinen unserer Zeitung nicht gerade überragend ist. Was natürlich nicht heißt, dass wir uns etwa gehen lassen können. Das auf gar keinen Fall. Aber wir sind doch auch nicht in der vordersten Schusslinie. Und manchmal ist der Lesesaal morgens ohnehin so voll, dass es geraten scheint, erst später zu gehen. Größeren Ansammlungen von Menschen sollte man immer lieber aus dem Weg gehen, auch hier in der Zeitung. Man könnte in den Verdacht der Konspiration geraten. Bei den Spielen ist das etwas anderes. Andererseits sagte ich ja schon, dass die Teilnahme daran für unsereinen zwar nicht verboten, aber doch auch nicht unbedingt erwünscht ist. Das hat sicher genau darin seinen Grund. Der beste Beweis dafür, wie Recht die Regierung mit ihren Bedenken hat, bin ich ja heute selber.

 

Ich kann mich an seinen Namen nicht erinnern. Wieso erinnert er sich an meinen? Warum spricht er mich an, warum stellt er diese herausfordernde Frage, die mich in Zugzwang bringt und eigentlich, da wir uns auf gleichem Level bewegen, von seiner Seite aus unsinnig ist, mindestens ungeschickt. Sie fordert eine Retourkutsche meinerseits heraus. Der leise Verdacht, der durch Schröders Bemerkung in mir wach geworden ist, verdichtet sich. Bewegen wir uns noch auf demselben Level? Ich ziehe es vor, so zu tun als ob.

„Und du“, gebe ich also zurück, „was machst du noch hier?“ Er lacht kurz auf, ohne zu antworten, und es ist klar, dass er mein Spiel durchschaut. Aber er traut sich nicht, weiter zu fragen. Zu viele Ohren.

„Ich war bei den Lonely-Boys“, füge ich ungefragt hinzu, um ihn ein bisschen zu entschädigen.

„Oha“, macht er, „und?“

„Spannendes Spiel“, sage ich, obwohl ich weiß, dass er das nicht meint. Er will Blut lecken. Es kommt auf die Schlägerei im Nachhinein an.

„Wie viele?“ fragt er unverblümt. Wie viele sind erschlagen worden? Wie viele hat man beseitigt, wie groß war das Chaos, die Unordnung. Er will die Schreie der Verletzten hören, er will durch Blut waten. Eine irre, feuchte Erwartung in seinen Augen, vielleicht läuft ihm der Speichel im Mund zusammen. Ich bediene ihn nicht.

„Nicht so viele wie sonst“, gebe ich zur Antwort, „aber vielleicht war ich nur an der falschen Stelle. Seine Enttäuschung spiegelt sich ganz unverhohlen auf seinem Gesicht.

 

Ich setzte mich. Unser Gespräch war zu Ende. Es gab nichts mehr zu sagen. Es gab keine Gemeinsamkeiten. Er sollte nicht morgen glauben, anknüpfen zu dürfen an diese Begegnung. Gleichzeitig hatte ich das ungute Gefühl, dass er es tun würde, sollten wir uns wieder begegnen. Er war ja auch heute mutig genug dazu gewesen.

 

Einige der Anwesenden haben unser Gespräch verfolgt. Ich glaube sogar mit einem gewissen Interesse. Ist es tatsächlich so, dass ich bereits anfange, eine Rolle zu spielen? Aber vielleicht bin ich nur hypersensibel, ist mein Bewusstsein seit meiner Begegnung mit dem Klon in unberechtigter und unkontrollierbarer Weise geschärft?

Ich greife mir den Teil „Politik und Wissenschaft“ und vertiefe mich darein.

 

Ich muss erst einige andere Artikel durchgehen, ehe ich Dr. Spenglers kleinen Aufsatz lese. Wenn ich noch weiter beobachtet werde, muss unbedingt der Eindruck entstehen, dass ich die Zeitung unvoreingenommen zur Hand genommen habe. Ich lese etwa eine Viertelstunde lang, bis alle Anwesenden wieder endgültig zu ihren eigenen Texten zurückgekehrt sind. Manche starren nur auf die Zeitung. Ich bin überzeugt, dass sie nicht lesen, sie wenden das Blatt nie. Vielleicht schlafen sie mit offenen Augen. Vielleicht beobachten sie aber auch die anderen.

 

Endlich wagte ich es, den Artikel über die „technische und wirtschaftliche Überlegenheit der Co-lone University“ zu studieren. Er stand auf Seite fünf und war nur eine einzige Spalte, nicht einmal eine Seite lang. Ein Füller. Ich hatte einen Augenblick das Gefühl, den Text vor gar nicht so langer Zeit bereits schon einmal gelesen zu haben, bis ich darauf kam, dass es ein Text aus Versatzstücken war. Er hatte, soweit ich das beurteilen konnte, nicht den geringsten Informationsgehalt. Es war einer von denen, bei denen man die „technische und wirtschaftliche Überlegenheit der Co-lone University“ ohne die geringsten Schwierigkeiten ersetzten kann durch den „großartigen und engagierten Einsatz der hiesigen Feuerwehr“ oder die „frohe und mustergültige Bereitschaft der Müttergruppe Süd“ und dergleichen mehr.

 

Also, was um alles in der Welt wollte mir Schröder damit sagen? Es stand auf Seite fünf. War es das? Normalerweise standen Dr. Spenglers Auslassungen auf Seite zwei und drei, manchmal sogar auf der ersten Seite. Andererseits handelte es sich eindeutig nicht um einen wichtigen Aufmacher, sondern um einen Routinetext. Am wahrscheinlichsten war, dass man damit in letzter Minute einen anderen Text ersetzen wollte, der aus irgendwelchen Gründen nun doch nicht gedruckt werden sollte, der aber bereits das Layout festgelegt hatte.

 

Es fällt mir schwer, zu glauben, dass man aus diesem Text irgendwelche Schlüsse ziehen kann. Vielleicht habe ich mich getäuscht? Oder liegt es daran, dass Spengler ihn überhaupt unterschrieben hat, diesen eher bedeutungslosen Text? Ich beschließe, nicht weiter darüber nachzudenken. Ich sehe den Sinn nicht ein und bin müde. Vielleicht gehe ich jetzt einfach nach Hause und lege mich ins Bett. Dann kann ich morgen besonders früh im Dienst sein und den schlechten Eindruck von heute verwischen.

 

Mein Blick schweift noch einmal über Seite fünf, ehe ich das Blatt zuschlagen und mich erheben will. Da sehe ich es. Direkt unterhalb des Namens, der sozusagen als Unterschrift unter den kleinen Artikel gesetzt ist: Dr. Lutz Spengler, steht: „Umbenennung der Co-lone University“. Es ist nur eine ganz kleine Notiz, die uns darüber informiert, dass die Regierung daran denkt, das lange und lästige Co-lone durch ein kürzeres, prägnanteres C’lone zu ersetzen. Ich bin wie elektrisiert. Das ist es, was Schröder gemeint haben muss. Er konnte sich mir gegenüber nicht direkt auf diese Nachricht beziehen, über die wegen ihrer Kürze und der Stellung auf Seite fünf keinerlei Kommentare nötig oder gewünscht sind. Gleichwohl lanciert man an dieser Stelle sehr häufig Informationen über angestrebte Änderungen, mit dem Ziel, die Reaktion der Bevölkerung zu testen. Irgendwie kommt es dann doch immer zu einem Meinungsaustausch darüber. Ich weiß nicht genau, wie es jedes Mal gelingt, die allgemeine Stimmung so zielsicher zu erfassen. Aber es gelingt.

 

C’lone University. Damals, als man sich entschloss, die englische Form des ursprünglichen Namens Köln zu verwenden, also Cologne, war es auch die Universität gewesen, bei der man die Änderung vorgenommen hatte und später, als man das völlig überflüssige g aus dem Namen gestrichen und die wunderbare, bedeutungsschwere Version Co-lone geprägt hatte, war es genauso. Und jetzt also C’lone. C’lone City würde es eines nicht mehr fernen Tage heißen.

 

Ich bemühte mich, die Zeitung ruhig zusammen zu legen. Es gelang mir sogar noch, kurz ins Feuilleton zu starren, allerdings ohne das geringste in mein Bewusstsein aufzunehmen.

 

Dann verließ ich den Lesesaal. Konnte Schröder etwas von meiner Verbindung mit dem Klon ahnen? Stand ich bereits auf der Abschussliste? Das war im Grunde schwer vorstellbar. Natürlich waren wir ein Risiko eingegangen. Aber wenn wir entdeckt worden wären, hätte man uns auf der Stelle eliminiert. Es war ein Trost und eine Versicherung, noch am Leben zu sein. Bis jetzt konnte niemand von meinem Doppelleben ahnen. Das Wort Doppelleben hallte in mir nach. Es schreckte mich zutiefst. Oder war es die politische Tendenz, die in dieser geplanten Namensänderung offensichtlich wurde, auf die Schröder mich aufmerksam machen wollte?

 

Ich hastete am Pförtner vorbei, nickte ihm nur kurz zu. Da wäre ich um ein Haar mit meiner Frau zusammengestoßen. Es war nicht zu verwundern, dass man auch sie noch in der Redaktion antraf.

 

Manchmal glaube ich, sie hält sich da lieber auf, als zu Hause. Obwohl wir eine sehr angenehme, intelligent aufgeteilte Wohnung besitzen. Also, besitzen tun wir sie natürlich nicht. Sie wurde uns zugeteilt. Jeder kann ganz für sich bleiben. Wir stören uns eigentlich nicht. Ich muss sogar sagen, dass ich ganz froh bin mit dem Arrangement, das wir getroffen haben. Ich bin trotz allem nicht gern allein. Mit trotz allem meine ich den Umstand, dass man immer auf der Hut sein muss, egal mit wem man zusammen ist. Aber meine Frau und ich, so habe ich das Gefühl, ziehen mehr oder weniger am selben Strang. Sie ist zwar sehr viel ehrgeiziger als ich, aber ich behindere sie ja nicht, im Gegenteil. Wir sehen uns auch gar nicht so häufig. Selbst wenn wir beide zu Hause sind, ist es möglich, seiner eigenen Wege zu gehen. Aber für mich hat das große Vorteile. Weil ich, wie gesagt, obwohl ich für mich bin, nicht wirklich allein bin. Ich könnte rüber zu ihr gehen und mit ihr sprechen, wenn es etwas zu bereden gibt oder wenn ich einfach nur reden möchte. Das tu ich natürlich nicht, schon, um sie nicht zu stören. Aber ich könnte es.

 

Sie ist so fleißig. Sie will noch so viel erreichen, und irgendwie ist uns auch klar, dass sie in unserer Ehe die treibende Kraft ist, dass ich nicht erreichen kann, wozu sie durchaus in der Lage scheint.

„Oh, Böll!“ sagt sie jetzt, während wir aufeinandertreffen. „Gut, dass ich dich treffe, ich habe dir einiges mitzuteilen.“ Das ist typisch. Sie spricht manchmal zu mir wie zu ihrem Sekretär. Außerdem nennt sie mich Böll, wie jeder andere in der Redaktion auch. Es unterstreicht das Geschäftsmäßige unserer Verbindung. Ich habe natürlich einen Vornamen, aber der wird nie gebraucht.

 

Sie heißt Arena. Jeder nennt sie so. Im letzten Jahrhundert hat es einen Veranstaltungsort gleichen Namens in unserer Stadt gegeben. Der war schließlich so beliebt, dass man angefangen hat, die Kinder danach zu benennen. Inzwischen ist er längst zu klein geworden. Man hat ihn abgerissen, als man das neue Veranstaltungsgelände am Mediapark zum wiederholten Mal vergrößert aufzog. Zu der Zeit ist der Name in diesem Zusammenhang für Mädchen noch einmal ein Renner geworden. Viele Eltern haben damals durch solche Benennung ihrer Töchter der Regierung ihre Zustimmung zeigen wollen.

 

„Hi, Arena!“ sage ich. „Schön, dich zu sehen. Ich bin auf dem Weg nach Hause. War heute bei einem Spiel der Lonely Boys.“ Sie verzieht das Gesicht etwas säuerlich.

„Gehst du immer noch zu diesen Pöbel-Ritualen?“ fragt sie, und es ist klar, dass sie das nicht gutheißt, obwohl offiziell nichts dagegen zu sagen ist.

„Ich geh‘ ja nicht oft“, erwidere ich. „Manchmal tut es aber doch gut.“ Sie seufzt. Das muss sie akzeptieren.

 

Wir verlassen die Redaktion gemeinsam. Ich habe große Lust, nach Hause zu laufen. Es herrscht eine schöne, vorsommerliche Abendstimmung, und es ist erst 20 Uhr. Es wird noch eine Weile hell bleiben. Eine solche Zeitverschwendung kommt für Arena natürlich gar nicht in Betracht. Also gehe ich auf die Bushaltestelle vor der Redaktion zu. Ich habe das Gefühl, dass sie mich nach Hause begleiten wird. Sie legt mir die Hand sanft auf den Arm. Erst merke ich es gar nicht, dann zucke ich erschrocken zusammen. Es ist eine seltsam vertraute Geste, die unpassend scheint zwischen coolen Partnern, wie wir es sind. Und sie trifft mich völlig unvorbereitet. Als sie meine Reaktion bemerkt, zieht sie die Hand schnell weg. Aber sie sagt: „Lass uns doch zu Fuß nach Hause gehen. Wir könnten am Rhein entlang die Promenade nehmen.“

 

Ich bin stumm vor Überraschung, aber ich lasse mich willig darauf ein.

„Wir können ein bisschen reden, ich habe dir so viel mitzuteilen.“

Aber dann sagt sie gar nichts, bis wir den Fluss erreicht haben. Wir haben Glück, er stinkt nicht. Überhaupt scheint man in den letzten Jahren die giftigen Dämpfe, die von dem flachen Wasser vor allem gegen Ende des Sommers aufzusteigen pflegen, mehr und mehr in den Griff zu bekommen. Unsere Regierung gibt sich wirklich die allergrößte Mühe. Ich murmele so etwas in der Richtung, und Arena gibt zerstreut zur Antwort: „Ja, sie sind fabelhaft. Sie werden es bald vollständig geschafft haben.“

Dann bleibt sie einen Augenblick stehen, um auf das dunkle und träge dahingleitende Wasser zu schauen. Ich fühle mich unbehaglich. Irgendetwas von außergewöhnlicher Tragweite muss sie beschäftigen, das sie dazu bringt, sich so zu verhalten. Ich stehe still neben ihr und warte ab. Schließlich sagt sie: „Wir haben Karten für das Ov-Ov-Festival.“ Ich glaube, nicht richtig zu hören. „Wir?“ frage ich überrascht und dann blöde: „Ich auch?“

Sie verzieht schon wieder schmerzlich das Gesicht, aber diesmal versucht sie sogleich, es mit einem vagen Lächeln abzumildern.

„Ja“, antwortet sie, „du auch. Hast du das nicht erwartet?“ Ich denke, es ist besser, ehrlich zu sein, was immer sie vorhat. Bekennende Ehrlichkeit ist der erste Schritt hin auf einen besseren Weg.

„Wenn ich ehrlich bin, scheint mir eine solche Auszeichnung für mich im Augenblick“ – ich will sagen ‚unwahrscheinlich‘, ‚ganz und gar nicht plausibel‘, ‚beängstigend ungerecht‘ – aber ich reiße mich zusammen. Stattdessen gelingt es mir, ein „sehr wohlwollend“ herauszuquetschen. Schnell füge ich hinzu: „Sicher habe ich das dir zu verdanken.“ Eine unverkennbare Genugtuung legt sich über ihre Züge.

„Ja. Das hast du.“ Einen Augenblick schweigen wir.

 

Dann nimmt sie den Faden wieder auf: „Das heißt allerdings nicht, dass du nicht auch in der Lage wärst, eine solche Auszeichnung zu bekommen, Böll. Du hast die allerbesten Anlagen. Man beobachtet dich mit einer gewissen Erwartung in letzter Zeit, das kann dir doch nicht entgangen sein. Du bist zu … “,  sie sucht nach dem passenden Wort, „zu nachlässig! Zu gleichgültig, meine ich manchmal, so als seist du mit zu wenig bereits zufrieden. Aber es steckt mehr in dir, und du solltest dir das wirklich zu Herzen nehmen.“ Wieder schweigt sie eine kleine Weile.

 

Ich bin wie festgefroren. Was meint sie mit ‚man beobachtet dich mit einer gewissen Erwartung‘? Was soll ich mir ‚zu Herzen‘ nehmen‘? Mir wird schlecht. Hat man sie vorgeschickt, um mir eine Chance zu geben, mein Fehlverhalten zu revidieren? Gleichzeitig weiß ich, dass es das nicht geben wird. Wenn sie mich mit dem Klon erwischen, werden sie keine Sekunde zögern, mich umzubringen.

 

„Du hast sicher Gerüchte gehört...“, ich drehe mich fragend zu ihr um, unfähig, einen Laut von mir zu geben, „...was die Wiederbesetzung der Stelle des stellvertretenden Chefredakteurs angeht...“ Ich wage nicht zu atmen. Sie spricht nicht weiter. Gerüchte. Sie hat das Wort Gerüchte in den Mund genommen. Es ist nicht opportun, das zu tun.

 

Aber wenn sie es tut – Arena, die irgendwie mehr in allem drin ist als ich, die Verbindungen zu haben scheint, von denen ich nichts ahne, die möglicherweise mächtige Förderer hat, die ich ebenfalls nicht kenne, die aber ganz offensichtlich geholfen haben, ihre Karriere so zielstrebig voranzubringen –, wenn sie das sagt, dann hat das einen Hintergrund, einen Wahrheitsgehalt, der mich beunruhigen muss. Stehe ich wirklich so sehr im Blickfeld der Ereignisse?

 

Am Anfang war es mehr eine Art Witz, ein Raunen, das zu mir drang. Schröder hatte mal eine Bemerkung gemacht. Natürlich war ich geschmeichelt, aber noch mehr hat es mich amüsiert. Ich habe mir sogar spaßeshalber überlegt, ob es so völlig unwahrscheinlich wäre, dass man bei diesem wichtigen Posten an mich denkt. Ich gebe zu, dass es mir einen Augenblick gefallen hat, zu glauben, dass mein poetisches Werk, mein einfühlsames Schön-Schreiben, die Menschen schließlich von meinem schriftstellerischen Talent überzeugt haben könnte, und von all den anderen Gaben und Möglichkeiten, die damit einhergehen, die aber noch mehr oder weniger bloß in mir schlummern.

 

Ich habe allerdings nicht wirklich ernsthaft daran geglaubt. Im Grunde war ich davon überzeugt, dass sich hier jemand auf meine Kosten einen billigen Scherz machen wollte. Man muss sich das vorstellen: ich habe keinerlei Bedeutung in der Redaktion. Niemals wurde irgendetwas, das ich geschrieben habe, noch etwas, das von jemand anderem aus meiner Abteilung stammt, im Geringsten hervorgehoben. Es sind Leute wie Dr. Spengler und andere seines Kalibers, um die es geht. Die werden die Macht unter sich aufteilen. Der Gedanke, dass ich ernstlich für einen so wichtigen Posten in Erwägung gezogen werde, von wem auch immer, ist völlig absurd.

 

Aber wenn Arena es sagt, wenn sie sich so weit vorwagt, tatsächlich von Gerüchten zu sprechen, dann muss es doch etwas bedeuten. Plötzlich macht es Sinn, dass mich der Kerl im Lesesaal angesprochen hat. Und dass wir so interessiert von allen Seiten beobachtet wurden. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Auf eine solche Situation kann man sich nicht vorbereiten. Was soll diese Prüfung? Was weiß meine Frau darüber und wieso weiß sie so offensichtlich mehr als ich? Ich entschließe mich, das Thema aufzugreifen, um mehr aus ihr herauszuholen. Ich muss natürlich vorsichtig sein.

„Der Tod des stellvertretenden Chefredakteurs ist außerordentlich bedauernswert“, sage ich vorsichtig. „Ihn zu ersetzen wird sicher nicht leicht sein. Gott sei Dank haben wir viele fähige Männer in der Redaktion, die hierfür in Frage kommen.“ Ich überlege einen Augenblick, ob ich den Namen Dr. Spenglers in die Debatte werfen soll, entscheide mich aber dagegen. Es ist immer riskant, Namen zu nennen, wenn sie noch nicht offiziell von der Regierung verlautbart wurden. Außerdem ist mir immer noch nicht ganz klar, was Schröder mir mit seiner Bemerkung über Spengler sagen wollte. Vielleicht steckt ja doch dahinter, dass der in Ungnade gefallen ist.

„Böll“, sagt meine Frau jetzt und legt wieder in dieser erschreckend vertraulichen Weise ihre Hand auf meinen Arm. Dabei zwingt sie mich geradezu, ihr in die Augen zu sehen. Ihr Blick hat etwas eigenartig Bedeutungsvolles, aber ich bin nicht in der Lage, darin zu lesen, was sie mir sagen will.

 „Siehst du, das ist es, was ich meine.“ Ihr Ton ist einschmeichelnd, ein Ton, den ich nicht an ihr kenne und der mich beunruhigt. Zumal sie mir doch mit dem, was sie sagt, durchaus Vorwürfe zu machen scheint.

„Du bist zu zaghaft. Du erkennst die Gelegenheiten nicht, wenn sie günstig sind. Du musst einfach mehr Zutrauen in deine Fähigkeiten gewinnen. Und dann versuchen, das Beste daraus zu machen. Wie gesagt, du stehst durchaus unter wohlwollender Beobachtung. Und beim Ov-Ov-Festival ergibt sich vielleicht die Gelegenheit, dich offiziell mit deinem Können hervorzutun.“

„Wie das?“ entfährt es mir wider Willen und obwohl der blanke Horror in mir hochstieg.

„Du bist unverbesserlich!“ antwortet Arena, aber statt, wie sonst, darüber eher ärgerlich zu reagieren, seufzt sie nur, fast habe ich den Eindruck – kokett, wobei sie mich von unten herauf anblickt. Das Wort kokett habe ich von meiner Großmutter. Ich glaube, wenn ich es heute in einem Artikel verwenden würde, wüssten zumindest die Jüngeren gar nicht mehr, was es bedeutet. Ich frage mich, ob Arena etwas damit anfangen könnte, und ob ihr bewusst ist, was sie tut.

 

Ausgeschlossen, dass Arena überhaupt etwas tut, ohne zu wissen, was und ohne alle zu erwartenden Reaktionen nicht schon im Vorhinein überlegt und abgewägt zu haben.

„Es ist gut, dass du mich hast, bei allem,“ sagt sie. „Ich denke, wir ergänzen uns perfekt.“ Da ich nichts erwidere, nur weiterhin zu ihr hinstarre, nicht sicher, ob sie dies als blödes Glotzen bewerten und gegen mich verwenden wird, oder ob sie das vorsichtige Abwarten, das daraus spricht, gutheißen kann.

„Du könntest eine Hymne verfassen, ein Lobgedicht auf das Festival, auf die Stadt, auf die bevorstehende Umbenennung der Universität, auf die Regierung, meine Güte, auf alles zusammen! Lass dir etwas einfallen! Du hast doch diese wunderbare Begabung alles so präzise wie nötig und gleichzeitig auf eine so herrlich poetisch umschreibende Weise auszudrücken. Ich bin sicher, dass das außerordentlich geschätzt würde. Und es gäbe dir die Möglichkeit, auf dem Festival mit zahlreichen Personen zu sprechen, die dir unweigerlich dazu gratulieren würden. Überleg' doch mal, welche Chancen dir das bietet!“

 

Sie ist wirklich sehr gewitzt. Ich habe ja schon gesagt, dass ihr Ehrgeiz mir Angst macht. Aber ich muss zugeben, dass sie unglaublich weitsichtig ist. Wie immer es ihr gelungen ist, die Karten für das Festival zu bekommen, im Hinterkopf muss sie es im Gedanken an meine Karriere getan haben. Die ihr natürlich ebenfalls helfen wird. Es scheint mir unrealistischer denn je, dass ich diesen Stellvertreterposten bekommen soll. Der Gedanke kommt mir, dass sie das Gerücht wahrscheinlich selber in Umlauf gesetzt hat. Es gibt eine Methode, die die Regierung manchmal und immer mit großem Erfolg einsetzt, wenn sie eine eher zweifelhafte oder unpopuläre Maßnahme zum Wohl des Volkes durchsetzen will. ,Self Fullfillig Prophecy‘ heißt das: man redet eine Sache sozusagen herbei. Ob sie das vorhat? Allein? Oder hat sie Förderer, die sie bestärken?

 

Ich sehe immer noch auf sie herab, wie sie vor mir steht. Sie ist fast einen Kopf kleiner als ich. Noch immer hat sie diesen koketten Blick in den Augen. Ihre Hand liegt immer noch auf meinem Arm. Ich denke, dass ich für sie eine Enttäuschung sein muss. Sicher hat sie mich mit hochfliegenden Plänen geheiratet. Nur um dann einsehen zu müssen, dass ich überhaupt nicht ehrgeizig bin und sicher auch nicht das Zeug habe, ihren Wünschen und Zielen zu entsprechen. Ich habe ein bisschen Mitleid mit ihr. Wenn sie jetzt diese Stellvertreterkiste abziehen will, muss sie scheitern. Das ist klar. Es ist allzu durchsichtig. Ich bin nicht geeignet, ich gehöre nicht in die Kategorie, die man überhaupt für einen solchen Posten auch nur in Erwägung ziehen würde. Wie kann sie sich so irren?

 

Natürlich erwarte ich, dass sie über kurz oder lang die Scheidung einreichen wird. Wenn der Erfolg ausbleibt, den sie erwartet, wird sie es sicher tun. Ich frage mich, warum sie das nicht längst getan hat. Vielleicht, weil sie ihr brennender Wunsch nach meinem beruflichen Erfolg fehlgeleitet hat. Irgendetwas macht sie vielleicht glauben, dass ich besser sein kann, als mein Ruf. Und natürlich, geht es mir durch den Kopf – der Nachwuchs. Wenn sie sich jetzt scheiden ließe, müsste sie mit einem neuen Partner wiederum zwei Jahre warten. Und vielleicht war dessen Samen nicht so gut wie meiner.

„Wenn du gleich damit anfängst, kannst du noch rechtzeitig eine wunderbare mehrstrophige Hymne verfassen. Das kannst du doch?“ Wieder dieser Blick. Ich nicke und löse mich von ihrem Anblick. Stattdessen schaue ich über den Fuß. Ein bisschen stinkt er eigentlich immer. Ich habe eine empfindliche Nase.

„Sicher“, höre ich mich sagen. „Eine schöne Aufgabe und eine ernste Herausforderung. Sicher kann ich das.“ Und ich füge hinzu, weil ich immer noch aus unerfindlichen Gründen Mitleid mit ihr habe: „Ich tu es für dich.“ Sie verstärkt den Druck ihrer Hand auf meinen Arm und seufzt, diesmal sicher vor Erleichterung.

 

Wir gehen weiter. Wir schweigen wieder. Als wir schon fast am alten Frauenturm, dem Bayenturm, angelangt sind, der jetzt nur noch als eine Art Mahnmal fungiert, oder als Leuchtturm des Hafenviertels mit seinem bunten, aufregenden und aufreizenden Lichterspiel, ein uraltes Relikt aus den Zeiten meiner Großmutter, das am Eingang zu den großartigen Wohnanlagen geduldet wird, in denen auch wir unsere Wohneinheit haben, also, als wir schon fast zu Hause sind, lässt sie die zweite Bombe platzen.

„Wir haben die Erlaubnis zur Fortpflanzung“, sagt sie, und in der aufkeimenden Panik, die mich befällt, erkenne ich doch, dass es auch ihr in gewisser Weise unangenehm ist, darüber zu sprechen.

 

5

 

Die Umgebung war kalt und düster. Wieder so eins von diesen modernen Cafés, in denen abends und nachts die Disko abgeht, die volle, laute Hölle, wie man sie irgendwann mitmacht, wenn man noch nicht zwanzig ist, aber dann fängt es schon langsam an, in den Ohren weh zu tun. Tagsüber lungern hier irgendwelche Gestalten rum, deren Existenz ich nicht begreifen kann. Sie haben offensichtlich keine Arbeit, haben Zeit und Geld, sich hier aufzuhalten, während der normale Bürger seiner Arbeit nachzugehen hat. K2 hatte mich beruhigen wollen und behauptet, dass man sich in einem solchen Milieu, quasi außerhalb der Gesellschaft bewege und dass man weitgehend unbeobachtet und unbehelligt bleibe. Er konnte mich nicht wirklich überzeugen, aber jetzt war es auch schon egal.

Ob sie mich wirklich beobachteten?

 

Ich habe einen Außentermin. Die Hymne, die ich schreiben werde – wie ein Lauffeuer hat sich meine Absicht, am Ov-Ov-Festival ein besonderes Loblied vortragen zu wollen, verbreitet – gibt mir das Recht auf zusätzliche Muße und Freiraum. Das ist wirklich einer der großen Vorteile in meinem Ressort. Man nimmt Poesie und Schönschreiben nicht wirklich wichtig, andererseits erfreut man sich an den Produkten und sieht ein, dass sie nur im Rahmen einer bestimmten Offenheit entstehen können.

 

Er war noch nicht da, und ich versuchte, mich unauffällig umzusehen. Es gab nur vier weitere Personen, die sich über den relativ großen Raum verteilt hatten. Sie saßen ganz vereinzelt, jeder an einem eigenen Tisch, und hatten ein Getränk vor sich stehen. Ich hatte keine Ahnung, was sie zu dieser Tageszeit tranken. Anhand der Gefäße, die für alle Getränke gleich waren, konnte man es nicht erkennen. Ich selber entschied mich für eine süße Limonade ohne Zucker. Ich wollte meinen Kopf freihalten. Ich wage zu vermuten, dass hier auch Alkohol ausgeschenkt wurde, obwohl das tagsüber ganz und gar verpönt ist. Aber irgendwie herrschte in dem Laden so eine Stimmung, dass man von selbst darauf kam.

 

Als die Tür aufging, schaute niemand von den Anwesenden auf. Ich selber hatte mich so hingesetzt, dass ich nicht anders konnte, als die Tür zu beobachten. Allerdings würde ich dadurch auch sofort von jedem, der reinkam, gesehen. Ich hielt es dennoch für angebracht. Für den ziemlich unwahrscheinlichen Fall, dass mich hier jemand, der mich kannte, aufspürte, wurde ich wenigstens nicht überrascht.

 

K2 bedeutete mir mit einem fast unmerklichen Kopfzeichen, dass ich von der exponierten Stelle lieber weggehen sollte. Er selbst wandte sich nach rechts, wo niemand saß, ging ganz hinten zum äußersten Rand der Theke durch, so dass er von den Zapfhähnen für die übrigen Gäste fast vollständig verdeckt wurde. Ich wartete einen Augenblick, dann nahm ich meinen Becher auf und ging zu ihm.

 

Wir saßen eine Weile schweigend nebeneinander. K2 hatte sich an die Schmalseite der Theke gesetzt, so dass er, wenn er gewollt hätte, den Eingang des Cafés im Auge behalten konnte. Allerdings blickte er lediglich vor sich hin, ohne größeres Interesse an seiner Umgebung oder auch an mir. Ich saß im rechten Winkel neben ihm. Ich hätte, um den Eingang zu beobachten, meinen Kopf nach rechts drehen müssen. Ich zog es vor, das nicht zu tun, schon um nicht die Aufmerksamkeit der andren Café-Besucher unnötig auf mich zu lenken. Wie schon im Stadion verschaffte mir seine Nähe ein merkwürdiges Gefühl von Sicherheit, so als habe er alles unter Kontrolle. Ich verließ mich schon wieder auf ihn.

 

Ich beobachtete ihn.

 

Ich weiß, dass ich nicht an ihn als K2 denken sollte. Er hat selbst gesagt, dass das gefährlich ist. Aber es bezeichnet ihn viel treffender, dieses geheimnisvolle, unverständliche Wesen, das auf eine so unwirkliche Weise in mein Leben eingedrungen ist. Ein Name wie Wallraf hingegen, das hat etwas sehr – Persönliches. Zu persönlich. Es suggeriert ein Wesen aus Fleisch und Blut, nicht so einen …

 

Wie er da vor mir saß und trotz allem aussah wie ein Mensch, ging mir stichflammenartig durch den Kopf, dass er ein Mensch war. Ein Mensch aus Fleisch und Blut. Und doch kein richtiger Mensch! Aber was machte den Unterschied? Wieso warnte die Regierung vor Klonen? Dabei empfand ich es selber, sehr deutlich sogar, dass er anders war.

 

Er hatte ein sehr hageres Gesicht. Ich merkte, dass ich mich inzwischen so sehr an seinen Anblick gewöhnt hatte, dass ich ihn zum ersten Mal wirklich in mich aufnehmen konnte, ohne das Gefühl der Angst, des Entsetzens, das mich bei unseren früheren Begegnungen so ausgefüllt und verhindert hatte, dass sich mir sein Bild besser einprägte. Die Augen, deren Farbe ich nicht erkennen konnte, wirkten wie brennende Kohle. Damit meine ich, dass sie dunkel schienen, sehr dunkel, aber andererseits doch nicht etwa dumpf und ausdruckslos, sondern wach, blitzend, stechend. Er arbeitete mit seinen Augen. Vieles von dem, was er sagte oder verschwieg, vermittelte sich über diese Augen, die mich noch immer erschreckten und die mich gleichzeitig faszinierten. Das Haar hatte den modernen Langhaarschnitt für Männer. Es war glatt und hinten mit einem Band gehalten. Es fanden sich keine Spuren eines beginnenden Ausfalls, noch schienen sich graue Strähnen darin zu verbergen. Beneidenswert. Aber vielleicht half er der Natur ja nach.

 

Ich selber bin aschblond. Ich habe welliges Haar, und obwohl ich noch keine dreißig bin, wird mein Haar dünn. Ich ziehe daher einen eher kurzen, leicht altmodischen Haarschnitt für mich vor.

 

Nein, ich glaube nicht, dass er irgendetwas an sich verbessern lässt. Er hat scharfe Falten, die sich in seine Wangen und um den Mund eingegraben haben. Er wirkt krank, älter als beim letzten Mal und ausgemergelt – nein, ausgezehrt. Ich bin sicher, dass es hierfür eher psychische als physische Gründe gibt. Es kommt mir in den Sinn, dass ich ihn auf andere, aufmerksamere Weise ansehe, als meine Mitmenschen. Ich meine, ich interessiere mich für ihn, die Person, die hinter dieser Fassade steckt. Wenn ich Schröder ansehe oder meine Frau, gilt mein Interesse der allgemeinen Stimmungslage, die ich aus ihren Gesichtern herauszulesen gewohnt bin und die mir nützlich sein kann. K2‘s Gesicht gibt natürlich keinerlei allgemeine Stimmungslage wieder, sondern spricht Bände über seine eigene Verfassung. Und es fällt mir auf, dass ich ihn mit Worten beschreibe, die man heutzutage selten benutzt, die mir aber doch irgendwie vertraut sind. Wie dieses: ausgezehrt.

 

Immer fällt mir meine Großmutter ein, wenn ich mit ihm zusammen bin. Sie hat das Wort einmal gebraucht, als ich noch recht klein war. Sie hatte über einen der Restbestände in unserer Gemeinde geredet. Einen zu alten Mann, den niemand entsorgt hatte. Seine Kinder waren unbekannt, und die Nachbarn wollten sich nicht darum kümmern. Irgendwie war er der Aufmerksamkeit der Offiziellen entgangen. Ich weiß nicht genau, wie er überlebte. Vielleicht durch das, was ihm die anderen manchmal zu essen hinstellten. Wir gingen öfter in den Park, meine Großmutter und ich, wo er meistens auf einer bestimmten Bank saß. Ausgezehrt wirke er, hatte meine Großmutter einmal gesagt. Ob das das Alter sei, hatte ich gefragt, und sie hatte geantwortet: „Gewiss. Das Alter. Er hat zu lange gelebt, weißt du, er hat zu viel gesehen. Das Leben hat ihn ausgezehrt.“ Ich erinnere mich, dass ich damals daran dachte, wie klug und weise unsere Regierung handelte, durch die Bestimmung, die Leute zwischen 60 und 65 abzurufen und auf solche Weise zu verhindern, dass sie, wie dieser Alte, zu lange lebten und solche Auszehrung und solchen Überdruss erleiden mussten.

 

Ich dachte tatsächlich an den Alten von damals, und es fiel mir wieder auf, wieviel älter K2 auf mich wirkte als seine 33 Jahre dies wahrscheinlich machten. Seine Hände, wie im Übrigen sein ganzer Körper, waren sehr schlank, feingliedrig geradezu, und trotzdem wirkten sie wie abgenutzt. Seine Kleidung – Jeans und ein heller, anthrazitfarbener Pullover – war so unauffällig, dass ich sicher bin, niemand würde ihn auf der Straße bemerken oder wiedererkennen. Allerdings nur, solange man nicht in seine Augen blickte.

 

„Erinnerst du dich, dass wir über Alternativen sprachen?“ begann er nach einer Weile. „Was wäre gewesen, wenn? Du hast abgestritten, dass es für euch so etwas wie eine andere Wahl geben könnte. Die Regierung schreibt euch vor, auf welchem Weg ihr zu gehen habt. Erinnerst du dich?“

„Immerhin bemühen sie sich, herauszufinden, was man gut kann. Ich bin zufrieden, dass ich schreiben kann. Ich glaube nicht, dass ich in irgendeinem anderen Beruf so – zufrieden geworden wäre!“ Ich sagte das, weil ich immer noch lieber vorsichtig mit ihm umging, und weil es außerdem meine Überzeugung war. Er schüttelte ungläubig seinen Kopf. Ich konnte sehen, dass er mich für einen Idioten hielt, weil ich das sagte. Aber er beherrschte sich.

„Du hattest Alternativen“, insistiert er stattdessen. „Auch wenn du es nicht begreifen willst oder wenn es dir tatsächlich egal ist. Du hattest unendlich viele Alternativen. Hast du einen Bruder? Eine Schwester?“ Ich verneinte. „Du hättest erleben können, wie anders ihr euch trotz gleicher Gene entwickelt hättet.“

„Ein Bruder wäre ein anderer Mensch gewesen mit anderen Kernanlagen und Begabungen. Natürlich wäre er einen anderen Weg gegangen.“

„Jeder ist sein eigener Bruder“, sagte er kryptisch. Ich schwieg, weil ich ihn nicht verstand.

„Du hast deine eigenen Brüder in dir. Unendliche Möglichkeiten, deine Gene auf die eine oder andere Weise zu fördern und zu entwickeln. Es stecken mehr Dinge in dir als du je wissen wirst. Du warst nie daran interessiert. Es ist eine Verschwendung!“ Dann wiederholte er, lauter, und dabei brach sich das Hasserfüllte, das er immer gehabt und anscheinend nur vorübergehend aufgegeben hatte, wieder Bahn: „Eine verdammte Verschwendung!“

„Was habe ich Ihnen um Himmels Willen getan?“ entfuhr es mir. Ich hielt erschrocken inne.

„Versteh‘ doch“, stöhnte er auf, „ich hatte diese Möglichkeiten nicht.“

Ich fasste mir ein Herz und sagte mit einiger Bestimmtheit: „Wenn Sie nicht mehr über sich erzählen, werde ich es sicher nie verstehen können.“

„Ja“, erwiderte er, „du hast Recht.“ Und dann: „Du solltest dich wirklich bemühen, mich zu duzen, weißt du, es vereinfacht die Sache zwischen uns.“

Ich antwortete: „Ich will es versuchen.“ Aber es würde mir schwerfallen. Er machte wieder eine kleine Pause, in der er den Blick senkte, um in sich hinein zu lauschen. Dann begann er seine Geschichte.

 

„Es gibt einfach kein Entrinnen. Mein Bruder war meine Vorgabe. Ich sah, was er tat. Ich tat dasselbe, und es kam dasselbe dabei heraus. Identisch zu sein heißt tatsächlich, keine andere Möglichkeit zu haben. Zwillinge sind nicht zu vergleichen. Manchmal ähneln sie sich bis zu einem gewissen Grad, manchmal sind sie sehr verschieden, und auch wenn sie sich sehr ähnlichsehen, gibt es fast immer irgendein Merkmal, das sie für Menschen, die ihnen nahestehen, unterscheidbar macht. Bei uns gab es diese noch so winzige Unterscheidung einfach nicht. Wenn ich in sein Gesicht blickte, sah ich in den Spiegel. Nein“, unterbrach er sich, „genau das stimmt nicht. Die einzige Unterscheidung, die es von mir zu meinem Bruder gab, war mein Spiegelbild. Verstehst du das? Unsere Gesichtshälften sind nicht identisch. Sie sind es bei keinem Menschen. Wenn man sich selber im Spiegel sieht, sieht man sich anders, als die anderen einen erblicken, weil dort die Seiten vertauscht sind.“ Er lachte kurz auf. Ein böses, verzweifeltes Geräusch. „Natürlich mussten wir uns auch identisch kleiden. Das verstand sich von selbst. Im Grunde war das auch kein Problem, wir konnten uns unsere Kleidung aussuchen, und wir hatten natürlich denselben Geschmack, oder besser, dieselben Vorlieben. Was immer du willst. Aber an die Äußerlichkeiten habe ich mich von Kindheit an gewöhnt. Sie waren nicht das wirkliche Problem, waren vielleicht nur deswegen ein Problem, weil sie das Zeichen waren, das Symbol für die Unentrinnbarkeit meines Daseins.“

 

Ich wagte ihn zu unterbrechen: „Warum Ihres Daseins, glauben Sie nicht, dass Ihr Bruder das genauso empfindet?“

„Empfand!“ schnarrte er. „Er empfindet nichts mehr. Und sag du zu mir, oder du wirst uns noch in Schwierigkeiten bringen. Los! Sag es, jetzt sofort! Sag: Du, Wallraf.“ Die Augen funkelten. Ich hatte Angst, er würde mich beim Kragen packen, um dieses Du aus mir herauszupressen. Ich sagte: „Ist schon gut – Wallraf. Lass mir Zeit. Ich werde mich bestimmt daran gewöhnen.“ Das Funkeln verblasste. Ich konnte wahrnehmen, wie das fiebrig nervöse Licht in seinen Augen erlosch und sein Blick sich düster in einer unendlichen Ferne verlor. Er sah durch mich hindurch.

 

„Er empfindet nichts mehr. Und auch damals, als er es noch gekonnt hätte, war es für ihn etwas anderes. Er konnte wählen. Er hatte die Alternativen, die du für dich nicht zu brauchen scheinst. Er hat sie gelebt. Er war das Original, und man hat ihm seine Freiheiten gelassen. Ich hingegen...“ Er sprach nicht weiter. Ich ahnte, was er sagen wollte.

„Hätten Sie – hättest du anders handeln wollen als er es getan hat?“ Er zog die Luft ein, sein Brustkorb hob sich. Dann atmete er wieder aus. Er schloss die Augen, ehe er zu antworten versuchte, und ich sah mit Grauen, wie er dabei seinen Kopf einzog, die Schultern hob und sich wand, als bewege ihn eine innere Kraft, die mit ihm umsprang, ohne dass er sich dagegen wehren konnte. Wie damals, als ich ihn zum ersten Mal sah, hatte es auch jetzt den Anschein, als säße er wie ein Tier gefangen in seiner eigenen Haut, aus der auszubrechen einfach nicht möglich war. Dann stieß er wild hervor: „Ich weiß es nicht. Ich kann das nicht beantworten. Es gibt keine Möglichkeit, das je zu erfahren. Wir waren identisch. In unserer Art zu denken, in unseren Vorlieben, in unseren Begabungen... Ich weiß nicht, ob ich je etwas anderes machen wollte als er, ob ich ein anderes Leben hätte führen wollen. Ich hatte keine Wahl. Ich war er.“

 

Ich war verwirrt. Ich versuchte zu verstehen, aber es gelang mir nur höchst unvollkommen. „Wo lag das Problem?“ fragte ich schließlich. „Wenn ihr identisch wart und identisch gefühlt habt und du selber sagst, du hättest nicht anders leben können?!“ Er antwortete nicht direkt. Er sagte stattdessen:

„Wir sind geflohen. Eines Tages, als wir 18 Jahre alt waren, sind wir geflohen. Es war, wie gesagt, seine Idee, und ich war sofort damit einverstanden. Es schien die einzige Möglichkeit, voneinander loszukommen.“ Er lachte wieder kurz und gehässig auf. Ich zuckte zusammen. „Unglaublich, wie naiv ich war, das zu glauben. Es gab in Wirklichkeit keine Möglichkeit, von ihm loszukommen. Ich hätte es wissen müssen. Wir haben uns gut vorbereitet. Ich will dir die Einzelheiten ersparen, wie uns das gelungen ist, es war keine ganz saubere Angelegenheit.“ Wieder schwieg er einen Augenblick. Ich traute mich nicht zu fragen. Eine Ahnung all der Schwierigkeiten die sie hatten überwinden müssen, durchfloss mich schaudernd, all der undenkbaren, weil letztlich unmöglichen Anstrengungen, um sich aus der Obhut der Obrigkeit zu befreien und erst recht, um in unsere normale Alltagswelt einzutauchen.

 

Da wurde mir eine Ungeheuerlichkeit klar, etwas, das sich mir mit einem Schlag als Tatsache offenbarte, was doch in meinem bisherigen Leben einfach nicht existiert hatte, nicht einmal als geträumte Möglichkeit: die Wucht der Erkenntnis traf mich unvorbereitet, die Konsequenzen ließen mich erzittern.

„Ihr habt Freunde gehabt...“, flüsterte ich. Es war unfassbar.

„Helfer“, korrigierte er mich. „Es gibt in dieser Welt ebenso wenig Freunde wie es Liebe gibt. In eurer Welt“, verbesserte er sich, „das, was ihr damit beschreibt, verhält sich zur Wahrheit wie getrocknetes Fastfood zum Essen von frischen Lebensmitteln.“

 

Ich wagte nicht, ihm zu widersprechen, aber innerlich ließ mich diese Behauptung aus mehreren Gründen rebellieren. Erstens, was hatte er gegen Fastfood? Wovon sollten wir uns sonst ernähren? Die sogenannten frischen Lebensmittel sind schließlich äußerst knapp und wahnsinnig teuer in der Herstellung und auch in der Anschaffung. Natürlich gibt es Gelegenheiten, bei denen man frische Sachen erhält. Das Ov-Ov-Festival ist so eine Gelegenheit. Im Stillen machte ich mir ein Lesezeichen, versuchte, den Gedanken in meinen Gedächtnisspeicher zu laden für meinen großen Lobgesang. Man kann aber doch wohl nicht erwarten, dass alle Menschen frische Sachen essen sollen?! Eine gänzlich übertriebene Idee, ärgerlich. Und dann, zweitens, fragte ich mich, wie er dazu kam, von Wahrheit zu sprechen? Von welcher Wahrheit? Die, die die Regierung uns in Abschnitten verkündet, meinte er nicht, dass weiß ich wohl. Aber das ist unsere Wahrheit.

 

Andererseits hatte er natürlich Recht, wir haben keine Freunde. Schröder zum Beispiel ist in erster Linie mein Arbeitskollege, auch wenn der Hinweis auf Dr. Spengler, fast schon freundschaftlich zu nennen ist. Von dem, was wir Liebe nennen, will ich lieber nicht anfangen. Also sagte ich nichts und schluckte seine Bemerkung einfach.

 

Sie haben Helfer gehabt. Es gibt also Menschen, die gegen alle Vernunft solchen wie ihm helfen. Es müssen gar nicht mal wenige sein, sonst wäre ein solches Untertauchen in der Anonymität, eine Vertuschung über Jahre ja wohl nicht möglich. Es gibt also in unserer Welt eine andere, vielleicht sogar mehrere Welten, von denen man offiziell nichts hört, von denen ich bis jetzt überhaupt nichts wusste, ja deren Existenz mir niemals in den Sinn gekommen wäre. Gebannt wartete ich darauf, was ich noch erfahren würde. Unwillkürlich dachte ich, dass die anderen, die sich mit uns an diesem unwirtlichen Ort befanden, schließlich nicht unbedingt unsere Feinde zu sein brauchten.

 

Wallraf fing meinen kurzen Blick zur Seite auf, und etwas von einem verächtlichen Lächeln schien sich in seinem Gesicht zu zeigen.

„Versuch es nicht, und verlass dich auf niemanden, niemals, hörst du?!“ sagte er. “Wir sind allein, aber vor allem bist du allein, vergiss das nie, wenn dir dein Leben lieb ist!“

Es machte mich vollkommen fertig, dass er mich so herumkommandierte. Alle Fäden lagen in seiner Hand. Ich hingegen hatte nichts, ich konnte die Gefahr spüren, aber mich nicht dagegen wehren. Ich tappte vollständig im Dunkeln und war davon abhängig, dass er mir den Weg wies.

 

„Was dann geschah, war eigentlich noch unerträglicher für mich als was ich all die Jahre unter Aufsicht aushalten musste. Wir waren zwar gemeinsam geflohen, aber schon bald machte er mir klar, dass wir nicht zusammenbleiben durften. Wir waren viel zu auffällig. Und er gestattete mir nicht, bei ihm zu bleiben. Er stieß mich von sich.“ K2 schloss die Augen. Er war weiß wie eine Wand. Es musste ihn unsägliche Mühen kosten, sein Leben vor mir aufzurollen. Ich wartete. Ich wartete lange. Als er die Augen wieder aufmachte, schien er einen Augenblick überrascht, mich vor sich zu sehen.

 

Seine Frage kam unvermittelt: „Ist dir schon jemals eine Frau als schön vorgekommen. Ich meine: schön“, seine Stimme hatte jetzt etwas Verzweifeltes, Zartes, das mich ins Herz traf, „schön, wie in der alten Bedeutung des Wortes. Du musst wissen, was ich meine.“ Und ehe ich überlegen konnte, was ich sagen sollte, hörte ich meine eigene Stimme wie die eines Fremden: „Meine Großmutter war schön, als sie starb.“

Den Blick, den er mir zuwarf, werde ich nie vergessen. Auch nicht, was er dann sagte, nämlich: „Ich wusste, dass ich recht getan habe, dich auszuwählen.“

Die Nähe, die ich in diesem einen kurzen Moment zu ihm verspürte, eine Nähe, die er mir schenkte, habe ich niemals, vielleicht nicht einmal mit meiner Großmutter verspürt. Denn es war eine Nähe von Gleichen, eine Offenheit von zwei Wesen, die eine verbotene Erfahrung teilen, eine Nähe, die uns im selben Augenblick zu Freunden machte.

 

„Von da an“, fuhr er fort, „habe ich auf der Lauer gelegen. Ich habe meine Tage damit verbracht, ihn aus der Entfernung zu beobachten. Er hat in einer Fabrik gearbeitet, im Lager einer Möbelfirma, hat innerhalb dieser Firma als Fahrer die Möbel von einer Halle zur anderen, von der Halle zu den LKWs gefahren. Es war ein perfektes Versteck. Er hatte seine besondere Identität bekommen, unterlag keinerlei Gefahren durch unvorhergesehene Außenkontakte. Er war unbedeutend, unauffällig, genügsam, willig, berechenbar. Er spielte keinerlei Rolle im öffentlichen Leben. Man verlangte von ihm, zu funktionieren, und er funktionierte. Niemandem fiel auf, wie viel er las, dass er es sich in seiner freien Zeit auf eine wundervolle Weise gut gehen ließ, dass er Sport trieb, einen kleinen Garten anpflanzte mit einer Laube, in die er sich zurückziehen konnte, wann immer ihm danach zumute war, und vor allem, dass er eine Frau genommen hatte, nicht irgendeine Frau, sondern die schönste Frau, die ich je gesehen habe und dass die beiden sich liebten.“

 

Hier unterbrach sich Wallraf wieder, und es war klar, dass er bald am Rande seiner physischen Möglichkeiten angelangt war. Er zwang sich diesmal, die Augen offen zu halten, obwohl ich sehr wohl spürte, dass er nur allzu gern der Versuchung erlegen wäre, all die Bilder, die er für mich wachrief, vor seinem inneren Auge noch einmal passieren zu lassen. So wie ich selber manches Mal im Dom gesessen hatte, um mir im Schutz der Veranstaltungen und einer verordneten Ergriffenheit die Bilder vorzustellen, die mein inneres und eigentliches Leben von allem, was ich tagtäglich tun musste, unterschieden. Ich hatte das spontane Gefühl, ihm meine Hand im Trost auf den Arm zu legen. Aber das traute ich mich natürlich doch nicht. Stattdessen sagte ich, voller Mitgefühl: „Und all das hattest du nicht.“

„Nein“, antwortete er leise. „Das hatte ich nicht. Und doch, weißt du, konnte ich das alles, indem ich sie beobachtete, nachempfinden. Ich habe sein Leben gelebt. Ohne dass er es merkte. Ich hätte alles, was er tat, genauso gemacht. Er hat sich ungeheuer klug verhalten, bei allem hat er die größte Umsicht walten lassen, und er ist wirklich niemals aufgefallen.“

 

„Diese Frau“, sagte er nach einem Moment des Schweigens, „Maria...“

„Maria?“ entfuhr es mir ungläubig.

„Ja. Ein ungewöhnlicher Name heutzutage.“

Wirklich, sehr ungewöhnlich. Absurd altmodisch, verräterisch. Konnte die Frau wirklich so geheißen haben?

 

Er sah mir an, was ich dachte. „Nein, sie heißt natürlich nicht wirklich so. Ich vergesse immer ihren offiziellen Namen. Er nannte sie aber Maria. Ein aberwitziger, gewagter Tick, weißt du, gefährlich, denn er konnte sich jederzeit versprechen und damit unnötigerweise die Aufmerksamkeit auf sich lenken. Ich glaube, es gehörte dazu, zu dieser überschwänglichen Freude, mit der er dieses Leben genoss. Es war grausam zu sehen, wie glücklich er war! Du bist ein armes Schwein, Böll!“ sagte er plötzlich, leiser, und wieder bemerkte ich, welche Mühe es ihm machte, sich nicht an seinem eigenen Hass zu verschlucken. Es war tatsächlich, als würge er an einem ganz konkreten Giftbrocken. Mein fragender Blick ließ ihn weitersprechen, obwohl ich mich nicht traute, Einspruch zu erheben oder eine Erklärung zu verlangen.

„Du hast keine Ahnung, was leben heißt, leiden, lieben, hassen ...“

 

Ich fühlte mich unbehaglich. Nicht nur, wie schon früher, wenn wir uns trafen, weil diese Themen so brisant und ja letztlich so unfruchtbar sind. An die Gefahr, die von ihm ausging, hatte ich mich inzwischen gewöhnt und irgendwie war ich ja doch lange schon bereit, mich darauf einzulassen. Dass er die Welt anders sah als ich und die Regierung, war schließlich auch klar. Etwas anderes begann, mir zu schaffen zu machen. Mehr und mehr schien ich diesen Worten zu verfallen und den Vorstellungen, die unwillkürlich in mir hochstiegen, wenn er sie nannte.

 

Lieben, hassen, glücklich sein – all das ist in unserer Welt geregelt. Ich weiß, ich habe durch eine intensive Erziehung und Verbesserung meines Charakters erfahren müssen, dass in der ungezügelten Hingabe an übertriebene Emotionen gleich welcher Art der Stachel liegt, der unsere Gemeinschaft zu zerstören droht. Ich habe diese Krankheit, diese Unreife, zu der ich in meiner frühen Jugend neigte, was nicht zuletzt die Schuld meiner Großmutter war, überwunden mit Hilfe der Regierung. Ich habe es geschafft. Ich bin heute ein anerkannter Schönschreiber. Ich bin ein nützliches Mitglied unserer Gesellschaft. Ich habe gewisse Aussichten, Karriere zu machen, wenn vielleicht auch der Posten des stellvertretenden Chefredakteurs eine Spur zu weit gedacht ist. Aber ich habe eine einmalige Chance, mich mit meinem Lobgesang beim Ov-Ov-Festival weiter in den Vordergrund zu spielen und noch unentbehrlicher zu machen. Ich habe eine Frau, die … 

 

Lieben, hassen, glücklich sein – Worte, die auf Arena nicht zutreffen können. Die überhaupt keine Bedeutung haben, wenn ich an sie denke, keinerlei Zusammenhang mit unserer Ehe. Ich fühle, vage, verunsichert, fast ein bisschen verzweifelt, dass ich das zu bedauern beginne.

 

„Ich liebe Maria“, hörte ich Wallraf sagen. „Ich habe sie vom ersten Augenblick an geliebt, als er sie in unser Leben gebracht hat. Ich weiß nicht, wann und wo er sie kennengelernt hat. Auf einmal war sie da. Und als ich sie zum ersten Mal sah, wusste ich, dass sie mein Schicksal besiegelte.“ Ich machte ein ungläubiges Geräusch. Das war wieder so ein Wort, das außerhalb meines Erfahrungsbereichs lag. Jedenfalls so, wie er es benutzte. Ich sagte: „Dein Schicksal! Dein Schicksal als Klon?!“

„Mein Schicksal als Mensch“, gab er zurück. „Es war der Augenblick, der in mir den Entschluss reifen ließ, dass ich die mir auferlegte Vorherbestimmung durchbrechen und mein Leben in die eigene Hand nehmen würde, dass ich diesem erniedrigenden Doppeldasein ein Ende bereiten müsste.“

Ich lauschte seinen Worten nach, als er schwieg, um ihre Bedeutung zu erfassen. Ich glaube nicht, dass ich damals schon begriff, was er mir sagen wollte.

 

„Ich will sie dir beschreiben“, fuhr er fort, „du sollst sie auf Anhieb erkennen.“ Ich erschrak bis ins Mark. Zum ersten Mal deutete er an, dass unsere Begegnung über das bloße Austauschen von verbotenen Informationen hinausgehen sollte. Ich wagte nicht, zu widersprechen.

„Sie hat etwas rührend Junges. Ich glaube, sie wird bald dreißig Jahre alt sein, aber ihre Bewegungen, ihr Lachen, ihre Haut – alles ist von einer so strahlenden Anmut, die sie völlig unabhängig von euren absurden Alterskriterien macht. Sie ist groß und schlank, dabei von geradezu zerbrechlicher Zartheit. Sie hat wunderbares, glänzendes, haselnussbraunes Haar, ganz glatt und schwer. Sie trägt einen Mittelscheitel und hält es im Nacken gebunden, aber es fällt trotzdem nach vorn und rahmt ihr Gesicht. Das Kinn ist rund aber ein bisschen vorstehend. Ein energisches kleines Kinn“, sagte er träumerisch, um gleich darauf zu widerrufen: „nicht wirklich energisch.“

 

Wallrafs Züge hatten sich verändert, während er von der Frau sprach. Er blickte mich nicht an dabei, sah stattdessen in eine dunkle Ferne, die sich irgendwo in der Tiefe unseres öden Treffpunktes verlor. Und er lächelte. Er beschrieb sie, als sähe er ihr Bild vor sich.

„Du müsstest die Sanftheit ihrer Augen sehen, dann wäre dir klar, dass man nicht einmal ihr Kinn energisch nennen könnte. Aber ich habe immer gefunden, dass sie nichts von einer willenlosen Weichheit an sich hat, die viele von euch kennzeichnet, die ihr gewohnt seid, nichts und niemandem Widerstand entgegen zu bringen.“ Er sagte: viele von euch. Von euch, und ich fühlte mich wieder weit weg von ihm. Der Augenblick der Nähe, ja der Freundschaft schien in diesem Moment eine geradezu groteske Täuschung. Ich hörte ihn sagen: “Ihre Liebenswürdigkeit erwächst aus einer großen Charakterstärke. Ihre Augen sind das Schönste an ihrem Gesicht. Sie sind von hellbrauner Farbe, ja wirklich, und sie sind ein wenig in die Länge gezogen. Ihre Haut ist rosig und eher hell. Sie hat ein paar Sommersprossen, weißt du, nur ein paar. Die Augenbrauen sind nicht besonders dunkel, und die Nase ist lang. Nicht zu lang, aber fein und lang, und ihr Mund ist wunderbar geschwungen, links ein bisschen höher als rechts, oh ich vergöttere sie wegen dieser Unregelmäßigkeit.“ Wieder schloss er für einen kurzen Moment die Augen. „Ich kann dir jeden Zentimeter ihres Gesichtes, ihres ganzen Körpers beschreiben. Ich liebe sie so sehr.“

 

Ich bin tief erschrocken. Ich bin peinlich berührt. Ich ahne, dass er sich ihr unter einem Vorwand, unter Vorspiegelung falscher Tatsachen genähert haben muss, und ich fange an zu schwitzen bei dieser ungeheuerlichen Vorstellung. Trotzdem zwinge ich mich, ihn geradewegs anzusehen und frage herausfordernd: „Ihres Körpers?“

„Ja“, sagt er einfach. Weiter nichts. Plötzlich scheint er so müde und ausgelaugt, dass ich weiß, unsere Sitzung wird bald zu Ende sein, und es ist ja auch tatsächlich wieder spät geworden.

„Wirst du mir sagen, was du von mir willst?“ frage ich. Er nickt bloß.

„Die Zeit wird kommen“, sagt er, „bald schon. Aber solange du nicht die ganze Geschichte kennst, macht es keinen Sinn.“

 

Ich überlege, ob ich ihm von Arena erzählen soll, von dem, was mir unmittelbar bevorsteht, was mein Leben vielleicht auch in Hinblick auf ihn verändern wird. Ich bin mir fast sicher, dass er mir raten könnte. Bei dem Gedanken stöhne ich unwillkürlich leise auf. Ein Klon soll mir raten bei einer so ungeheuerlichen Angelegenheit wie der Fortpflanzung. Und doch. Er ist sicher der einzige – Mensch, mit dem ich offen sprechen könnte, dem ich meine Befürchtungen, meine Ängste, meine Unzulänglichkeiten beichten könnte, ohne dass er es sofort gegen mich verwenden würde. Vielleicht tue ich Schröder unrecht. Ich weiß nicht, ob Schröder gegen mich arbeiten würde, wenn er daraus Vorteile ziehen könnte. Ich vermute es. Aber ich weiß es nicht wirklich. Allerdings scheint es unmöglich, Schröder in einer so heiklen Angelegenheit anzusprechen. Geschweige denn, um Rat zu fragen. Es fällt mir auf, dass ich nicht einmal weiß, ob Schröder verheiratet ist. Warum weiß ich das nicht? In der Redaktion jedenfalls kann seine Frau, wenn er eine hat, nicht angestellt sein.

 

Und: Wallraf würde mich nicht auslachen. Und: er würde natürlich sofort verstehen, warum diese Frage von so ungeheurer Bedeutung ist.

 

Er sitzt neben mir wie ein Zombie, er ist schon gar nicht mehr bei mir. Ich kann ihn jetzt nichts mehr fragen. Ich gehe einfach zur Tür dieses grässlichen Ortes hinaus, ohne etwas zu sagen und ohne mich noch einmal umzusehen.

 

6

 

Ich fuhr sofort nach Hause. Wenn mich jemand fragen würde, würde ich sagen, mir brummt der Kopf. Diese Hymne war wirklich ein Segen. Noch hatte ich es nicht getan, aber ich konnte sie jederzeit als Entschuldigung für alle möglichen Freiheiten anführen, die ich mir in letzter Zeit genommen hatte. Noch war ich nicht aufgefallen, und es ist klar, wenn ich es einmal erwähnte, müsste ich in Zukunft wieder vorsichtiger sein. Denn abnutzen durfte sich ein solcher Vorwand auf gar keinen Fall. Aber so lange mich niemand zur Rede stellte, so lange stand ich nicht auf der Liste, das heißt, so lange war ich noch nicht aufgefallen, und alles war gut.

 

Ich fühlte mich nicht in der Lage, jetzt noch in die Redaktion zu gehen und eventuell Schröder oder sonst jemandem zu begegnen, die mir entweder dumme Fragen stellen oder mich in ein allgemeines Gespräch über die Lage der Regierung verwickeln konnten. Ich fühlte mich in hohem Maße angespannt, fast fiebrig. Bewegt von dem Bild der Frau, das Wallraf mir ausgemalt hatte und vor allem von der Art und Weise, in der er das getan hatte. Könnte ich Arena in dieser Weise beschreiben? Ich weiß, dass sie blondes, gescheiteltes kinnlanges Haar hat und helle, sehr wache blaue Augen. Von einer wachen Schärfe sind diese Augen. Auch ihr übriges Gesicht ist wirklich hübsch, sagt man. Und sie ist, glaube ich, immer gut angezogen. Passend zu jeder Gelegenheit. Doch, doch, ich bin mir da ganz sicher. Sie ist immer auffallend richtig angezogen. Alle bewundern sie für das Maßvolle ihres Auftretens, wo immer sie hinkommt.

 

Ich dachte an Wallrafs Stimme, als er von dieser Maria sprach, an den weichen Klang seiner Stimme, an das geradezu sehnsüchtige Lächeln, mit dem er ihr Bild aus der Dunkelheit der Kneipe hervorzauberte. Das waren zwei sehr unterschiedliche Arten, eine Frau zu beschreiben. Es beunruhigte mich, wie sehr mich seine Worte gefangen hielten.

 

Ich glaube, ich kann mir die Frau tatsächlich vorstellen. Ich sehe ihr Gesicht geradezu vor mir, und ich merke, wie ich neugierig bin und dass ich mich frage, ob ich sie tatsächlich auf der Straße erkennen würde und auch, wann ich sie sehen werde. Er hat es ja angedeutet, dass ich sie treffen soll.

 

Ich sah mich im Bus um, um nach jungen Frauen Ausschau zu halten, nach jungen Frauen mit glatten, schweren, haselnussbraunen Haaren. Gott sei Dank waren um diese Uhrzeit nicht viele Fahrgäste in dem Bus. Keine Frau auf die seine Beschreibung im Geringsten zugetroffen hätte. Ich musste mich zusammennehmen. Man stelle sich vor, ich würde dabei erwischt, wie ich junge Frauen anstarre! Ich war froh, als ich am Ubierring aussteigen konnte. Die paar Schritte bis zur Hafenanlage würden mir guttun.

 

Der Gebäudekomplex stammt aus dem zweiten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts, besser, die Planung und die ersten Gebäude stammten aus dieser Zeit. Die sind inzwischen neueren, moderneren Hausanlagen gewichen. Der Hafen lag am Ende des 20. Jahrhunderts mehr oder weniger brach. Die Grundidee, hier Hausanlagen mit unzähligen Wohneinheiten zu errichten, ging noch auf diese Zeit zurück. Sie wurde von der Regierung mit der ihr eigenen Rigorosität seit dem zweiten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts verwirklicht. Ein sehr erfolgreiches Projekt. Hier wurde und werden bedeutende Mitglieder des Verwaltungsapparates untergebracht, für die ein zentrumsnahes Wohnen Voraussetzung für einen effektiven und dauerhaft qualitätvollen Arbeitseinsatz ist. Es handelt sich dabei zu neunzig Prozent um Singles, oder um solche privilegierten Zweierbeziehungen, wie die von Arena und mir. Jeder von uns hat einen kombinierten Schlaf-Arbeitsraum und eine kleine Wohnküche, dazu eine Nasszelle und einen kleinen Balkon. Arenas und mein Appartement liegen direkt nebeneinander, wobei wir einen gemeinsamen Eingang und einen Wohnflurbereich teilen, von dem aus unsere jeweiligen eigenen Räume abgehen. Wir stören uns nicht.

 

Ein solches Wohnen ist sehr angenehm. Wir können uns kleine Nachrichten hinterlassen und uns verabreden, wann immer wir wollen. Es ist sogar möglich, den anderen unter Umständen unangemeldet zu besuchen, im Fall einer Dringlichkeit. Ich nutze diese Möglichkeit eher selten aus, und auch Arena ist sehr zurückhaltend. Aber manchmal geschieht es doch, dass wir uns kurzfristig und unvorbereitet treffen. Deswegen sind wir ja schließlich verheiratet.

 

An diesem besonderen Tag wollte ich lieber allein bleiben. Ich hoffte, dass Arena nicht gleich, wenn sie nach Hause kam, bei mir anklopfte. Es war nicht nur wegen Wallraf. Ich war nicht mit ihr verabredet, aber seit neulich ist etwas zwischen uns offen, das noch erledigt werden muss. Es handelt sich um die Eröffnung, die sie mir gemacht hat und die mir seitdem nicht mehr aus dem Kopf geht: wir haben die Erlaubnis zur Fortpflanzung.

 

Also bitte, dagegen ist nicht viel zu sagen. Im Grunde sollte ich stolz darauf sein. Außerdem muss ich das Kind nicht bekommen. Und wenn Arena damit einverstanden ist, ist das schließlich ihre Sache. Dass man sich um das Kind in den ersten drei, vier Jahren in verhältnismäßig aufwendiger Weise kümmern muss, wird mein Leben natürlich schon sehr verändern – oder sollte ich sagen: unser Leben. Andererseits können wir für die Zeit in eine größere Wohnung umziehen, vielleicht sogar in ein Haus; Arena meint irgendwo am Decksteiner Weiher, wo es noch alte Villen gibt. Ich weiß nicht, ob wir tatsächlich ein solches Haus bekommen können, und ich weiß auch nicht, ob ich das wirklich wünschen sollte. Der Anfahrtsweg zur Arbeit ist dann viel aufwendiger. Natürlich kümmert sich die Regierung auch darum, ich sollte mir keine Sorgen machen.

 

In solchen Jahren nimmt die offizielle Arbeitsbelastung deutlich ab. Und danach, wenn das Kind erstmal in die Obhut der offiziellen Erzieher gegeben ist, können wir unser altes Leben hier im Hafen wieder aufnehmen. Wenn Arena sich nicht vorher entschließt, ein zweites Kind zu bekommen. Dazu wird natürlich niemand überredet. Allerdings sieht man es im Allgemeinen gern, dass die, die die Erlaubnis zur Fortpflanzung bekommen, das auch möglichst zügig ausnutzen. Anschließend steht man dann der Gesellschaft wieder voll und ganz zur Verfügung. Eine sehr weise Einrichtung. Wenn man kein zweites Kind möchte, ist das auch in Ordnung. Mehr als zwei Kinder sind ohnehin nicht erlaubt. Es kann in seltenen Fällen geschehen, dass eine Frau beim zweiten Kind Zwillinge bekommt und dann tatsächlich insgesamt drei Kinder hat. Aber in den meisten Fällen tötet man einen Zwilling rechtzeitig ab, um dem anderen eine umso bessere Entwicklungschance zu ermöglichen. Ich muss unwillkürlich an K2 denken und daran, dass manche von den militärischen Klonen zu zehn, zwanzig Exemplaren existieren sollen.

 

Grundsätzlich ist das alles bestens geregelt. Und auch die Frage, ob man lieber einen Jungen oder ein Mädchen bekommen möchte, kann man klären. Im Allgemeinen dürfen sich die Eltern selbst entscheiden. Nur wenn ein Geschlecht aus irgendwelchen Gründen über längere Zeit vorrangig gewählt wurde, schreitet die Regierung ein, so wie damals, als meinen Eltern nahegelegt wurde, einen Sohn zu bekommen.

 

Es ist auch wirklich nicht so sehr die egoistische Angst, diese vier oder schlimmstenfalls sechs Jahre zu verlieren, die mich umtreibt. Denn, wie gesagt, man bekommt alle möglichen Entlastungen und Erleichterungen zugesichert, und schließlich sind vier Jahre keine Ewigkeit und gehen irgendwie vorbei.

 

Mich belastet etwas ganz anderes.

 

Es hat zugegebenermaßen eine Weile gedauert, bis ich mich mit dem Gedanken einigermaßen angefreundet hatte. Immerhin war sie ziemlich unvermittelt damit herausgeplatzt. Aber dann dachte ich, dass es schließlich irgendwie ja auch mal zu erwarten war und fragte sie, welche Art von Kind sie denn wolle.

 

Man kann inzwischen eine ganze Liste von Eigenschaften wählen. Außer dem Geschlecht, selbstverständlich, die Größe, die Haarfarbe, oder auch verschiedene Bereiche des Temperamentes und des Charakters, obwohl ich mir habe sagen lassen, dass letzteres immer noch nicht hundertprozentig funktioniert. Ganz nebenbei sei erwähnt, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass meine Eltern mit meinem Hang zur Romantik einverstanden waren. Ich meine die Tatsache, dass ich meine Großmutter liebte, oder meine Begabung schön zu schreiben, oder die unausrottbare Neigung, gefährlichen Situationen nicht auszuweichen. Das können sie nicht gewollt haben, da muss bestimmt etwas schiefgelaufen sein. Man konnte bestimmte Eigenschaften schon damals auswählen. Aber es klappt nicht alles so, wie man es sich erträumt. Es gibt auch zu viele verschiedene Kombinationsmöglichkeiten, und man kann immer nur einige wenige Bereiche auswählen, auf vieles andere hat man keinen Einfluss, und dann kommen eben sehr unterschiedliche Charakterzusammenstellungen dabei heraus. Am sichersten sind die äußeren Merkmale, wie gesagt: Haarfarbe, Augen, Beinlänge und so weiter. Das Aussehen unserer Rasse hat sich im Übrigen deutlich verbessert, seit das möglich ist, wobei man wiederum bemängeln muss, dass manche Leute von einer geradezu sträflichen Nachlässigkeit bei der Formung ihres Nachwuchses zu sein scheinen.

 

Jedenfalls brachte ich das Gespräch auf diese Möglichkeiten, die meiner Empfindung nach quasi einer Verpflichtung gleichkommen.

 

Sie schien einen Augenblick wirklich ratlos – ich erinnere mich genau, dass ich das voller Staunen registrierte, um gleich darauf mit einer gewissen Entschlossenheit, die sozusagen von einem Ruck, der durch ihren Körper ging, begleitet wurde, darauf zu antworten. Dabei rückte sie unangenehmerweise wieder sehr nah an mich heran und legte ihre Hand auf meinen Oberschenkel. Zu dem Zeitpunkt saßen wir bereits in unserem gemeinsamen Wohnflur und tranken eine Flasche Wein, die wir zur Feier der Gelegenheit aufgemacht hatten. Sie sagte, dass wir uns keine Sorgen über die Zusammenstellung unseres Babys zu machen brauchten – sie sagte wirklich: „Baby“, was mich irgendwie unangenehm berührte -, dass die Regierung nicht daran dachte, unseren tiefgefrorenen Samen für unsere Fortpflanzung zu nutzen, sondern dass wir die Erlaubnis hatten, auf völlig unkonventionelle Weise, unbeeinflusst, aber eben auch unbeeinträchtigt für unseren Nachwuchs zu sorgen.

 

Es hatte mir die Sprache verschlagen. Wenn ich das richtig verstand – und ihre Worte ließen ein Missverstehen eigentlich nicht zu – bedeutete das, dass wir miteinander schlafen und ein Kind auf dem altertümlichen, dem sogenannten natürlichen Weg zeugen sollten.

„Warum?“ brachte ich schließlich hervor.

 

Sie schien beleidigt über diese Reaktion und fragte: „Freust du dich nicht?“ Normalerweise hätte ich sie beschwichtigen sollen, ihr versichern, dass sowohl ihr eigener Wunsch, als auch der der Regierung natürlich meinem eigenen entsprach, dass ich es so, wie es offensichtlich verabredet war, insgeheim selber immer schon für das beste gehalten hatte. Aber ich war vollständig aufgelöst und nicht in der Lage, mich in der üblichen Weise klug zu verhalten. Ich konnte nicht verstehen, was da von mir verlangt wurde, noch warum sie es taten. Auch begriff ich Arenas Rolle in dem Spiel nicht und warum sie sich diesem ungewöhnlichen Ansinnen nicht widersetzt hatte. Ich musste im Gegenteil annehmen, dass sie damit einverstanden war – aus welchen Gründen auch immer, ja dass sie vielleicht selber die Weichen hierzu gestellt hatte.

 

Ich war aufgestanden und ging aufgebracht in dem kleinen Raum auf und ab. Plötzlich fühlte ich mich eingeengt, ich glaubte, keine Luft mehr zu bekommen. Ich öffnete die Tür zu meinem eigenen Bereich, ging zum Fenster, das über den Fluss blickte und öffnete auch dieses. Einen Augenblick versuchte ich die Abendstimmung, die mir noch auf dem Nachhauseweg friedlich vorgekommen war, auf mich wirken zu lassen, etwas von der warmen milden Luft in mich aufzunehmen, um die Panik, die in mir hochgestiegen war, nieder zu kämpfen. Dann riss ich mich zusammen und ging zu ihr zurück.

„Warum das?“ wiederholte ich und versuchte, meine ablehnende Reaktion abzumildern und so zu tun, als ränge ich lediglich um Verständnis für einen allzu ungewöhnlichen Vorfall, sei aber im Übrigen nicht wirklich abgeneigt, eben nur irritiert.

„Warum wir, Arena, was steckt hinter dieser Vorgabe? Ich glaube nicht, dass ich irgendjemanden kenne, der auf diese Weise Kinder in die Welt setzt. Es muss doch einen besonderen Grund dafür geben?!“

 

Sie war offensichtlich wütend über meinen Ausbruch, aber auch sie riss sich zusammen und versuchte, sachlich zu bleiben.

„Es hat seinen Grund in der Qualität des Nachwuchses“, sagte sie, „das muss dir doch klar sein. Die Reagenzglas Zeugung ist völlig veraltet, und außerdem sind beim Auftauen des Erbguts häufig gravierende Schäden aufgetreten. Seit längerem bereits ist die Regierung zu dem Schluss gekommen, dass wirklich hervorragendes Material nur durch den ursprünglichen Weg der Zeugung zu erhalten ist.“

Meine Verblüffung war durch ihre Worte eher noch gewachsen. Egal, was sie da behauptete, die Reagenzglas Zeugung wird seit fünfzig Jahren erfolgreich angewendet, ja viel länger schon, ihre Anfänge gehen weit ins 20. Jahrhundert zurück, und es ist mir nie zu Ohren gekommen, dass irgendetwas damit nicht in Ordnung sein soll. Schließlich bin ich auch auf diese Art entstanden und Arena selbst und all die anderen – was also stimmte damit jetzt plötzlich nicht mehr? Dass es zu Verunreinigungen beim Auftauen des Erbguts gekommen sein soll und zu anderen unliebsamen Zwischenfällen, weiß man ja, auch wenn nicht oft darüber gesprochen und die ganze unerfreuliche Angelegenheit so diskret wie möglich behandelt wird. Aber schließlich ist nichts einfacher, als diese – Unfälle, so möchte ich sie einmal nennen, auf unauffällige Weise aus der Welt zu schaffen. Man hat doch üblicherweise wirklich reichlich Samen eingefroren, so dass ein weiterer Versuch, ja letztlich beliebig viele weitere Versuche jederzeit denkbar sind.

 

Und jetzt konnte das als Begründung dafür herhalten, die gänzlich unkontrollierbare Methode unserer Großeltern wieder einzuführen, für deren stufenweise Abschaffung man Jahrzehnte gebraucht hatte, die sowohl, was das Geschlecht als auch was das Aussehen des auf diese Weise gezeugten Kindes anging, nicht die geringsten Einflussmöglichkeiten zuließ. Ich verstand es wirklich nicht.

 

Arenas Gesicht andererseits ließ keinen Zweifel daran, dass genau diese Methode für uns ausgewählt war und dass sie auf deren Anwendung bestehen würde – was immer ihre tatsächlichen Gründe oder die übergeordneten Hintergründe für diese absonderliche Entscheidung auch sein mochten. Ich saß in der Falle. Und ich bekam Angst. Vorsichtiger geworden, bemühte ich mich mit größter Anstrengung, vorzutäuschen, dass ihre Erklärung mich einigermaßen beruhigte. Es gelang mir sogar, eine gewisse Gelassenheit an den Tag zu legen. Ich hatte wieder meinen Platz ihr gegenüber eingenommen und erhob das Weinglas, um ihr zuzuprosten.

„Interessant“, sagte ich dann, „es ist doch immer wieder interessant, wie die Entwicklung voranschreitet. Du musst mein Erstaunen und meine Erregung verzeihen, meine Liebe, aber diese Erkenntnisse müssen zu den allerneuesten gehören. Sie sind, soweit ich weiß, noch nicht öffentlich diskutiert worden. Ich bin immer wieder verblüfft darüber, wie nah du am Puls der Zeit bist und wie gut deine Verbindungen sind, dass du praktisch als eine der allerersten solche ungeheuer wichtigen Neuerungen erfährst.“ Sie lachte geschmeichelt auf.

 

Ich hatte nach unserer Eheschließung schnell begriffen, dass es nicht gut war, Arena zu widersprechen und dass man, wenn man selber etwas durchsetzen oder erreichen wollte, ihr schmeicheln musste. Auf ihre besonderen Verbindungen, über die ich nicht annähernd Bescheid weiß, weil sie mich darüber völlig im Dunkeln lässt, ist sie sehr stolz, gefährlich stolz. Aber sie ist aus diesem Grund eben doch manipulierbar. Was sie nicht im Mindesten ahnt.

 

Ich überlegte mit großem Unbehagen, was jetzt kommen würde, kommen musste, zog es aber vor, selber zu schweigen.

„Also freust du dich doch“, stellte sie mit Genugtuung fest, und ich hielt ihr, statt eine Antwort zu geben, noch einmal das Weinglas entgegen.

„Es ist wirklich eine sehr überraschende Wendung“, sagte ich und versuchte ein Lächeln, „das musst du nun zugeben. Ich muss mich einen Augenblick daran gewöhnen. Das heißt“, fügte ich schnell hinzu, als ihr Blick sich schon wieder zu bewölken begann, „du bist so schön, Arena, ich bin völlig verwirrt, gib mir ein paar Tage Zeit...“, fieberhaft suchte ich nach den richtigen Worten, „gib mir Zeit, Mut zu fassen. Ich möchte mich der Situation würdig erweisen.“

 

Das ging gerade noch mal gut. Sie gluckste zufrieden und bekam wieder diesen Blick, den meine Großmutter kokett genannt hätte und der mich erschreckte, weil er etwas verhieß, von dem ich lieber verschont geblieben wäre.

 

Während ich jetzt, von Wallraf kommend, den Ubierring entlang auf die Hafenanlage zuging, dachte ich mit Schrecken an Arena und die nächsten Tage.

 

Die Wohnanlage ist gläsern. Die riesigen Türme wirken wie durchsichtig. Unten und in der Mitte sind ganze Bereiche tatsächlich für den Durchblick frei gelassen. Im Übrigen sind die Wände fast vollständig aus Glas. Man kann in fast alle Wohnbereiche direkt hineinsehen. Vorhänge oder dergleichen sind verpönt. Mit Ausnahme der Nasszellen, die ganz dem persönlichen Bereich vorbehalten sind, ist unser Leben öffentlich. Seit ich mit Arena zusammenwohne, habe ich mich vollständig daran gewöhnt. Ich muss sogar sagen, dass es mir eine gewisse Erleichterung verschafft, weil solche Öffentlichkeit einen in gewisser Weise vor Nachforschungen und vor den Nachstellungen der Offiziellen schützt. Ich habe das Gefühl, dass ich unbehelligt bleibe, weil ich jedem jederzeit erlaube, an meinem Leben in ziemlich direkter Weise Anteil zu nehmen. Es ist ein guter Trick, er funktioniert seit langem. Jetzt allerdings verspüre ich den dringenden Wunsch, mich völlig zurückzuziehen, mich unsichtbar, unerreichbar, unantastbar zu machen. Ich habe das Bedürfnis, nachzudenken, meinen Gedanken nachzuhängen. Ich möchte die unterschiedlichen Emotionen, die mich aufwühlen, verstehen und bewältigen. Noch ehe Arena den nächsten Schritt tun wird, muss ich mich gefasst haben, um adäquat darauf zu reagieren. Eine solche Schlappe wie neulich, als mein Horror vor dem, was man von mir erwartet, geradezu aus mir herausgebrochen ist, kann ich mir kein weiteres Mal erlauben.

 

Horror. Das ist das richtige Wort. Ich habe keine Vorstellung davon, ja mein Verstand, meine Phantasie weigern sich ganz einfach, mir einen konkreten Eindruck davon zu vermitteln, was auf mich zukommen wird.

 

Arena hatte bereits alles arrangiert. Wir würden ein Zimmer in dem alten Wasserturm bekommen. Das ist ein Hotel der „romantischen“ Art, wie es heißt. Es ist nicht besonders groß, liegt sehr zentral und stammt noch aus dem vorigen Jahrhundert. Damals, in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts, hatte eine bekannte Pariser Architektin einen alten Wasserturm zu einem Hotel umfunktioniert, und es galt zu seiner Zeit als „non plus ultra“ und ganz besonders chic. Heute ist es eher veraltet und kann den Anforderungen des modernen Gastes keineswegs mehr genügen. Aber man hat es von offizieller Seite doch weitergeführt, wenn auch keineswegs ganz klar war, wofür es eigentlich genutzt wurde. Arena sagte, es hätte andere Möglichkeiten gegeben, aber sie habe sich meinetwegen für diesen Ort entschieden. Es sei für unser Vorhaben unbedingt notwendig, dass ich mich wohl fühlte, und da mein Hang zu traditionellen, eher altertümlichen Varianten des Lebens bekannt sei, habe sie angenommen, dass eine solche „romantische“ Lösung meinen Neigungen entgegenkommen müsste.

 

Ich brauche nicht extra zu betonen, dass mich diese Vorbereitungen aufs äußerste beunruhigen. Nicht nur ist klar, dass außer Arena und mir noch eine Reihe von anscheinend wichtigen Personen an dem Geschehen Anteil nimmt, was mich insgeheim befürchten lässt, dass das, was wir tun müssen, unter offizieller Kontrolle steht, möglicherweise auch unter visueller Kontrolle. Ich begreife außerdem, dass meine geheimsten Wünsche und Vorlieben nicht auf mein eigenes Hirn beschränkt bleiben, sondern dass ich durchschaut werde. Dazu muss man mich allerdings doch mehr und ausführlicher beobachten und analysieren, als ich dies je für möglich gehalten habe. Immer dachte ich, ich sei zu unbedeutend. Sie können sich nicht mit jedem abgeben. Sie suchen sich die Großen raus, das ist klar und die, die gefährlich werden können. Wissen sie nicht, dass ich niemals gefährlich werden könnte?

 

Groß bin ich ganz gewiss nicht. Es dämmert mir, dass meine Verbindung mit Arena mich möglicherweise doch in die Nähe der Großen gebracht hat. Zum ersten Mal denke ich, und ich tue es mit einer aufkommenden Verzweiflung, dass es ein Fehler gewesen sein könnte, Arena zu heiraten.

 

Andererseits hatte ich gar keine Wahl. Schon damals war von anderer Seite lange beschlossen worden, dass Arena und ich zusammengehören sollten. Ich wurde nicht gefragt. Ich bezweifle, ob man Arena gefragt hat. Allerdings habe ich, wie gesagt, keine Ahnung, was sie wirklich für eine Rolle spielt. Ich hatte damals so wenig eine Wahl wie heute, aber merkwürdigerweise habe ich es überhaupt nicht so empfunden. Im Gegenteil, ich war sehr stolz, und glücklich, in dieser Weise ganz offensichtlich auserwählt worden zu sein.

 

Noch etwas erschreckt mich, das Wort „romantisch“. Es ist ein gefährliches Wort. Es gehört zum offiziellen Sprachgebrauch, das ist wahr, aber es hat etwas durchaus Zweideutiges, etwas Unkalkulierbares. Man kann sich nicht auf der sicheren Seite fühlen mit diesem Wort. Und dann Arenas Bemerkung über meinen Hang zum Traditionellen, Altertümlichen. Das sind Worte, über die man nachdenklich werden kann. Wenn sie mich immer noch so einschätzen, muss ich vermuten, dass sie nicht glauben, ich hätte mich seit der Zeit, als ich meine ersten Schreibversuche über meine Großmutter machte, wesentlich „geändert“. Das hieße aber doch wohl „gebessert“. Ich habe mich nicht gebessert. Ich habe keine Fortschritte gemacht. Ich begreife, dass ich gefährlich lebe. Ich werde mich beugen müssen. Ich tue gut daran, den Vorschlag einer Zeugungsnacht im alten Wasserturm mit Begeisterung aufzunehmen.

 

Ich lege mich auf mein Bett und schließe die Augen. Ich habe Kopfschmerzen, ich trage eine große Verantwortung. Schönschreiben ist eine Kunst, und sie lässt sich nicht steuern wie die Produktion von Flaschenbier.

 

Ich habe noch zwei Tage Zeit. Es ist alles berechnet und vorbereitet. Es gibt diesen gewissen Augenblick, in dem es geschehen muss. Ich habe keine Ahnung, was noch alles dazu gehört. Arena ist, seit sie es mir gesagt hat, auffallend vergnügt. Immer schaut sie zuerst bei mir rein, wenn sie abends nach Hause kommt, um ein bisschen zu reden. Sie interessiert sich plötzlich für meinen Tagesablauf und vor allem für die Fortschritte beim großen Lobgesang. Offensichtlich hegt sie große Erwartungen, was das betrifft. Es ist für mich ein Leichtes, sie in dieser Hinsicht zu beruhigen oder besser, ihre Phantasie noch anzuregen. Denn ich weiß bestimmt, dass ich das zu aller Zufriedenheit meistern werde. Niemand ahnt, wie leicht mir das fällt. Ich habe im Grunde schon alles im Kopf. Aber ich werde meine Trümpfe nicht so bald aus der Hand geben.

 

Ich weiß nicht, was mich erwartet. Ich weiß nicht, wie ich reagieren werde. Ich denke an die Badehäuser und meine einschlägigen Erfahrungen. Es ist mir unvorstellbar peinlich. Die Frauen dort tragen sehr ungewöhnliche Kleidung, sehr eng anliegende Sachen, oftmals in Schwarz und Rot oder Silbermetallic. Manche wirken wie gepanzert, andere haben sehr kurze Röcke oder tiefe Ausschnitte. Immer werden auf krudeste Weise ihre enormen Busen und ihr Geschlecht betont. Ich hatte große Schwierigkeiten, von selbst den Nutzen der Badehäuser zu entdecken. Aber sie haben so viel Erfahrung. Immer – das heißt, ich war nur drei- oder viermal dort – immer hat eine begriffen, wie sehr irritiert ich durch die allgemeine Stimmung dort war und auch durch die Erscheinung der Frauen. Dann führte mich eine in einen der kleinen Verschläge, dimmte das Licht und zog sich einen Mantel über ihre Verkleidung. Was sie dann mit mir machten, habe ich wohl gespürt, aber immer hielt ich die Augen geschlossen, und ich war passiv, das kann ich wohl sagen.

 

Ein einziges Mal habe ich selber in gewisser Weise aktiv an dem Geschehen teilgenommen. Das war kurz nachdem Arena und ich uns zusammengetan hatten. Seitdem war ich nie wieder dort.

 

Ich frage mich, ob Arena, nackt sein wird. Der Gedanke ist mir unerträglich. Ich spüre eine heiße Angst in mir hochsteigen. Tränen füllen meine Augen.

 

Ich höre Wallrafs Stimme. Er beschreibt die Frau. Seine sonderbare Stimme malt das Gesicht der Frau in meine Vorstellung. Ich spüre, wie ich mich langsam wieder beruhige. Wallrafs Stimme und seine Beschreibung der Frau füllen mich aus wie eine warme Aufwallung meines Blutes. Es ist das besondere Gefühl, das man empfindet, wenn man sich nach einem plötzlichen Schrecken, der den Körper schockartig durchzuckt, vergewissert, dass nichts Ernsthaftes geschehen ist. Es ist dasselbe Gefühl, ein warmes, beruhigendes Zurückfluten des Blutes. Sehr angenehm.

 

Wallrafs Worte lassen die Frau geradezu bildhaft vor meinem inneren Auge erstehen. Ihr sanftes Lächeln, die hellbraunen Augen, die zarte, rosige Haut auf ihren Wangen, der etwas schiefe Mund, der unregelmäßige Mund, der etwas ungemein Irritierendes hat, etwas gleichzeitig Anrührendes und Faszinierendes und der sogar ein bisschen aufreizend wirkt. Die Wallung meines Blutes wird stärker. Ich bin verwirrt. Etwas geschieht mit mir, dass ich so nicht kenne. Irgendwo in meinen Inneren muss ich das Bild dieser Frau lange in mir getragen haben. Ich empfinde etwas, dass ich nicht beschreiben kann. Ich glaube, ich nenne es Sehnsucht.

 

Unvermittelt stand Arena vor meinem Bett. Ich hatte sie nicht hereinkommen hören. Sie wollte wohl fragen, wieso ich auf dem Bett liege, wo ich die ganze Zeit gewesen sei. Aber sie hatte etwas an mir entdeckt, dessen ich mir selber noch kaum bewusst geworden war. Der Gedanke an diese Frau, die Vorstellung von ihr waren so stark, dass sie sichtbaren Einfluss auf meinen Körper genommen hatten. Arena starrte auf den Punkt zwischen meinen Beinen und sagte mit tiefer Genugtuung: „Ich weiß, woran du denkst.“

7

 

Noch ein Tag. Schröder blättert in unserer Zeitung und sagt: „Dr. Spengler hat in der heutigen Ausgabe keinen Beitrag geschrieben.“

Wir sitzen in dem allgemeinen Aufenthaltsraum. Wir haben gerade zu Mittag gegessen. Wir sind etwa sieben Leute, locker über den Raum verteilt. Nur Schröder und ich sitzen etwas näher zusammen. Jemand, auf den ich nicht geachtet habe und dessen Gesicht hinter der Zeitung verborgen bleibt, sagt: „Es hat seit Tagen keinen Bericht von Dr. Spengler mehr gegeben.“

Ich blicke fragend zu Schröder rüber. Ich weiß, dass es etwas Besonderes damit auf sich haben muss. Natürlich ist sein Gesicht verschlossen wie immer. Aber er blickt doch zu mir zurück, als er dem Unsichtbaren antwortet: „Sicher ist etwas Großes zu erwarten.“ Dann tritt wieder Ruhe ein.

 

Ich bin beunruhigt. Etwas ist mit Dr. Spengler. Wir können nicht hoffen, zu erfahren, was im Einzelnen los ist. Aber wir können uns unseren Teil denken. Seit Tagen also schreibt Spengler nicht mehr, besser: wird kein Text von Spengler mehr veröffentlicht. Das kann nur bedeuten, dass er in Ungnade gefallen ist. Oberflächlich betrachtet, könnte Schröders Bemerkung: ‚Sicher ist bald Großes zu erwarten‘ so gedeutet werden, als arbeite Spengler also an einem umfangreicheren Text; als würde irgendeine Umstrukturierung stattfinden, für die sehr intensive Vorbereitungen notwendig wären, als gäbe es für das augenblickliche Ausbleiben der täglichen Spenglerschen Texte zeitökonomische Gründe. Aber, wie ich schon sagte, wählt Schröder seine Worte immer sehr genau. Und er hat nicht gesagt: ‚Sicher ist bald Großes von Spengler zu erwarten‘.

 

Etwas anderes bereitet sich vor. Ob es mit der Wiederbesetzung der Stelle des stellvertretenden Chefredakteurs zu tun hat, die ja wohl an Spengler gehen soll?

„Die Umbenennung in C’lone University soll am Ov-Ov-Festival bekannt gegeben werden“, lässt sich der mit dem Gesicht hinter der Zeitung vernehmen. Es kommt wie ein unerwarteter Schlag in die Magengrube. Zum ersten Mal höre ich jemanden das aussprechen: C’lone University. Es war mir nicht bewusst geworden, als ich es zum ersten Mal las. Aber natürlich – gesprochen hört es sich an wie Clone: Clone University und sicher bald: Clone City.

 

Sehr flüchtig sehe ich zu Schröder hinüber, ob der sich etwas anmerken lässt. Lässt er nicht. Überhaupt reagiert niemand im Geringsten auf die Bemerkung. Ich bin mir aber sicher, dass ihnen allen die Brisanz des Gesagten bewusst geworden ist.

 

Allerdings ist das alles so neu, und man kann die Tragweite dessen, was sich hinter einer derartigen Umbenennung verbirgt, noch so gar nicht fassen, dass sich niemand seine Überraschung anmerken lassen will.

„Ich gehe wieder an die Arbeit“, sage ich, obwohl ich noch gut fünf Minuten Pause habe. Es macht einen guten Eindruck, wenn man sein Pausenkontingent nicht bis auf die letzte Minute ausschöpft. Und außerdem bin ich durch die zahlreichen Freigänge ohnehin privilegiert genug. Hier in der Redaktion bemühe ich mich, sehr konzentriert meiner Arbeit nachzugehen.

„Ich komme mit.“ Schröder steht ebenfalls auf. Wir können uns das erlauben. Wir haben denselben Weg, weil unsere Büros auf derselben Etage liegen, allerdings an verschiedenen Enden des Ganges. Meistens legen wir den gemeinsamen Weg schweigend zurück. Ab und zu lässt Schröder mir eine Information zukommen. Aber natürlich auf seine Schröder-Art. Nie sagt er etwas, bei dem nicht andere dabei sein können. Ich habe sogar den Verdacht, dass er, wenn er mir etwas besonders Wichtiges mitteilen will, dies immer nur in Gegenwart Dritter tut. Er richtet jedenfalls bedeutend häufiger das Wort an mich, wenn wir nicht allein sind, während er, wenn wir es sind, eher unbeteiligt tut. Ich bewundere seine Umsichtigkeit immer wieder. Situationen wie neulich, als wir uns im Dom getroffen haben, sind sehr, sehr selten, und außerdem ist es draußen etwas anderes.

 

Im Rausgehen versuche ich, das Gesicht hinter der Zeitung zu sehen. Es gelingt mir nicht.

 

Ein Mann aus Schröders Abteilung steht vor dem Fahrstuhl. Er fährt mit uns nach oben.

„Du solltest die Bemerkung von Burghard aus der Politik vielleicht in deinen Lobgesang integrieren“, schlägt Schröder im Nach-Oben-Fahren unvermittelt vor. Geistesgegenwärtig antworte ich: „Daran habe ich auch schon gedacht.“

Der andere bemerkt: „Ich sollte Ihnen noch gratulieren, Böll, da haben Sie ja eine gewaltige Aufgabe vor sich – so ein Glück müsste man haben!“ Ehe ich reagieren kann, sagt Schröder: „Weniger Glück, lieber Classen, als Können. Unser Böll hier kann eben etwas, sonst hätte man ihn nicht ausgewählt.“

„Klar, mein ich doch“, grinst Classen.

Ich weiß nicht genau, was er wirklich meint. Sicher wissen oder ahnen viele, dass ich mein Glück zum großen Teil Arena verdanke. Die Idee mit dem Lobgesang, zum Beispiel. Hätte mir auch selber kommen können. Ist sie aber nicht. Ich sage: „Es ist eine verdammt verantwortungsvolle Aufgabe, aber ich denke schon, dass ich damit zurechtkomme. Eine echte Herausforderung.“ Ich merke, dass man das missverstehen könnte und füge schnell hinzu: „Es ist phantastisch, wie die Betrachtung der Errungenschaften unserer Zeit einen geradezu mitreißen, das muss ich sagen. Ich hoffe, dass es mir gelingt, die richtigen Worte dafür zu finden.“

„Nun mal nicht so bescheiden“, sagt Schröder, als der Fahrstuhl auf unserer Etage angekommen ist. Wir gehen in verschiedene Richtungen auseinander.

 

Also gehörte das Gesicht hinter der Zeitung Burghard aus der Politik. Es ist klar, dass irgendetwas im Busch ist. Die aus der Politikabteilung verirren sich normalerweise nicht in unseren Aufenthaltsraum. War der gekommen, um uns zu beobachten? Uns? Oder Schröder? Oder mich? Oder wen sonst. Sicher ist bald Großes zu erwarten, hatte Schröder gesagt. Irgendetwas bereitet sich vor. So ist das zu verstehen.

 

Ich bin kaum in meinem Büro, als ich dringend auf die dritte Etage beordert werde. Die dritte Etage! Der Geschäftsführer persönlich. Ich gehe in Bruchteilen von Sekunden unsere Gespräche durch: beim Essen, im Aufenthaltsraum, im Fahrstuhl – alles harmlos. Die Hymne. Es muss sich um die Hymne handeln.

 

Normalerweise kümmert man sich an höchster Stelle nicht um unsere Texte oder besser gesagt: nicht direkt. Wir reichen unsere Ideen den Redakteuren ein, die eine Vorauswahl oder Vorabkritik vornehmen und die Texte dann entweder frei geben oder im Zweifelsfall auch weiterreichen. Je nach Bedeutung des Inhaltes kann die Vorabkritik tatsächlich bis ganz nach oben gehen, aber für meine Abteilung, für Texte des Inhalts, wie sie beim Schönschreiben allgemein üblich sind, trifft das meistens nicht zu. Obwohl jeder von uns selbstverständlich immer wieder geprüft wird und solche Prüfungen, die in regelmäßigen Abständen erfolgten, sehr ernst genommen werden müssen. Es kann daraufhin eine Charakterkritik erfolgen, im schwerwiegenden Einzelfall sogar eine Zurechtweisung – und dann natürlich immer wieder Stilkorrekturen, die sowohl einzelne, aus der Mode gekommene Wörter wie ganze, uninteressant gewordene Bereiche betreffen können. Man darf nicht vergessen, dass die Schönschreiber sehr frei sind. Sie können ihre Themen häufig selber wählen. Natürlich bekommt man mit der Zeit ein Gefühl für das, was man besprechen und beschreiben soll. Aber die Kontrolle ist schon gut, sonst würde es sicher hier und da zu unliebsamen Entgleisungen kommen.

 

Während ich den Fahrstuhl wieder nach unten, in die dritte Etage nehme, geht mir ganz kurz durch den Kopf, dass es vielleicht etwas mit Wallraf zu tun haben könnte. Bei dem Gedanken wird mir schlecht vor Angst. Ich darf mir auf gar keinen Fall etwas anmerken lassen. Es ist bekannt, dass alle Fahrstühle mit Kameras ausgestattet sind. Mikrophone sowieso. Ich blicke auf meine Schuhe, zupfe eine Fluse von meiner Hose, so als kontrolliere ich mein korrektes Aussehen, bevor ich vor den Geschäftsführer trete.

 

Es kann nicht sein. Sie würden das Risiko nicht eingehen. Wenn sie mich mit dem Klon erwischen, bin ich augenblicklich ein toter Mann. Sie würden mich nicht in das Zimmer des Höchsten bitten, um mir mitzuteilen, dass sie mich des schwersten aller Verbrechen anklagen. Ich bin ein unwichtiger Schreiberling. Sie würden mich unauffällig aussortieren. Arena würde wahrscheinlich leugnen, jemals verheiratet gewesen zu sein. Schröder würde irgendwie herausbekommen, was mit mir und warum geschehen war, und ich kann mir vorstellen, dass er einem anderen ‚Vertrauten‘ gegenüber verlauten lassen würde: ‚Es ist bedauerlich, dass niemand daran gedacht hat, beim Ov-Ov-Festival ein Lobgedicht auf unsere glorreiche Regierung zu halten‘.

 

Ich muss mich unbedingt unter Kontrolle kriegen. Ich frage mich, wen Schröder als Vertrauten auswählen würde. Jedenfalls nicht Classen.

 

Als ich vor der richtigen Tür stehe, geht sie auf wie von Geisterhand. Ich bin sicher, dass sie jeden meiner Schritte beobachtet haben. Die Sekretärin ist eine schlanke Blonde undefinierbaren Alters. Sie ist tadellos angezogen. Ich bin mir sicher, sie nie vorher gesehen zu haben. In den dritten Stock kann man nicht einfach selber fahren. Man wird dort angehalten und ausgeladen, wenn man gerufen worden ist. Die, die dort arbeiten, treffen im Normalfall nicht mit den anderen zusammen. Nur der Chefredakteur in den seltenen allgemeinen Richtliniensitzungen und natürlich der stellvertretende Chefredakteur in den etwas häufigeren wichtigen redaktionellen Sitzungen. Die anderen nie: der Vorstand, der Geschäftsführer, der Finanzverwalter – eben alle, die etwas zu sagen haben. Und auch das untergeordnete Personal, das dort arbeitet, Sekretärinnen, Boten usw., sie alle halten sich für sich. Bei den jährlichen beiden Betriebsfesten, im Sommer und zu Weihnachten, tauchen regelmäßig verschiedene Personen auf, deren Herkunft man nicht kennt, und es liegt nahe, zu vermuten, dass sich hierunter solche von der dritten Etage befinden, möglicherweise sogar recht wichtige. Aber man erhält darüber keine Aufklärung. Und man fragt natürlich nicht.

 

Ich wundere mich also nicht, dass ich die hier noch nie gesehen habe. Ich frage mich, ob ich sie attraktiv finde. Ich frage mich das nur, weil mir die bewusste Begegnung mit Arena bevorsteht und ich wissen möchte, ob Frauen ganz allgemein auf Männer wirken und wie. Ich frage mich das seitdem ununterbrochen: wie wirken Frauen auf Männer, welche Frauen wirken auf welche Männer und natürlich welche Frauen wirken – auf mich?

 

Sie hat etwas Blechernes an sich. Ich weiß nicht, warum ich das denke. In ihrem kühlen zurückhaltend-freundlichen Lächeln, das durch seine unglaubliche Perfektion besticht, erkenne ich einen leicht metallischen Glanz. Und sie kommt mir vor wie aus fein gearbeitetem, edlem Aluminium. Das ist mal eine, deren Eltern die allergrößte Mühe auf die äußere Zusammenstellung ihrer Tochter verwendet haben. Hier stimmt aber auch alles. Wie kriegen die das bloß hin? Ich frage mich, ob ich so eine gerne als Tochter hätte, und auch, welches Geschlecht ich, wenn ich die Wahl hätte, aussuchen würde. Ich bin mir fast sicher, dass Arena so ein Exemplar wie die Sekretärin hier, wahrscheinlich nicht wollen würde. Ich irgendwie auch nicht. Obwohl ich doch zugeben muss, dass sie auf ihre Art perfekt ist.

 

Ich habe den Geschäftsführer noch nie gesehen, aber ich weiß, dass er Dr. Becker heißt. Wie nicht anders zu erwarten, ist Dr. Becker eine imposante Erscheinung. Er ist groß, hat volles dunkles Haar und trägt eine Brille. In meinen Kreisen ist es besser, Kontaktlinsen zu benutzen, wenn man nicht mehr so gut sieht. Ich weiß aber, dass die Macher in allen Bereichen sehr häufig eine Brille als Zeichen ihrer großen Verantwortung tragen. Ich überlege, wie alt Becker ist, als er hinter seinem Schreibtisch aufsteht, um auf mich zuzukommen und mir die Hand zur Begrüßung zu geben. Ich bin starr vor Staunen und weiß nicht, wie ich reagieren soll. Dennoch stelle ich blitzschnell fest, dass er nicht mehr so jung sein kann. Er ist natürlich geglättet. Mehrfach. Seine Haut hat bereits die Konsistenz von Pergamentpapier, wie sie nach zu häufigem Glätten verräterischer Weise auftritt. Man findet einfach keine Mittel dagegen. Er hat enorm viel jugendlichen Schwung, wie er da so auf mich zukommt, und vielleicht kann er manche über sein wahres Alter hinwegtäuschen. Aber ich bin es gewohnt, sehr genau hinzusehen. Mein Beruf bringt das mit sich, die genaue Beobachtung, die der Beschreibung vorangeht. Er ist deutlich älter als meine Mutter war. Ich glaube sogar, dass er bereits über sechzig ist. Der Gedanke geht mir durch den Kopf, dass man ihn wohl bald entsorgen wird, und ich frage mich, wer das tun wird. Seine Kinder? Die Verantwortlichen unserer Zeitung? Und absonderlicher Weise begreife ich in diesem Augenblick, wie schwer es jemandem fallen muss, der wie Dr. Becker den Gipfel der Macht erreicht hat, und der noch einigermaßen in Schuss ist, sich darauf vorzubereiten, dass die unausweichliche Entsorgung näher rückt.

 

Ich weiß nicht, warum ich ausgerechnet daran denke, während Dr. Becker mich mit munteren Worten, die zu solchen Gedanken in großem Kontrast stehen, auffordert, in einer Sitzecke Platz zu nehmen. Aus dem Fenster haben wir einen schönen Blick auf den freien Platz vor der Oper, auf dem Inseln mit Wasserspielen und solchen mit wunderbarem Grünbewuchs abwechseln, die die Menschen zum Verweilen einladen sollen. Natürlich ist jetzt, am frühen Nachmittag niemand da, der davon Gebrauch machen würde. Ich sehe einen Mann mit einer Harke, der lustlos in den Grünbeeten herumstochert. Ich überlege, ob ich eine Bemerkung zu der Aussicht machen soll, lass es dann aber bleiben und warte ab, was da kommen wird. Die Kamera über dem Fenster ist genau auf uns gerichtet.

„Ich möchte Ihnen gratulieren, Böll,“ fängt Becker an, und ich lächele verbindlich, weil mir nicht völlig klar ist, wozu er mir gratulieren will. Ich nehme mal an, die Hymne. Ich sage: „Danke, ja, ich bin sehr froh.“

„Das können Sie auch sein. Ihre Frau ist eine außerordentlich talentierte Person, eine hochqualifizierte Mitarbeiterin, dazu motiviert und weitsichtig wie kaum eine. Sie wird es weit bringen, darf ich Ihnen prophezeien. Und sie hat es in gewisser Weise durch sie ja bereits auch schon getan.“

Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. „Ja, sie ist außergewöhnlich“, sage ich vage.

„Deswegen ist es ein Glück – ich darf Ihnen das von Mann zu Mann sagen –, dass sie die Erlaubnis zur Fortpflanzung und gerade auch auf diese besondere Weise erhalten haben. Ich gratuliere noch einmal. Wir können solchen Nachwuchs dringend brauchen.“ Und dann fügt er, zu meinem Entsetzen, mit einem falschen lauten Lachen hinzu: „Strengen Sie sich an, Böll, nicht dass Ihnen jemand helfen muss!“ Ich werde rot. Ich bin darauf nicht vorbereitet. Es kann nicht sein, dass ich zum Geschäftsführer unserer Zeitung gerufen werde, um über die unangenehmsten, intimsten Details meiner Ehe sprechen zu müssen. Wieso weiß er überhaupt davon?

 

Er merkt meine Irritation und lenkt sofort ein: „Mein lieber Böll, lassen Sie sich nicht von einem erfahrenen Mann aus der Ruhe bringen. Sie sind jung, Sie sind noch nicht lange verheiratet, Sie dürfen es sich hoch anrechnen, dass Sie jetzt schon so weit gekommen sind. Und ich habe davon gehört, dass Sie in diesem Jahr Karten für das Ov-Ov-Festival bekommen haben. Ihr Vorschlag der Hymne ist allgemein sehr gut aufgenommen worden. Wirklich eine hervorragende Idee, alle Achtung!“

Schnell versuche ich, sicheren Boden unter den Füßen zu bekommen. „Ich wollte mich für das große Privileg bedanken, es ist so wenig, was ich tun kann.“

„Lassen Sie mal gut sein. Sie sind ein gewitzter Bursche. Das gefällt mir. Es gefällt auch an anderer Stelle, wenn Sie verstehen, und, Böll, kommen wir zur Sache: Sie haben potente Förderer und, mit einem Wort, es wird allgemein überlegt, Sie zum stellvertretenden Chefredakteur zu ernennen. Wir haben Sie natürlich einer eingehenden Prüfung unterzogen, Ihre Arbeit, Ihren Lebenswandel, Ihre Ehe – ja natürlich, das Privatleben gehört dazu. Vor allem das Privatleben!“

 

Er betont es so, als wolle er mir verdeutlichen, dass nichts, aber auch gar nichts so wichtig ist wie das traute Heim und eine zufriedene Zweisamkeit. Dabei scheint die Ungeheuerlichkeit, die er gerade losgelassen hat, bloß zweitrangig. Was glaubt er, wen er vor sich hat?! Ich denke an Arena und an ihren Ehrgeiz, und obwohl ich nicht verstehe, was hier abgeht, weiß ich, dass sie dahintersteckt. Sie hat es geschafft, nicht ich, das ist mir klar. Sie hat alles geschafft, was sie wollte. Es ist geradezu unheimlich.

 

„Natürlich geht das nicht so von heute auf morgen“, fährt Becker jovial fort. „Wir müssen schon noch einige Vorbereitungen treffen. Es ist ein ungewöhnlicher Schritt, Sie in dieser Weise zu befördern, das wissen Sie sicher. Sie können sich wohl ebenfalls vorstellen, dass nicht alle Mitarbeiter sofort von der Klugheit dieser Entscheidung überzeugt sein werden. Man kennt Sie zwar allgemein als einen zuverlässigen Mann, und in ihrer Abteilung genießen sie durchaus seit längerem ein gewisses Renommee. Aber hier geht es natürlich um ganz andere Dinge und um sehr viel mehr – das ist Ihnen doch klar...“ Er hat sich unterbrochen, um zu sehen, wie ich reagiere, ob das alles nicht tatsächlich ein bisschen viel ist für den Anfang.

 

Ich habe die Arme auf meine etwas gespreizten Schenkel gestützt. Ich habe die Hände ineinander verschränkt. Sie befinden sich zwischen meinen Knien. Ich sitze leicht vorgebeugt auf dem Sofa, auf dem er mir den Platz angeboten hat. Diese Haltung mit den Händen nach vorn, gibt mir eine gewisse Stabilität, ermöglicht mir durch die vorgebeugte Haltung, ihm sowohl in die Augen zu blicken, als auch in nachdenklich-bescheidener Weise nach unten zu gucken. Die ganze Zeit, während er spricht, sehe ich vornehmlich nach unten, verstehend, dass es Schwierigkeiten gibt, bereit, eine Übergangsperiode in großer Selbstverständlichkeit abzuwarten. Auf seine Frage hin öffne ich ihm meinen Blick. Ich tue es, meiner Haltung entsprechend, indem ich schräg von unten zu ihm hochsehe, was mir hoffentlich jenen überlegen-legeren Ausdruck verleiht, den alle unsere jungen Karrieristen immerzu an den Tag legen.

„Vollkommen“, antworte ich mit gewinnendem Lächeln.

„Wir haben daran gedacht, Ihnen die Möglichkeit zu geben, sich nach und nach in Ihre große Aufgabe einzuarbeiten. Zunächst sollen Sie Dr. Spenglers tägliche Kolumne auf S. 3 bekommen: ‚Gedanken zum Tage‘. Die kennen Sie doch?“ Tatsächlich hatte er dem Satz eine zwar sehr leichte aber dennoch deutlich fragende Intonation gegeben. Ich klappe mit dem Mund und öffne kurz die Hände wie um zu sagen, dass jeder, und ich selbstverständlich auch – Aber daran ist er natürlich nicht interessiert.

„Dr. Spengler musste sich einer Magenoperation unterziehen und wird für einige Zeit ohnehin nicht schreiben können. Wir dachten, dass sich das gut trifft und wir es wagen sollten, Ihnen diese Chance zu geben.“ 

 

Er schweigt zufrieden mit sich und sieht mich erwartungsvoll an. Mir ist sofort klar, dass Spengler out ist. Er wird nie wieder schreiben. Er hat in den letzten sieben oder acht Jahren, seit ich für die Zeitung arbeite, nicht einen Tag nicht geschrieben, gleichgültig ob er krank war oder in Urlaub. Gut, über Krankheiten wissen wir nicht wirklich etwas, sie kommen eigentlich nicht vor. Aber Urlaub. Spengler war natürlich sehr privilegiert und durfte ab und zu auf den Inseln Urlaub machen, worüber auch berichtet wurde. Aber dann hatte er immer so viele ‚Gedanken zum Tage‘ auf Vorrat geschrieben oder sandte sie sogar aus dem Urlaub, dass wir nicht an einem einzigen darauf zu verzichten brauchten.

 

Ich halte es jetzt für besser, meine Beine zu schließen und meine Hände zurück zu nehmen, während ich ihm meine volle Dankbarkeit darbiete, indem ich sage: „Das ist eine wirklich überaus großzügige Geste und eine wundervolle Chance für mich, ich bin überrascht und hocherfreut, dass Ihre Wahl auf mich gefallen ist, ich werde...“

„Gut, gut, gut!“ unterbricht er mich. Wahrscheinlich kennt er das hilflose Gestammel der untergeordneten, plötzlich und unerwartet erhöhten Chargen, wie ich eine bin, zur Genüge und ist die aus Angst und Unverständnis geborenen falschen Beteuerungen satt.

 

Ich kann ihm das nicht verdenken und bin froh, keinen unhaltbaren Unsinn versprechen zu müssen.

„Am besten, Sie fangen heute noch an. Sie haben zwei Stunden Zeit. Fünfundzwanzig bis maximal fünfunddreißig Zeilen, einspaltig, Sie wissen schon, kommen Sie kurz vor 17 Uhr zu Frau Bauer ins Vorzimmer und lassen Sie mich zunächst einmal sehen, was Sie – ach, das Thema. Schreiben Sie ‚Über den Frieden‘. Sie wissen, dass unsere Regierung wieder einmal einen Vorstoß gewagt hat und dass sie nicht nur Universitätsprofessoren aus aller Welt zu einer Friedenskonferenz geladen hat, sondern dass auch einige Abgeordnete unserer Nachbarländer ...“ Er vervollständigt den Satz nicht. Sicher hält er es für überflüssig. Solche Friedenskonferenzen finden alle paar Monate statt und werden als sehr große Erfolge der Regierung gefeiert, obwohl niemand je einen Nutzen daraus gezogen hat.

„Selbstverständlich“, sage ich, „das sollte nicht allzu schwierig sein.“

„Das habe ich nicht anders erwartet“, sagt Becker lächelnd, erhebt sich und gibt mir zum Abschied wieder die Hand. Diesmal bin ich eher darauf gefasst.

„Also, Böll, noch einmal: kein Wort zunächst zu irgendjemandem. Wir bereiten Ihren Aufstieg langsam vor. Es wird sich natürlich nicht vermeiden lassen, dass Sie allein durch die Tatsache ihrer Übernahme der ‚Gedanken zum Tage‘ auffallen und sicher auch angesprochen werden. Sie werden dann von Dr. Spenglers Magenoperation und zeitweiligem Ausfall sprechen. Wir bringen diese Notiz im Übrigen auch unter ‚Persönliches‘, so dass das als Erklärung völlig genügen dürfte.“ Ich frage mich, ob er das selber glaubt, dass die Leute diesen ungeheuerlichen Umschwung mit einer so läppischen Erklärung wie einer angeblichen, vorübergehenden Krankheit des einen Beteiligten einfach akzeptieren würden. Ob er sich nicht klar macht, welche Gerüchteküche damit in Gang gesetzt wird? Oder ist ihm das egal? Oder wollen sie damit nur erst herausfinden, wie die Allgemeinheit auf meine Beförderung reagieren wird? Ich habe mich ebenfalls erhoben, nicke ihm zu und wende mich zur Tür.

„Ach, Böll“, sagt er, als ich den Türgriff schon in der Hand halte, „mit ihrer Frau können Sie natürlich darüber sprechen. Sie können es ihr morgen zu der besonderen Gelegenheit sozusagen schenken. Was halten Sie davon? Das ist doch ein Knüller, was?“ Wieder lacht er zu laut und zu aufdringlich. Augenblicklich friere ich ein, um nicht zu schreien vor Angst und Widerwillen, um nicht rot zu werden oder zu husten, sondern in aller Ruhe die Tür in der Hand zu behalten. Dann gelingt es mir tatsächlich, herauszubringen: „Kann man wohl sagen.“ Dann nehme ich Haltung an und versichere ihm: „Um 17 Uhr haben Sie den Text ‚Über den Frieden‘ vorliegen, Herr Dr. Becker!“ Raus bin ich.

 

Nichts anmerken lassen, ruhig bleiben, die Tussi freundlich grüßen, im Fahrstuhl nach unten blicken, raus auf meinen Flur, in mein Büro, den Kollegen zurufen: „Ich brauche zwei Stunden absolute Ruhe. Aber ABSOLUT!“ Die Tür zu, das Fenster auf. Ich setze mich an den Schreibtisch, lade mir im Computer den letzten ‚Gedanken zum Tage‘ von vor etwa vier Tagen – so lange ist Spengler bereits weg vom Fenster, und niemand hat etwas gemerkt. Doch. Schröder.

 

Der Text geht mir unheimlich schnell von der Hand. Ich lobe das friedliche Konfliktmanagement der Regierung, das greift, wirklich greift, weil es auf Dialog setzt. Ich sage, dass hier ‚neue Wege der Menschlichkeit‘ beschritten werden im ‚Interesse der Welt‘. Ich schließe mit einem Satz, den sich nur ein Schönschreiber erlauben darf – aber ich bin ein Schönschreiber, und es wird ihnen nicht leidtun, dass ihre Wahl auf mich gefallen ist: ‚Wir müssen und wir können hier und heute für eine bessere Welt träumen‘. Grandios. Das wird er fressen. So gut wie Spengler bin ich allemal.

 

Ich bin um 16.45 Uhr fertig, eine Viertelstunde vor der ausgemachten Zeit. Trotzdem entschließe ich mich, bereits jetzt nach unten zu fahren. Erst im Fahrstuhl fällt mir ein, dass ich keine Möglichkeit habe, im dritten Stock anzuhalten. Es gibt keinen Knopf auf den man drücken kann, nur ein Schloss, für das ich natürlich keinen Schlüssel habe. Ich berühre einfach die Zahl drei, und wie von Geisterhand setzt sich der Fahrstuhl in Bewegung.

 

Ich gebe der Aluminiumtussi meinen Text. Nein, sie törnt mich nicht an, wie man so sagt. Aber dann – was um alles in der Welt törnt mich überhaupt an?!

 

Dr. Becker sehe ich natürlich auch nicht mehr.

 

Ich gehe erstmal in die Waschräume.

 

Es ist ein Gefühl, als habe mir jemand Cayennepfeffer ins Blut gemischt. Ich brenne. Ich brenne von innen und von außen. Ich spüle mein Gesicht mit kaltem Wasser ab, ich lasse kaltes Wasser über meine Handgelenke laufen. Es ist mir egal, ob sie mich beobachten. Sie werden denken, dass es der freudige Schock ist, der mich so aufregt. Ist es gut, sich so aufregen zu lassen? Sicher nicht besonders professionell. Andererseits ist dies eine unglaubliche Ausnahmesituation. Ausgeschlossen, dass man das unbewegt schlucken kann, niemand kann das, ein einfacher Schreiber wie ich, dem man plötzlich die Fürstenkrone hinhält, schon gar nicht. Das werden sie für normal halten. Sie werden viel eher beobachten, wie ich mich öffentlich verhalte.

 

Ich zwinge mich zur Ruhe. Da ist keine Gefahr. Ich habe keine Freunde, keine Vertrauten, niemanden, mit dem ich darüber hätte sprechen wollen. Nicht einmal Schröder kommt in Frage – im Grunde der am allerwenigsten! Ich frage mich, ob er es irgendwie erfahren wird und mich dann wissen lässt, dass er es weiß. Das Bild meiner Großmutter steigt in mir hoch und ein Bedauern, dass ich nicht mehr zwölf bin und mit ihr meine Gedanken teilen kann.

 

Noch einmal tauche ich mein Gesicht unter kaltes Wasser. Tränen sind in mir hochgestiegen, ich lasse sie mit dem Wasser in den Abfluss laufen. Tränen sind nicht gut. Tränen sind ein Zeichen dafür, dass man mit sich nicht in Einklang steht. Ich nehme mir einige Papiertaschentücher und halte sie vors Gesicht. Wenn ich jetzt loslasse und die Taschentücher in den Mülleimer werfe, muss es gut sein. Dann werde ich mich wieder gefangen haben. Der Ausdruck meines Gesichtes wird dann von tiefer innerer Zufriedenheit geprägt sein. Von Genugtuung, von einem Wissen um höhere Zusammenhänge, das ich mit niemandem teilen muss.

 

Aber ich bin kein Schauspieler. Ich beschließe, einfach mein ganz normales Gesicht zu machen, mein ganz normales Pokerface. Ich lasse mir nichts anmerken, einfach rein gar nichts. Ich finde, ich habe es verdient, heute früher nach Hause zu gehen. Es gibt sowieso nichts mehr zu tun. Niemand kann erwarten, dass ich mich heute noch meiner normalen Arbeit widme. Wie lange wird das noch meine normale Arbeit sein?

 

Als ich am Lesesaal vorbeikomme, widerstehe ich der Versuchung, hineinzugehen, um vielleicht Schröder zu treffen. Stattdessen fällt mein Blick auf den Eingang zur Bibliothek direkt daneben. Einem spontanen Impuls folgend gehe ich hinein. Die Bibliothek steht grundsätzlich jedem offen, aber man muss natürlich an einer bestimmten Aufgabe arbeiten, um Bücher einsehen zu können.

 

Der Mann am Empfang trägt eine sehr dicke Brille. Aus irgendwelchen Gründen zieht er die Brille den Kontaktlinsen vor. Manchmal verträgt einer keine Kontaktlinsen. Ich weiß nicht, warum es immer noch Menschen mit solchen Gebrechen geben muss. Ärgerlich und gereizt denke ich, dass man darauf bei der Fortpflanzung doch nun wirklich achten kann.

 

Ich stehe vor ihm, irritiert, weil das, was ich da gerade denke, mich in unangenehmer Weise daran erinnert, was mir morgen bevorsteht. Irritiert auch, weil ich gar nicht weiß, was ich ihm sagen soll. Der Mensch blickt mich aus seinen hervorquellenden Augen an, die von dem Glas der Brille noch vergrößert werden und sagt: „Ach, Böll. Du kommst sicher wegen deiner Hymne.“ Das hat sich ja wirklich bis in den letzten Winkel herumgesprochen. Auch bin ich zum wiederholten Mal erstaunt, dass viele Leute meinen Namen zu kennen scheinen, während ich mich an kaum einen von ihnen erinnere. Immer fand ich instinktiv, dass eine allzu große Vertraulichkeit mit zu vielen Leuten nicht von Vorteil sein kann. Jetzt bin ich dankbar dafür. Sein Namensschild steht vor ihm auf dem Tisch.

„Ich brauche umfangreiches älteres Material, Schuster“, sage ich also, „vor allem Jahresübersichten und so. Kannst du mir helfen?“

„Klar“, antwortet er beflissen. „Komm morgen Nachmittag, dann habe ich dir etwas zurechtgelegt.“ Er zögert eine Sekunde und sagt dann tatsächlich: „Oder übermorgen, wann du willst eben.“

Es verschlägt mir die Sprache. Weiß denn alle Welt, was morgen für mich für ein Tag ist?!

 

Ich gehe geradewegs zum Fluss, um mich abzureagieren, um allein zu sein, um zu verstehen, in was ich da reingeraten bin. Aber der Fluss stinkt heute, und ich beschließe, obwohl es nicht weise ist, in eine Kneipe zu gehen und mir ein paar Bier reinzukippen.

 

8

 

Ich wusste wohl, dass es dieses alte Hotel noch gab. Aber wer würde da freiwillig wohnen wollen? Der Wasserturm ist ein verhältnismäßig kleines Gebäude, gemessen an den modernen Komplexen, die in diesem Teil der Innenstadt zu finden sind. Allerdings liegt es an einem strategisch sehr günstigen Punkt, sozusagen an der Kreuzung zwischen der alten Nord-Süd-Fahrt, die noch immer fünfspurig in beide Richtungen führt, jetzt aber endlich weiter ausgebaut werden soll, und den Bächen. Ein kleiner Park mit recht hohen Bäumen schirmt das Hotel gegen den Verkehr weitgehend ab.

 

Das Taxi fuhr eine enge Einfahrt hoch. Die Türen wurden von livrierten Figuren aufgerissen – ich hatte fast den Eindruck noch bevor wir richtig standen. Eine Beklemmung bemächtigte sich meiner, eine große Furcht vor allem, was jetzt kommen würde. Nichts in meinem bisherigen Leben hatte mich auf diese Situation vorbereitet. Ich bin sicher, dass mir nicht einmal meine Großmutter hierbei hätte helfen können. Arena schien ganz in ihrem Element. So als habe sie das alles schon etliche Male durchgespielt, stieg sie lässig aus dem Auto und beachtete die Livrierten nicht im geringsten, während ich unschlüssig war, wie ich mich verhalten sollte, ob ich zum Beispiel den kleinen Koffer nehmen sollte, den sie unverständlicherweise gepackt hatte, und den der Taxifahrer aus dem Kofferraum geholt und vor das Hotel gestellt hatte. Noch ehe ich reagieren konnte, griff einer der Livrierten zu, der Taxifahrer verschwand in seinem Auto, ohne mich eines weiteren Blickes gewürdigt zu haben, und wäre ich nicht doch endlich zur Seite getreten, um mich dem Eingang des Hotels zu nähern, hätte er mich möglicherweise einfach über den Haufen gefahren, als er jetzt seinen Wagen in Bewegung setzte.

 

Arena hatte mir eingeschärft, keine Fragen zu stellen, alles geschehen zu lassen, den Taxifahrer nicht etwa zu bezahlen, es sei alles bestens organisiert und geregelt. Wir brauchten uns um gar nichts zu kümmern, das hieß, sozusagen um nichts – nur um uns selber und um die Sache, derentwegen wir hierhergekommen waren. Wir könnten völlig entspannt sein, relaxed, wir hätten den ganzen Tag und die Nacht.

 

Ich kann nicht sagen, dass mich das beruhigte.

 

Ich war erstaunt, wie relativ luxuriös die Innenausstattung des alten Kastens war. Sicher war er erst vor kurzem renoviert und die Ausstattung auf den neuesten Stand gebracht worden. Mir fiel auf, dass die Livrierten vom Eingang ebenso wie die hinter dem Empfang alle von einer Sorte waren. Ich meine nicht von einer Sorte wie bei Wallraf, Klone, das nicht. Nein, aber sie waren bei ihrer Zeugung offensichtlich sehr sorgfältig zusammengestellt worden. Sie hatten etwas einheitlich – Hübsches. Sie schienen auch noch verhältnismäßig jung zu sein, vielleicht zwanzig? Das nahm zu bei den Jüngeren, dass man offensichtlich sehr viel gezielter als früher auf das Aussehen der Nachkommen Einfluss nahm. Mir ging durch den Kopf, dass es vielleicht psychologisch nicht geschickt war, diese Sorte gerade hier arbeiten zu lassen, wenn das Hotel solchen Zwecken diente wie dem unsrigen. Denn wenn es klappte, wozu wir hier waren, setzten wir unsere Nachkommen ja gerade dem Zufall aus, der bestimmt nicht dafür sorgen würde, dass solche Hübschlinge daraus würden.

 

Zum Beispiel hätte ich meinem Sohn gerade nicht meine Neigung zum frühzeitigen Haarausfall vererben mögen. Und das kann man doch inzwischen verhindern. Außerdem finde ich, wenn es ein Mädchen wird, sollte es lieber meine Neigung zu lockigem Haar bekommen, nicht Arenas sehr glatte Struktur. Ja, ich weiß, es ist sehr attraktiv, Arenas schweres, glattes, blondes Haar. Es fällt so – bestimmt. Aber ich finde einen weicheren lockigeren Fall von Frauenhaar auch sehr schön. Ich denke an die kleinen, sperrigen Löckchen des weißen Haares meiner Großmutter auf ihrem Totenbett.

 

Ausgerechnet. Meine sterbende Großmutter. In einem solchen Augenblick. Mir war nicht zu helfen. Ich sah, wie Arena mit einem geradezu weichen, mir unbekannten Lächeln einen Schlüssel in Empfang nahm und sich zu mir herumdrehte. Sie schien die Situation vollständig zu beherrschen. Ich war bisher einfach nur hinter ihr her gegangen und hatte stumm danebengestanden. Sicher war allen hier Anwesenden meine Hilflosigkeit klar.

 

Ich dachte, dass es wahrscheinlich unmöglich war, bei der Auswahl von Details für einen Nachkommen mit Arena eine Einigung zu erzielen. Vielleicht war das der tiefere Grund unseres Hierseins, dass sie die Auseinandersetzung mit mir um eine eventuelle Geschlechterbestimmung oder die Feinabstimmung für gewisse Charaktermerkmale und äußeren Erscheinungsformen unseres Kindes fürchtete. Ich gab den Gedanken sogleich wieder auf. Nein, das war nicht der Hintergrund. Erstens fürchtete Arena grundsätzlich keine Auseinandersetzungen und zweitens wäre sie sicher gewesen, sich in allen Hauptpunkten gegen mich durchsetzen zu können. Und im Übrigen war sie wahrscheinlich für das uns vorgeschriebene Verfahren genauso wenig verantwortlich wie ich.

 

Wir fuhren nach oben. Unser Zimmer hatte eines jener runden Bullaugenfenster, die man von außen sehen kann.

„Wie romantisch, findest du nicht, Böll?!“ rief meine Frau aus und blickte durch das Auge auf die belebte Nord-Süd-Fahrt, auf der sich der Durchgangsverkehr langsam in beiden Richtungen schob.

„Man kann den Dom sehen, Böll, komm doch mal her! Oh, das ist ein gutes Zeichen! Sie haben uns eins der besten Zimmer überhaupt gegeben! Da kannst du mal sehen. Oh Böll!“ Damit schlang sie beide Arme um mich, der ich ebenfalls ans Fenster und neben sie getreten war.

 

Sie war vorsichtig genug, dabei weiter aus dem Fenster zu schauen und so zu tun, als sei dies ein spontaner Übergriff, dessen Bedeutung sie in diesem Augenblick gar nicht wirklich ermessen habe. Dennoch hatte die Geste etwas Erschreckendes, Besitzergreifendes, und ich zuckte instinktiv zusammen, ehe ich es verhindern konnte. Sie ließ mich sofort los.

 

Das Zimmer war recht groß. Vor dem Fenster standen ein Tisch und zwei kleine Sessel, die weniger bequem zu sein schienen, als dazu geeignet, sich darin an den Tisch zu setzen. Auf dem Tisch sah ich einen Flaschenkühler mit einer Flasche Champagner und zwei Gläser.

„Oh!“ machte Arena, „genau, was wir jetzt brauchen! Böll, mach doch schon mal die Flasche auf! Ich glaube, wir sollten außerdem erstmal eine Kleinigkeit essen.“ Damit warf sie sich auf das Bett, an dem ich jetzt nicht mehr vorbeisehen konnte und griff zum Telefonhörer. Es war ein Doppelbett, natürlich. Ein großes, üppiges, sicher einladendes Bett mit einem purpurn schimmernden Überwurf, der jetzt, als Arena sich darauf rekelte, während sie mit dem Empfang sprach, um ihre Bestellung aufzugeben, etwas zur Seite rutschte und den Blick auf schneeweiße Kissen freigab.

 

Wir tranken ein Glas Champagner, während wir auf den Zimmerservice warteten, und Arena sagte: „Du musst dich unbedingt entspannen, Böll. Es ist ganz wichtig, dass du nicht verkrampfst.“ Ein Blick auf die jämmerliche, angsterfüllte Figur, die ich machte, veranlasste sie, milde zu lächeln und zu bemerken: „Wir lassen uns einfach Zeit, weißt du, solche Dinge wollen in Ruhe genossen werden. Du wirst sehen, es wird einfach wunderbar!“ Ich war dankbar für den Aufschub und entkrampfte etwas. Gleichzeitig fragte ich mich, woher sie so genau wissen konnte, wovon sie sprach.

 

Während des leichten Essens versuchte Arena, meine Gedanken auf die Zukunft zu lenken, auf ein gemeinsames Kind, das profitieren würde von Eltern, die es weit gebracht hatten, eine sorgenfreie Zukunft für uns alle.

„Du wirst sehen, Böll“, sagte sie schließlich, „wenn deine Hymne beim Ov-Ov-Festival gut ankommt – und daran kann ja wohl keine Zweifel sein, wirst du in eine andere Abteilung versetzt, ich bin ganz und gar sicher, dass das der Karriereschub für dich sein wird! He, willst du mir nicht sagen, was du vorhast, vorzutragen?“ Sie war aufgestanden, setzte sich spielerisch auf das Bett und winkte mir mit ihrem leeren Champagnerglas. Ich stand auf, um ihr nachzuschenken.

„Danke“, hauchte sie und sah mir verheißungsvoll tief in die Augen.

„Komm her, setz dich zu mir.“ Es blieb mir nichts anderes übrig. Ich füllte mein Glas ebenfalls, setzte mich neben sie, aber mit einem gewissen Abstand, den ich mit dem Glas ausfüllte und, indem ich mit ihr anstieß, auch damit überbrückte.

„Etwas ist schon geschehen“, sagte ich.

„Wie meinst du das?“ fragte sie neugierig und erwartungsvoll. Eine etwas beschwipste, leicht aufgelöste Arena. Eine Frau, die ich nicht kannte.

„Ich war gestern bei Dr. Becker...“ – ganz kurz ein wieder scharfer, aufmerksamer Blick meiner alten Arena – „...ich soll Spenglers ‚Gedanken zum Tage‘ übernehmen. Hier – „ich holte die heutige Ausgabe unserer Tageszeitung aus dem Jackett hervor und warf es ihr hin. “Seite drei. Ich steh schon drin.“ Der Ausdruck auf ihrem Gesicht wechselte rakentenschnell von ungläubig fragend über freudig-triumphierend zu wollüstiger Selbstzufriedenheit. Sie grapschte nach der Zeitung, riss sie auseinander, fand die Spalte, sah meinen Namen darunter und stöhnte auf. Dabei warf sie sich endgültig auf das Bett und knubbelte die Zeitung wie ihr Lieblingsstofftier vor der Brust.

 

Dann sagte sie, mehr zu sich selber und mit geschlossenen Augen: „Und du wirst sehen, es klappt auch noch mit dem Stellvertreterposten.“

„Wenn du den Posten des stellvertretenden Chefredakteurs meinst...“, sagte ich leise und zögernd.

„Ach, Böll!“ quiekte sie, mich unterbrechend, „spiel' jetzt nicht den Idioten! Was denn sonst! Oh, du wirst sehen, es klappt, es klappt! Ich habe es im Gefühl, es muss einfach klappen!“ Immer noch knubbelte sie mit der heutigen Ausgabe herum. Ich dachte, sie wird sie zerreißen, wenn sie es erfährt.

„Also“, begann ich wieder, immer noch ein bisschen unschlüssig, wie ich es sagen sollte und beunruhigt über ihre wahrscheinliche Reaktion, „was das anbetrifft – habe ich, glaube ich, gute Chancen.“

Augenblicklich hielt sie mit dem Geknubbel inne, richtete sich mit einem Ruck auf und schaute mir scharf in die Augen.

„Böll?“ fragte sie atemlos. Sie wusste ganz genau, dass ich so etwas niemals ohne einen sehr konkreten Hintergrund sagen würde.

„Es soll im Augenblick noch nicht darüber gesprochen werden, ich bin noch nicht so weit, ich werde langsam an die Aufgabe herangeführt, deswegen auch erstmal die ‚Gedanken zum Tage‘ – natürlich darfst du es wissen“, fügte ich hilflos hinzu.

 

Ihre Augen waren erst groß geworden, dann ganz schmal. Dann wandte sie sich einfach von mir weg, ließ sich rücklings auf das Bett fallen und murmelte, wie wahnsinnig, immer wieder: „Sie haben es getan, sie haben es getan, sie haben es getan!“ Dann ergriff sie meine Hand. Dabei flüsterte sie, indem sie mich intensiv anblickte, erschreckend intensiv: „Okay, dann sollten wir unseren Teil jetzt auch erfüllen. Am besten, du gehst zuerst ins Bad.“

 

Ich zog ab, verwirrt, unsicher, mit dem Gefühl, Teil einer Abmachung zu sein, von der ich gar nichts wusste. Ein phantastisches Bad. Eine große Wanne, eine Dusche, Whirlpool. Weiße Fliesen mit dunkelrotem Fußboden und schmalen, ebenfalls roten Leistenfliesen, die in Augenhöhe den Raum umliefen. Weinrotes Waschbecken, weinrote Kloschüssel und Brille. Riesige Spiegel überall. Ich blickte mir entgegen. Gehetzte Hasenaugen.

 

Ich bin eigentlich ein gut aussehender Mann. Ich fühle mich im Allgemeinen wohl in meiner Haut. Dass die Haare dünner werden, ist mein einziger Kummer. Aber ich habe noch kaum Falten, und mein Körper ist ziemlich okay. Muskulös. Ich bin außerdem gut gebaut. Nichts von alledem gab mir in diesem Augenblick Sicherheit.

 

Ich sah nur wild gehetzte Hasenaugen. Und ich wusste in diesem Augenblick, dass ich versagen würde.

 

Nicht, als hätten wir uns nicht bereits nackt gesehen. Wir gehen zusammen in die Sauna, allein oder mit Kollegen. Wir haben uns unzählige Male im Flur getroffen, wenn wir ins Bad gingen. Nacktheit ist etwas Natürliches. Das hier ist eine völlig neue Situation, in der alle Unbefangenheit auf einen Schlag weggewischt und durch etwas anderes, Lauerndes ersetzt worden ist.

 

Ich fragte mich, was von mir erwartet würde. Ich ging unter die Dusche, um Zeit zu gewinnen. Ich fragte mich, ob ich meine Sachen wieder anziehen sollte, entschied mich aber dann, es nicht zu tun. Stattdessen nahm ich den weinroten Bademantel, der da hing und ging zurück ins Schlafzimmer. Arena hatte die Fenster verdunkelt. Das Bett schimmerte in einem indirekten Licht, wobei mir nicht klar war, woher die Lichtquelle kam. Ich dachte sofort daran, dass Kameras installiert sein konnten. Mir sträubten sich die Nackenhaare. Arena ergriff den kleinen Koffer als ich eintrat und sagte, während sie an mir vorbei ins Badezimmer huschte: „Ich bin gleich so weit!“

Dann war ich allen. Ich legte mich aufs Bett und schloss für einen Moment die Augen.

 

Ich dachte, wenn es mir gelingen würde, noch einmal das Bild dieser Maria in mir wach zu rufen, wie Wallraf sie mir beschrieben hatte, die himmlische, beruhigende Süße einer sanften Frau, so wie sie mir ja tatsächlich im Nachhinein bereits einmal erschienen war, dann könnte heute vielleicht alles noch gut werden. Es gelang mir nicht. Im Gegenteil, trotz meiner geschlossenen Augen war ich mir meiner Umgebung in allen Einzelheiten bewusst. Das purpurne Licht, in das alles getaucht war, hatte etwas Bedrohliches. Die geschlossenen Vorhänge vor dem Bullauge waren ebenfalls aus rotem Samt. Ich hatte sie vorher, als sie weit zu den Seiten zurückgezogen waren, gar nicht bemerkt, aber jetzt schlossen sie das Rund des Fensters gänzlich ab, tauchten den gesamten Raum in diese Farbe, die sicher eine erotische Wirkung ausüben sollte, in mir jedoch die Assoziation von Blut hervorrief, von sprudelndem Rot. Auch in den Badehäusern war alles vielfach rot. Aber es war eine ganz andere Farbe, irgendwie feuriger, heller, alles war heller dort und lustiger. Nicht, dass ich es tatsächlich als lustig empfunden hätte, aber es herrschte da immer irgendwie eine Atmosphäre zum Durchatmen. Vor allem unterlag man keinem Erfolgszwang.

 

Die Frauen in den Badehäusern gingen mit einem auf eine Weise um, dass es schließlich doch einen gewissen Spaß machte. Man verlor das Gefühl für die grundsätzliche Peinlichkeit der Situation, und wenn man wieder auf der Straße stand, fühlte man sich in gewissem Sinn erfrischt.

 

Hier jedoch, in diesem merkwürdigen – Stundenhotel? – herrschte eine drückende Schwüle, die mich vollständig niedermachte. Obwohl ich geduscht hatte, fühlte ich mich schon wieder verschwitzt. Am liebsten hätte ich die Vorhänge wieder aufgezogen und das Fenster aufgerissen, hätte meinen Kopf aus dem Fenster halten, hätte mich am liebsten ganz nackt ans Fenster stellen wollen, um die freie Luft an meinen Körper zu lassen, um mir Erleichterung zu verschaffen, um mich zu befreien, um zuerst meinen Körper aus der Verspannung zu lösen und endlich auch meinen Kopf. Ich traute mich nicht. Ich traute mich nicht einmal, mich zu rühren.

 

Ich hörte, dass Arena zurückkam, ich hörte, dass sie die Gläser mit Champagner nachfüllte, ich spürte, wie sie ans Bett trat, offensichtlich dicht vor mich hin.

„Dreh dich um“, sagte sie, „sieh mich an.“ Gehorsam drehte ich mich um, zögerte eine kurze Sekunde, bevor ich endgültig die Augen aufmachte. Unter einem Hauch von Tüll sah ich ihren entblößten Schoß unmittelbar vor mir. Sofort schloss ich die Augen wieder. Aber der Anblick der Frau, die da vor mir stand, meiner Frau, Arena, der Frau, mit der ich hier, in diesem Raum, in diesem Augenblick, ein Kind zeugen sollte, hatte sich im Bruchteil der Sekunde, in dem ich die Augen auf ihr Geheiß geöffnet hatte – wohl mit gemischten Gefühlen, aber völlig unvorbereitet, auf diesen tatsächlichen Anblick –, in mein Bewusstsein gemeißelt. Ich würde dieses Bild nie wieder los.

 

Sie trug phantastischer Weise eine knallrote Korsage, deren Farbton in unangenehmem Kontrast zu dem Blutrot des Zimmers stand. Der obere Abschluss verlief ganz gerade, zwei dünne Bänder, die über die äußeren Rundungen der Schultern liefen, gaben den Halt, während Arenas beide Brüste, wie zwei Halbkugeln nach oben gepresst, jeden Augenblick über den Rand der Korsage zu rollen schienen, es aber nicht taten und ein unglaubliches Gefühl von zitternder Balance in mir wach riefen. Die Taille war vorn tiefgezogen. Daran und zu den Seiten stand eine Tüllwolke wie ein sehr kurzer Rock ab. Von irgendwo unter diesem Tüll führten schwarze Strapse zu den ebenfalls schwarzen Strümpfen, lenkten den Blick auf die helle Haut dazwischen. Der Tüll verdeckte nicht die Blöße ihres Unterkörpers mit dem dunkelblonden, leicht rötlichen Dreieck ihrer Schamhaare.

 

In beiden Händen hielt Arena je ein Glas Champagner, die Arme hatte sie dabei angewinkelt und leicht nach außen geneigt, als hielt sie Kerzenleuchter. Und dann ihr Gesicht. Der Kopf war zu mir nach unten geneigt, die Haare fielen glatt nach vorn, aber sie verdeckten das Gesicht nicht, nicht den kirschrot geschminkten Mund, bewusst zu einem Dreieck geformt, als Gegengewicht zu dem Dreieck ihrer Scham. Und die Augen, dunkel umrandet und leuchtend blau. Das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit gezeichnet durch diese ungewohnte Bemalung. Es war das Gesicht einer Frau aus den Badehäusern.

„Hier nimm“, sagte sie sanft, die Frau, die ich jetzt nicht mehr Arena nennen möchte und reichte mir das Glas Champagner. Ich nahm es mit beiden Händen und blickte aus der Tiefe meiner verwundeten Seele die Erscheinung an, die sich jetzt zu mir beugte. Sie öffnete meinen Bademantel und berührte meinen Körper. Eine Pein wie von tausend Nadeln durchschauerte mich, wie wund war meine Haut bei ihrer Berührung. Und gleichzeitig spürte ich, wie der Gedanke an die Badehäuser seine Wirkung tat. Dass ich langsam und wider Willen eine Entspannung empfand, die als Wärme meinen Körper zu durchfließen begann. Und während ihre Hände an mir arbeiteten mit der gekonnten Zielsicherheit, wie sie die Frauen in den Badehäusern beherrschten, ließ der Schmerz ihrer Berührung nach und wandelte sich in Wohlgefallen. Schließlich setzte sie sich auf mich, und ich berührte ihre hochgewölbten Brüste, die sich vor meinen Augen aufrichteten. Es war die einzige aktive Handlung, die ich an ihr vornahm. Alles andere geschah mit mir. Alles andere ließ ich geschehen. 

9

 

Die Seehunde wurden gefüttert. Sie brüllten mit merkwürdigen blechernen Lauten als drücke man unversehens auf eine jener uralten Autohupen mit Gummibalg, wie man sie manchmal noch bei Volksbelustigungen vorführt und damit die Menge ein bisschen aufputscht. Geschickt fingen die Tiere die hingeworfenen Fische auf. Selbst an Land waren sie wendig, im Wasser aber nahmen ihre plumpen Körper eine unglaubliche, zielgerichtete Schnelligkeit an, die mir Bewunderung abnötigte. Wallraf stand an der anderen Seite, guckte flüchtig zu mir hin und ging dann fort in Richtung Affenhaus. Dort waren womöglich noch mehr Menschen. Weiter zu den Raubtieren. An der offenen Seite, an der die Tiere durch die Gitterstäbe von den Besuchern angegafft wurden vorbei, hinten herum, ein dunkler buschiger Weg. Die Tierhäuser düster, verschlossen, ein strenger, bestialisch strenger Geruch. Wir gingen einfach nebeneinander her, wie Zoobesucher, gafften, hielten uns abseits, aber fühlten uns auch in der Menge geschützt, oder geschützt durch die Menge.

 

Ich sagte unvermittelt: „Ich habe mit Arena geschlafen.“ Es kam aus mir heraus. Ehe ich wusste, was ich tat, ehe ich es verhindern konnte, kamen die Worte aus meinem Mund: „Ich habe mit Arena geschlafen.“

Was für eine Situation! Wallraf sah mich ganz flüchtig von der Seite an, erstaunt sicher auch er.

„Deine Frau?“ bemerkte er, in die andere Richtung blickend, und mir wurde doppelt klar, wie absurd es wirklich war, solch eine Bemerkung zu machen.

 

Was mich am meisten erschreckte, war die Tatsache, dass meine – fast möchte ich sagen ‚angeborene‘ -, auf jeden Fall aber in langen Jahren systematisch antrainierte Vorsicht, ein Verhalten, das mir so sehr in Fleisch und Blut übergegangen war, dass ich mich auf mich selber geradezu blindlings verlassen konnte, dass diese Vorsicht Wallraf gegenüber ohne Vorwarnung nicht mehr funktioniert hatte. Die natürliche Scheu, die ich vor jedem Menschen hatte, das Warnsystem, das immer funktionierte und zwar je mehr man mit einem Menschen zu tun hatte, je näher man ihm kam umso besser, schien aufzuweichen, sich möglicherweise schleichend in sein Gegenteil zu verkehren. Unvorstellbar, dass ich Schröder gegenüber meine Kontrolle verloren hätte.

 

Es ist tatsächlich so: Das Gefühl des Vertrautseins mit Wallraf ist im Verlauf unserer Bekanntschaft gewachsen. Ich erinnere mich mit gemischten Gefühlen der ersten Unachtsamkeit im Stadion, als ich glaubte, Wallraf würde eine Gefahr, die uns drohte, erkennen. Besser erkennen, sicherer erkennen als ich selber. Ich hatte schon damals angefangen, mich auf ihn zu verlassen, ihm zu vertrauen. Und jetzt das. Dieser Satz, von dem ich selber nicht wusste, warum er aus mir herausgebrochen war. Automatisch versuchte ich, abzuschätzen, was daraus erwachsen konnte und dachte: Es macht nichts. Es ist nichts passiert. Schließlich ist es nicht verboten, mit seiner Frau zu schlafen. Im Gegenteil, in unserem Fall war es ja ausdrücklich erwünscht.

Gleich das Gegenargument: Warum sprichst du darüber? Warum zu ihm, was willst du ihm sagen, was erwartest du von ihm?

Aber es handelt sich um eine großartige Angelegenheit, eine Auszeichnung, argumentierte ich sofort wieder gegen die Furcht an. Ist es nicht völlig normal, dass ich darüber spreche, dass ich voller Entzücken über die große Freude, die Wohltat, das Außergewöhnliche, das mir widerfahren ist, geradezu sprechen muss, zu jedermann?! Dabei weiß ich genau, dass ich zu niemandem, zu keiner Menschenseele je ein Wort über das Geschehen werde verlauten lassen.

 

Ich nickte auf Wallrafs Frage und mir wurde bewusst, dass wir nie über mich gesprochen haben, vielleicht, weil er über mein Leben alles zu wissen schien, weil er mein Leben nicht als ein individuelles ansah und dass er also auch den Namen meiner Frau nicht kennen konnte.

„Ist das so ungewöhnlich?“ fragte er, und irgendwie waren unsere Rollen vertauscht: Er fragte mich etwas, ich musste antworten.

„Ganz und gar“, hörte ich mich sagen. „Ganz und gar. Es war das erste Mal.“ Er ging eine Weile schweigend, überlegte, was das bedeutete. Dann: „Wolltest du es?“ Es war wohltuend, dass er sofort die richtige Frage stellte. Allerdings vergrößerte sich dadurch die Gefahr, dass ich auch diesmal antworten würde, dass ich mich in dieser unglaublichen Weise vor ihm entblößte. Wieder musste ich an Schröder denken. Es war anzunehmen, dass Schröder mich ebenfalls verstanden hätte, wenn ich, was allerdings undenkbar gewesen wäre, auf solche Weise zu ihm gesprochen hätte. Niemals allerdings hätte Schröder reagiert wie Wallraf, niemals hätte er persönliche Fragen gestellt. Eher schon hätte er mein Verhalten, meine Situation analysierend kommentiert. Natürlich auf seine verschlüsselte Schröder-Weise. Wenn ich Wallraf jetzt antwortete, würde ich damit eine Grenze überschreiten und es würde kein Zurück mehr geben. Aber, so dachte ich gleichzeitig, gab es denn etwa jetzt noch ein Zurück? Hatte solche Grenzüberschreitung nicht längst unwiderruflich stattgefunden?

„Nein“, antwortete ich, „ich wollte das nicht.“ Und obwohl er das nicht gefragt hatte, fügte ich hinzu: „Es war schrecklich. Es war – entwürdigend."

Ein seltsames Wort, entwürdigend. Ein Großmutterwort. Wieder gingen wir schweigend weiter, bis er fragte: „Hat man dich dazu aufgefordert?“ Ich nickte stumm. Er schien zu spüren, was das bedeutete.

„Ich verstehe nicht, warum wir es tun mussten“, sagte ich.

„Wir haben nie aufgehört, es zu tun“, antwortete er mir zu meinem Erstaunen. Es war klar, dass er mit ‚wir‘ ‚wir Menschen‘ meinte und dass er mich und sich als eins sah. Ich war verwirrt. Ich versuchte, zu erklären, stammelte: „Ich weiß, die Badehäuser – aber das meine ich nicht, ich meine...“

„Badehäuser?“ fragte er, „also du warst in den Badehäusern?“ Es klang irgendwie ungläubig, auch neugierig. Nicht anklagend. Ich antwortete: „Nicht gerade oft ... aber das meine ich nicht, Wallraf, wieso verlangt man von uns, Nachkommen auf diese uralte, unkontrollierte, unkontrollierbare Weise zu zeugen, die man doch vor langer Zeit wegen ihrer erkennbaren Nachteile abgeschafft hat? Warum haben sie nicht unser Kind aus den vorhandenen Bestandteilen zusammengefügt, warum haben sie uns nicht den Wunschkatalog ausfüllen lassen, warum musste ich mich mit Arena auf diese niedere, verächtliche Weise zusammentun, warum hat man mich gezwungen, allen Respekt vor meiner Frau zu verlieren – und vor mir selber?!“

 

Ich weiß, dass dieser Aufschrei unangemessen ist, fast befürchte ich, dass er mich auslacht oder etwas Überhebliches sagt. Andererseits möchte ich wissen, was da vor sich geht, und irgendwie denke ich, dass er der einzige ist, der es wissen könnte und der es mir sagen würde.

 

Er lachte keineswegs. Stattdessen sagte er: „Ich habe mir gedacht, dass sie wieder dahin zurückkehren würden. Ich dachte nicht, dass es so schnell passieren würde. Andererseits ist es logisch.“ Er musste an meinem Blick erkennen, dass ich nicht verstand.

„Hast du nicht bemerkt, wie das zugenommen hat mit diesen aalglatten Formen, die sie hervorbringen? Ist dir nicht aufgefallen, dass das überhandnimmt und dass keine Entwicklung mehr da ist?“ Ich war vollends überrascht.

„Keine Entwicklung mehr?“

„Keine Entwicklung! Sie funktionieren. Sie sind adrett und hübsch anzuschauen, pflegeleicht,“ schnaubte er, „unkompliziert, machen keine Probleme, sind vielseitig einsatzbereit. Aber vollkommen uninspiriert. Man darf sie nicht allein lassen, schon gar nicht darf man ihnen Verantwortung übergeben. Das kann dir doch nicht entgangen sein.“ Dr. Beckers Sekretärin kam mir in den Sinn, die Aluminiumfrau. Es gab inzwischen viele davon, eine besonders gelungene Sorte der Nachzucht. Was war dagegen einzuwenden? Sie hatten keine genetischen Defekte, ihre äußere Gestaltung war ästhetisch ansprechend.

„Es ist eine Rasse von Idioten, von regelrechten Untermenschen“, bellte Wallraf mich an, weil ich nicht zu verstehen schien. „Und ihr merkt es nicht einmal. Das ist schon phantastisch: nach und nach haben sie euch jede Art von eigenem Willen genommen, jede Aufmüpfigkeit, jede intelligente, unbequeme Neugier – einfach weggenommen, die Gene manipuliert. Zack, da hast du den Einheitsmenschen! Von da bis zur Wegwerfgesellschaft ist nur ein kleiner Schritt. Dabei machen sie es ja schon lange. Wenn einer nicht ganz so gut gelingt: ex und hopp! Und ihr seid alle einverstanden! Aber was ihr nicht bedenkt, und was sie lange Zeit ebenfalls nicht bedacht haben, ist, dass diese individuelle Beliebigkeit nur für die unteren Chargen zu vertreten ist. Bei allen, die etwas zu sagen haben, sind nach wie vor andere Qualitäten gefragt. Ich nehme an, es beginnt bereits, sich zu polarisieren.“

Nachdenklich blieb er vor einem Gehege stehen. Ich nahm die Tiere kaum wahr, sah aber ebenfalls hin und fragte vorsichtig: „Polarisieren?“

„Die uralte Geschichte: die Mächtigen werden immer mächtiger, die Dummen immer dümmer. Es wird mehr denn je auf eine Zweiklassengesellschaft hinauslaufen. Die natürliche und die genmanipulierte. Zumindest dein Kind soll offensichtlich zu den ersteren gehören. Herzlichen Glückwunsch!“

 

Ich verstand vielleicht nicht ganz, was er alles sagte. Aber ich hörte deutlich seine Verachtung, seine Missbilligung, vielleicht auch seine Verzweiflung. Deswegen gab ich ihm zurück: „Und Klone – das sind die anderen.“

„Ja, Böll“, antwortete er langsam, und ich sah, wie müde ihn das alles machte trotz seiner Erregung oder vielleicht deswegen. „Klone, das sind die anderen.“

 

Ich sehe Giraffen vor mir. Sie sind riesig. Sie knabbern an einem Baum oben die Zweige ab. Ich denke, dass sie keinen Sinn machen. Eine völlig aberwitzige, also überflüssige Form von Lebewesen. Warum hat ein Tier einen so langen Hals? Es muss wirklich unbequem sein. Haben wir nicht gelernt, dass die Natur, wenn man sie nicht kontrolliert, ihre Kräfte verschwendet, die überflüssigsten, ja oft gefährlichsten Dinge hervorbringt, Lebewesen, Wetterkatastrophen und so weiter?! Giraffen sind ja im Grunde harmlos.

 

Ich sagte: „Du bist das beste Beispiel gegen deine eigene Argumentation. Du bist keineswegs“ – ich dachte an die Aluminiumfrau – „aalglatt, und du funktionierst auch nicht so, wie sie wollen. Im Gegenteil, du bist nicht ...,“ ich suchte nach dem richtigen Wort, „... kontrollierbar.“

„Ja“, gab er zu. „Es geht immer noch manches schief. Aber diese glatten Gestalten, die haben sie wirklich vollkommen im Griff. Außerdem musst du bedenken, dass ich schon einer vergangenen, überwundenen Form angehöre. Ich bin sicher einer der letzten, die davon noch frei herumlaufen, davon kannst du ausgehen.“

„Was ist mit den anderen?“

„Das Problem ist, dass ich heute, da ich aus ihrem Machtbereich entkommen bin, nicht mehr weiß, wie weit sie eigentlich sind. Was sie wollen, weiß ich allerdings genau.“

„Und was ist das?“ fragte ich atemlos.

„Das ewige Leben.“

 

Wir schlenderten neben einander her, als sei nicht gerade die Welt aus den Fugen geraten. Neben mir ging ein Wesen, das in den kurzen Wochen, seit ich es zum ersten Mal gesehen hatte, um Jahre gealtert schien. Ein künstliches Wesen, das sich als Mensch fühlte, ein Wesen, das mehr über Leben und Tod, über Zeugen und Sterben wusste als irgendeiner, und das zumindest bereit war, darüber zu sprechen.

„Sind Klone unsterblich?“ fragte ich und hielt es im selben Augenblick für möglich. Zögernd, nachdenklich antwortete er: „In gewisser Weise sind sie es. Der Verlust der Individualität wird wettgemacht durch eine ständige Erneuerung des Lebens, die letztlich seine Verlängerung ist.“

„Ich verstehe nicht.“

„Am einfachsten ist es zu erklären am Beispiel derer, die für militärische Zwecke geklont werden: immer derselbe wird durch immer denselben ersetzt, verstehst du? Er stirbt zwar, wenn du so willst, aber dann lebt er doch weiter. Natürlich nur solange, bis der letzte aufgebraucht ist.“

„Und du meinst, wenn man nur unendlich viele von einer Sorte ...“

„Das ist natürlich Unsinn“, unterbrach er mich. „völlig unrealistisch. Zu der Zeit, als man mein anderes Ich und mich – als man für alle wichtigen Personen einfach einen Ersatz schaffen wollte, hat man sehr schnell das Dilemma erkannt. Es war ein unvorstellbarer Aufwand nötig, um wenigstens zwei gleiche Menschen so weit zu bringen, dass sie einander ersetzen könnten. Ich meine im Leben ersetzen, nicht im Sterben. Aber zwei vernichtet man ebenso schnell wie einen. Also war letztlich so wahnsinnig viel nicht dabei gewonnen. Deswegen richtete man im Folgenden alle Energie darauf, die Entwicklungszeiten abzukürzen. Seit dieser Zeit arbeitet man daran. Ich bin fast sicher, dass wir nicht mehr weit davon entfernt sind.“

„Weit wovon entfernt, Wallraf, Herrgott nochmal, wovon??“ Ich wurde zunehmend nervös.

„Davon, jederzeit ersetzbar zu sein, wir alle.“

„Wie soll das gehen?“

„Denk an die Organbanken.“

 

Ich dachte einen Moment darüber nach. Die Organbanken waren eine sehr segensreiche Einrichtung. Jeder, der aus irgendwelchen Gründen mit einem Organ Schwierigkeiten hatte, konnte bei den Organbanken Ersatz bestellen. Beispielsweise für ein Herz oder eine Niere – das gab es ja schon im vorigen Jahrhundert.

 

Heute kann man so ziemlich alles austauschen: Magen, Speiseröhre, ganze Darmabschnitte. Wir haben ja kaum noch Herzkrankheiten oder andere Organkrankheiten, also angeborene, meine ich, nur solche, die man im Laufe der Zeit erworben hat. Beliebt sind zum Beispiel Lungenflügel, die gerne von Rauchern ausgetauscht werden. Ich verstehe nicht viel von solchen Dingen, weil meine Ausbildung eine gänzlich andere Richtung genommen hat. Naturwissenschaften sind nicht mein Fall. Außerdem rauche ich nicht und bin, Gott sei Dank, gesund. Die Organe werden irgendwie beschafft. Ich glaube, man kann sie inzwischen künstlich herstellen? So wie künstliche Hormone?

 

Ich sagte es Wallraf. Er schüttelte den Kopf und bemerkte, meine Naivität sei ja wohl grenzenlos. Ich fühlte mich gekränkt. Er hatte Unrecht, so zu reden. Sie binden es uns nicht gerade auf die Nase, und wer traut sich schon, nachzufragen. Er musste das doch wissen.

„Sie klonen sie“, sagte Wallraf.

„Die Organe?“ Er nickte. Einen Augenblick war ich zu verblüfft, um zu reagieren. Ungläubig dachte ich, er wolle mich veralbern, obwohl das nicht der Moment und Wallraf selber auch nicht der Typ dazu war. Vorsichtig sagte ich: „Ich bin mir nicht sicher, ob ich dich richtig verstehe. Sie klonen einzelne Organe?“

„Du verstehst mich durchaus richtig.“ Ich ließ das sacken.

„Was machen sie mit dem – Rest?“

„Es gibt heute keinen Rest mehr. Früher haben sie noch einen Embryo um ein Organ herum in Kauf nehmen müssen, der schließlich zu entsorgen war, wenn man nicht weitere Teile verwenden konnte, bis es schließlich gelang, aus den sogenannten pluripotenten Zellen das einzelne Gebrauchsgut gezielt herauszufiltern.“

Ich überlegte fieberhaft. In welcher Zeit konnte das gelingen, das Großziehen eines Organs, beispielsweise einer Niere? Was, wenn ich einen Autounfall hatte und plötzlich eine Niere brauchte? Woraus klonten die dann diese Niere und vor allem: in welcher Zeit? Ich fragte Wallraf danach.

„Das genau ist der springende Punkt“, antwortete er und blieb eine Weile bei dem Flusspferd stehen, das sein übergroßes Maul zur Belustigung einer Horde johlender Besucher aufgeklappt hielt als wolle es jemanden fressen. Ein Vater hielt seinen etwa zweijährigen Sohn über das Maul des Flusspferdes, wie ein Opfertier, und einen Augenblick dachte ich, er würde ihn fallen lassen.

 

Ich stelle fest, dass ich kein Mitleid habe. Der Anblick des Kindes rührt mich nicht. Was wird Arena zur Welt bringen? Einen Jungen oder ein Mädchen? Ich bin nicht im Mindesten interessiert. Vielleicht sollte ich dann hierherkommen und mein Kind diesem Maul opfern. Wallraf, der mein Starren auf den Mann mit dem Sohn offensichtlich missdeutet, sagt: „Flusspferde sind Vegetarier.“ Immerhin könnte das Kind daneben fallen und ertrinken.

 

„Es ist eine Frage der Verträglichkeit. Man klont Organe aus den Zellen desjenigen, der eins braucht“, sagte er schließlich.

„Und wie lange dauert das?“ frage ich noch einmal.

„Ich weiß nicht, wo sie heute stehen“, erwiderte Wallraf, „ich sagte es ja schon. Aber ich glaube, sie brauchen überhaupt nicht mehr lange.“

 

Ich setzte mich auf eine Bank am Weg. Es war mir egal, was die anderen dachten. Wallraf setzte sich daneben. Niemand schien uns zu beachten. Eine Mutter mit einem Kind ließ sich am anderen Ende der Bank nieder. Sie hielt das Mädchen auf dem Schoß, die beiden Arme umschlangen den kleinen Körper. Es sah tatsächlich aus, als bilde sie eine Schutzhülle für das Kind. Die beiden wirkten sehr vertraut miteinander. Dabei war das Mädchen sicher drei Jahre alt, vielleicht älter. Sie mussten kurz vor der Trennung stehen. Der Zeitpunkt, an dem man die Kinder aus dem Haus gibt, liegt bei drei, maximal vier Jahren. Eine träumerische Entschlossenheit spiegelte sich im Gesicht der Frau wider, wie sie so ihr Kind festhielt. Ein Ausdruck, der in mir ein gewisses Unwohlsein hervorrief, obwohl ich schließlich nicht das Geringste mit dieser Person zu tun hatte. Komisch, dass sie mir überhaupt auffiel. Es lag sicher daran, dass Wallraf die Frau ebenfalls mit großer Aufmerksamkeit betrachtete. Er sagte: „Waren sie schon bei dem Flusspferd? Es hat ein riesiges Maul.“ Die Frau lächelte flüchtig und antwortete: „Ja, danke.“ Kurz darauf verließ sie uns. Ich war erleichtert, als sie ging. Ich empfand dumpf, dass sie eine Gefahr darstellte.

 

„Also glaubst du, dass sie diese Organe inzwischen ruckzuck herstellen können, wenn sie gebraucht werden, sozusagen von heute auf morgen?“ fragte ich, als die beiden weg waren.

„Bestimmt. Ich glaube bestimmt, dass sie mit den Organen bereits so weit sind. Vielleicht sogar schon seit längerer Zeit. Die Frage ist, wie weit sie mit der neuen Generation von Klonen sind.“

Clone City. Weit, dachte ich plötzlich voller Schrecken. Weit.

„Was macht das für einen Sinn, Wallraf, was bezwecken sie damit?“

„Das ewige Leben“, gab er noch einmal zur Antwort, „verstehst du das nicht?“

Statt einer Niere gleich den ganzen Menschen? Man kann sich durch sich selbst ersetzen lassen, ist es das? Dr. Becker fiel mir ein, der Geschäftsführer unserer Zeitung, der sicher bald entsorgt werden musste. Was, wenn er sich durch sich selber ersetzte, musste dann der Klone etwa nicht entsorgt werden? Vielleicht, weil der Klon jünger war? Wie alt war ein Klon? Wie lange konnte man seine eigene Entsorgung hinauszögern?

„Bis in alle Ewigkeit“, hörte ich Wallraf sagen, „das ist ja gerade der Punkt. Die, die an der Macht sind, die, die die Fähigkeiten haben, dort zu bleiben, werden ihr Leben verlängern. Die anderen werden wie bisher vernichtet.“

 

Zum ersten Mal hörte ich jemanden diese Worte in Zusammenhang mit unseren Alten aussprechen. Er sagte nicht ’entsorgt‘. Was sich ganz leicht spricht und irgendwie auf die große Selbstverständlichkeit dieser nützlichen Sitte verweist. Er sagte: ‚vernichtet‘. Mich schauderte. Wie vernichtete man diese Menschen? Nie, keinen Augenblick hatte ich je darüber nachgedacht, Sie wurden entsorgt und damit waren sie nicht mehr da. Basta. Sie störten nicht mehr, sie machten keine Mühe. Waren sie erst ein paar Tage weg, vergaß man sie einfach. So war das. Aber sie wurden vernichtet. Wie?

 

„Keine Angst“, sagte Wallraf und lachte trocken auf. „Das ist eine saubere und schnelle Angelegenheit. Niemand merkt etwas davon. In Bruchteilen von Sekunden sind sie zu Asche zerfallen. Ein neues Gerät, das man nur auf die jeweilige Person zu richten braucht und ...“, er sprach nicht weiter.

 

Ich saß breitbeinig auf der Bank, hatte meine Ellenbogen auf meine Oberschenkel gestützt und hielt meinen Kopf mit beiden Händen. Ich hatte die Augen geschlossen und hätte am liebsten vergessen, wo ich war.

„Du reißt dich besser zusammen“, hörte ich Wallraf sagen, „lass uns zu den Elefanten gehen.“ Wir standen auf. Er sah mich nicht an, tat unbeteiligt, ja ging sogar einige Schritte vor mir. Ich holte ihn ein.

„Und was ist mit euch verdammten Klonen?“ fragte ich ihn böse, weil er mich hilflos machte, weil ich am Abgrund wandelte und er mich jederzeit hineinstoßen konnte. Wie konnten Klone Menschen ersetzen, wenn sie dann, wie Wallraf, offensichtlich noch schneller alterten. Er verstand, was ich sagen wollte.

„Es gibt Klone und Klone“, sagte er, „ich bin kein gutes Beispiel, ich gehöre der ersten Generation an, meine Telomere sind fast aufgebraucht.“

„Was bedeutet das?“

„Du weißt nicht, was Telomere sind?“

„Nein“.

„Telomere nennt man die Endstücke der Chromosomen. Bei jeder Zellteilung geht ein Stück der Telomere verloren. Es ist eine Kinderkrankheit der ersten Klongeneration, wenn du so willst. Ab einem bestimmten Zeitpunkt verbrauchen sich unsere Telomere schneller und wir beginnen mit großer Geschwindigkeit zu altern. Bei mir hat es in der letzten Zeit zugenommen. Ich habe nicht mehr viel Zeit. Deswegen war es mir so wichtig, dich zu treffen, bevor es zu spät ist.“

„Wie passt das zusammen, das ewige Leben und das schnelle Altern?“

„Ich werde nicht ewig leben. Ich bin bald verbraucht. Aber du – „er zögerte, verbesserte sich dann, „nein, du vielleicht noch nicht, aber was sie mit deinem Kind vorhaben – ich weiß nicht, ob man es dir wünschen soll.“

 

Dieses Kind, das nicht mein Kind sein würde, egal, wie sie es nannten, war mir völlig egal.

„Es ist absurd“, sagte ich aufgebracht. „Es gibt kein ewiges Leben, wie soll das funktionieren. Selbst wenn Dr. Becker sich durch seinen Klon Dr. Becker ersetzen lässt ...“ erschrocken hielt ich inne. Ich hatte tatsächlich seinen Namen ausgesprochen. Ich hatte in einer öffentlichen Anlage, in der tausend Ohren lauschen konnten, auch wenn es nicht so aussah, den Namen unseres Geschäftsführers genannt und zwar in einem nicht nur verbotenen, sondern geradezu tabuisierten Zusammenhang. Eine gefährlichere Unvorsichtigkeit war nicht vorstellbar – wenn man einmal beiseiteließ, dass ich mit einem

leibhaftigen Klon durch den Zoo wandelte.

 

Ich merkte, dass Wallraf seine Augen links und rechts schweifen ließ. Eine Weile sagten wir nichts. Der Elefantenwärter ließ die Tiere zum Gaudi der Leute allerhand Unnatürliches machen. Sie saßen auf kleinen Podesten, gingen hintereinander her, indem sie mit dem Rüssel den Schwanz des Vordermannes hielten; einer stellte sich sogar auf zwei Beine und machte einen Handstand.

 

Ich blickte Wallraf geradewegs an, und er hielt meinem Blick stand. Ich sagte eindringlich: „Es ist doch nicht dasselbe, nicht wahr? Du sagst, ihr seid identisch, du und dein Bruder – aber Brüder sind zwei unterschiedliche Wesen, zwei Individuen mit unterschiedlichem Bewusstsein. Wie kann es also sein, Wallraf, dass sie sich durch sich selber ersetzen wollen? Bin ich verrückt? Bist du so sehr dein Bruder, dass du ihn ersetzen kannst, und ist er dennoch du, oder du bist er? Habt ihr ein Bewusstsein oder zwei? Seid ihr ein Mensch mit zwei Körpern? Kann man sich selber teilen und dann den einen Teil ohne Verlust des ganzen abtöten? Ich glaube, ich schaffe das nicht!“ Es war ein geflüsterter Aufschrei aus meiner gequälten Seele. Ich dachte, dass ich das ewige Leben für mich gar nicht wollte und begriff, dass sie mich, wenn Wallraf Recht hatte, gegen meinen Willen klonen und damit vielleicht verhindern konnten, dass ich starb und also aufhörte zu existieren und dass dann diese Angst und diese Verstrickung in Machenschaften, deren Sinn und Ziel ich nicht verstand, niemals aufhören würden.

 

Wallraf durfte einfach nicht Recht haben! In meiner eigenen Not bemerkte ich nicht, wie aschfahl der Mann neben mir geworden war. Erst als er weiterging, stolperte, sich am Pfosten eines weitläufigen Geheges festhielt, und dabei Auge in Auge mit einem Strauß zu stehen kam, erlangte ich meine Besinnung wieder, meine Aufmerksamkeit auf unsere Umgebung und mein Gefühl für angemessenes Verhalten. Schnell war ich bei ihm und sagte: „Wir sollten hier weg, lass uns einen Platz finden, an dem wir ungestört sind“.

Er ging mit gesenktem Kopf neben mir her und ließ sich führen. Zum ersten Mal musste ich die Initiative ergreifen. Ich setzte ihn auf einer kleinen Insel vor einer Imbissbude auf eine Bank, holte zwei Frikadellen und zwei Cola Super und gesellte mich zu ihm. Um uns herum geschäftige Verfressenheit. Wieder konnten wir in der Menge abtauchen.

 

Er saß vor seiner Frikadelle und rührte sie nicht an. Den Becher mit dem Getränk umfasste er wie einen Rettungsring. Mir war ebenfalls nicht nach Essen zumute, aber ich biss wenigsten einmal in meine Frikadelle, um nicht allzu sehr aufzufallen.

„Ich habe ihn umgebracht.“

Mit Mühe gelang es mir, den Bissen, den ich im Mund hatte, runterzuschlucken. Er fühlte sich an wie kalte Pappe. Das merkwürdige war, dass ich eine sehr bestimmte Vorstellung davon hatte, wie kalte, gekaute Pappe schmecken würde.

 

Ich habe es natürlich geahnt. Jetzt, da er es ausgesprochen hat, scheint es nahezu logisch, dass das passieren musste. Schon wegen der Frau. Ich ahne, dass er es wegen der Frau getan hat.

 

„Es war nicht mehr auszuhalten“, flüsterte er, „es war eines Tages nicht mehr auszuhalten. Ich musste es einfach tun.“  Ich wollte fragen: ‚Wie?‘ und ‚Wann?‘ Aber in seinen Augen las ich, dass er es getan hat, als die Zeit reif war und dass er es auf jede mögliche Art getan hätte. Es war nicht wichtig, wie es geschah, es war überhaupt nicht wichtig.

 

Und dennoch konnte ich nicht umhin zu denken: Mörder. Hat er ihn erschlagen, wie Kain seinen Bruder Abel? Hat er ihn erschossen oder mit seinen eigenen Händen erwürgt? Wie bringt man seinen Bruder um, vor allem, wenn man selber dieser Bruder ist?

 

„Und?“ fragte ich atemlos, „hast du dich befreit? Bist du von ihm losgekommen?“

„Nein“, erwiderte er leise, „nicht von ihm, nicht von mir. Ich bin in seine Rolle geschlüpft, ich habe ihn ersetzt, verdrängt, ich bin in ihm aufgegangen, um tatsächlich eins zu werden mit meinem andren Ich, mit mir selber.“

„Aber es gelang dir nicht. Weil ihr nicht dieselbe Person wart“, sagte ich, sein grauenhaftes Dilemma erkennend. „Du warst nicht er. Du warst du selber, ein Klon mit eigenem Bewusstsein, ein anderer Mensch!“

Er kniff die Augen zusammen, wie um einen bösen Angriff abzuwehren.

„Ich habe es nicht gleich gemerkt. Erst war es ein Akt der Befreiung, eine ungeheure Erleichterung. Es ging alles ganz leicht. Ich tat einfach, was er immer getan hatte. Niemand schöpfte den geringsten Verdacht. Ich war vollkommen sicher. Ich war sicher, so zu sprechen wie er, ich war sicher, so zu reagieren wie er, in jeder Situation. Ich war natürlich sicher, so auszusehen wie er. Wir konnten uns gar nicht unterscheiden. Keine Gefahr. Es ging nach außen einfach alles so weiter wie bisher. Mit dem einzigen Unterschied, dass ich es jetzt war, der sein Leben leben konnte, dass sein Leben jetzt endlich meines war. Aber diesen kleinen bedeutungslosen Unterschied merkte niemand, den kannte nur ich.“

Er hatte jetzt doch seine Frikadelle gefasst, und es sah so aus, als wolle er sie zu einem Würstchen flach rollen, so heftig quetschte er das Fleisch zwischen den Brothälften. Ich sagte: „Und Maria?“

Maria, die Schöne, Maria, sein Schicksal, Maria, für die er leben wollte, für die er seinen Bruder getötet hatte, sich selbst. Einen Augenblick lang dachte ich, er würde nichts mehr sagen. Er sackte in sich zusammen. Sein Blick ging ins Leere oder in eine weite Ferne, die nichts mehr mit mir oder mit dem Ort, wo er sich gerade befand, zu tun hatte. Aber ich täuschte mich. Seine hohle Stimme kam aus den Tiefen der fremden Welt, in die er abgetaucht war: „Maria – hat ebenfalls nichts gemerkt. Sie hat mich angenommen. Sie hat – mich geliebt.“

 

Ich kann dir jeden Zentimeter ihres Körpers beschreiben, hatte er gesagt. Er hatte sich an die fremde Frau rangeschlichen, hatte ihr ahnungsloses Vertrauen offensichtlich in schamloser Weise ausgenutzt. Er war ein Mörder und Betrüger. Er hatte den Körper dieser Maria missbraucht. Arena fiel mir ein und der Wasserturm. Aber das war nicht zu vergleichen. Ich wehrte mich gegen den Gedanken und dachte es doch: missbraucht.

 

Wallraf saß vor mir und rieb gedankenverloren an dem Essensklumpen vor ihm. Trotz allem sah er nicht aus wie ein Täter. Es sah aus wie ein Opfer.

„Lass es uns zu Ende bringen, Böll, ich habe nicht mehr viel Zeit“, fing er wieder an. „Ich spüre, dass ich nicht mehr sehr lange zu leben habe, und man darf die Möglichkeit nicht außer Acht lassen, dass sie mich doch eines Tages schnappen. Oder uns. Wir sind sehr unvorsichtig gewesen.“

„Was willst du von mir?“ fragte ich voller Bangen, und ich weiß nicht, worüber ich mehr erschrak, darüber, dass er jetzt von mir eine Gegenleistung für sein Vertrauen verlangen würde, über die vage Wahrscheinlichkeit, dass man uns trotz aller Vorsichtsmaßnahmen beobachtete und zur Strecke bringen könnte, oder über die Andeutung, dass er mich bald für immer verlassen würde.

„Du musst dich um Maria kümmern. Du musst sie aufklären über das, was geschehen ist, wenn alles vorbei ist.  Du musst ihr helfen, darüber hinwegzukommen. Ich weiß nicht, ob sie sich allein zurechtfinden wird, und ich will nicht, dass sie jemandem von denen in die Hände fällt. Versprich mir, dass du dich um sie kümmern wirst!“

 

Wenn alles vorbei ist, schreit mein Herz, was kann ich tun? Wie kann ich einen Menschen schützen, den ich nicht einmal kenne, ich, der ich doch nicht einmal mich selber verteidigen kann, der ich ein Spielball bin der Willkür meiner eigenen Frau und ihrer Verbündeten.

 

Er sah das Entsetzen in meinen Augen.

„Für dich ist es sowieso zu spät, Böll, du hast dich auf mich eingelassen, glaubst du, dafür musst du nicht bezahlen? Mach dir nichts vor!“

„Wenn sie nicht weiß, wer du bist, warum soll ich es ihr sagen?“

„Weil du der einzige bist, der sie aufklären kann und weil es bald dazu kommen wird, dass jemand sie aufklären muss“, antwortete er einfach.

„Allerdings glaube ich, dass sie sehr wohl etwas ahnt.“ Und dann sagte er: „Ich weiß nicht, ob wir uns noch oft sehen werde, Böll, ich will dir den Schluss erzählen.“

Den Schluss? Wieso ist gerade jetzt alles zu Ende?

 

„Es ist ein Trugschluss, das ewige Leben ist ein Trugschluss. Sie werden es nie erreichen, sie wissen es nur noch nicht. Es ist ein simpler Fehlschluss. Wir sind nicht identisch. Kein Lebewesen kann trotz völliger genetischer Übereinstimmung identisch sein mit einem anderen. So lange mein Bruder lebte, fühlte ich, wusste ich, dass ich er war. Erst als ich ihn getötet hatte, wurde mir bewusst, dass ich ein völlig anderes Wesen bin. Wenn du so willst, war er ein Teil von mir, oder genauer, ich von ihm. Aber das ist eine Hilfskonstruktion, um diese unheimliche Nähe irgendwie zu fassen. Wenn eine Zelle sich teilt, entstehen zwei. Dann gehören sie nicht mehr zusammen. Sie haben denselben Ursprung. Sie haben dieselbe DNS-Information. Aber sie gehen von nun an getrennte Wege.

 

Sie hat nicht verstanden, warum plötzlich doch alles so anders war. Sie hat wahrscheinlich gedacht, dass ich mich in eine andere Richtung entwickelte, die sie, warum auch immer, nicht verstehen konnte. So muss es sein, wenn ein Ehepaar sich nach Jahren auseinanderlebt, ohne dass die Partner so recht wissen, was der Grund dafür ist.“

 

Ich dachte, dass eine solche Beschreibung für die Generation meiner Großeltern gelten mochte. Meine Eltern hatten solche Probleme gewiss nicht, und über die Entwicklung von Arena hätte ich von Anfang an keine Prognose gestellt. Unser Weg war und ist vorgezeichnet, erst recht jetzt, nach dieser besonderen Begegnung. Würde ich es bemerken, wenn Arena durch einen Klon ersetzt würde? Ich erschrak bei dem Gedanken: Arena – ein Klon? Wäre das möglich? Ich dachte an ihr rotes Mieder, an die Art und Weise, wie sie mit mir umgegangen war. Vielleicht hatte ich mit Arenas Klon geschlafen? Ich versuchte, den albernen Gedanken beiseite zu wischen, versuchte, mich auf Wallraf zu konzentrieren.

„Woran hast du gemerkt, dass sie es spürte?“

„Daran, dass sie aufgehört hat, mich zu lieben. Sie weiß es noch gar nicht. Sie ist unglücklich. Sie versucht immer wieder, zurückzufinden zu ihrem Glück, das sie so lange mit demselben Mann geteilt hat. Sie kann nicht verstehen, dass alles vorbei ist, obwohl derselbe Mann sie immer noch voller Liebe in die Arme nimmt ...“ Er stockte, seine Stimme schien zu versagen, fast hatte ich den Eindruck, dass seine Augen sich mit Tränen füllten. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sie so geliebt hat wie ich. Aber ich bin nicht er. Sie liebt ihn. Sie hat nie aufgehört, mein anderes Ich zu lieben. Sie denkt, dass es an ihr liegt. Sie macht sich Vorwürfe. Sie gibt sich alle Mühe. Aber es kann nicht klappen, was sie nicht weiß. Sie hat ihn verloren. Ich habe ihn ihr weggenommen. Und ich kann ihn nicht ersetzen. Erst da habe ich es begriffen.“

Die Frikadelle war zu einem unförmigen Matsch geknetet. Er schien es nicht zu bemerken.

„Wenn du es ihr sagst, versuch ihr klar zu machen, wie sehr ich sie geliebt habe. Und ihn“, fügte er hinzu und schloss wieder die Augen. „Und ihn.“

 

Wolken waren am Himmel aufgezogen. Seine Worte klangen in mir nach. Mein Blick wanderte über den Weg, der an der Imbissstube vorbeiführte. Automatisch dachte ich, dass das eine andere Sorte Menschen war, die hier verkehrte. Keine Gefahr, dass mich jemand erkennen würde. Wir waren so vorsichtig gewesen, wie man nur sein konnte. Der Beweis lag in der Tatsache, dass ich noch am Leben war. Wallraf saß da, in sich zusammengesunken, ein menschliches Wrack. Ich empfand so etwas wie Mitleid. Gleichzeitig stieß er mich ab. Er behauptete, seinen Bruder zu lieben, aber er hatte ihn getötet. Er behauptete, unter seiner unerwiderten Liebe zu dieser Maria zu leiden, aber er hatte sich in ihr Leben geschlichen, indem er das ihre zerstörte. Er war ein Klon. Ein Klon, dachte ich, die identische Kopie eines menschlichen Wesens. Und doch nicht identisch. Also auch kein Mensch? Ich blickte mich um, sah eine gedankenlose Menge von unbeschreiblichen Wesen, die Essen in sich hineinstopften, aus riesigen Bechern tranken, die sich treiben ließen, vergnügungssüchtig, bereit, zu brüllen vor Begeisterung, mit den Füßen zu stampfen vor Enttäuschung. Menschen?

 

Trotz meiner zwiespältigen Gefühle begreife ich: Der vor mir ist, außer meiner Großmutter, das Wesen mit den menschlichsten Zügen, dem ich je begegnet bin. Aber was heißt das schon, menschliche Züge? Ich darf so nicht denken, das ist klar. Ich muss mir im Gegenteil folgendes vor Augen halten: Ich bin auf dem aufsteigenden Ast. Ich werde bald stellvertretender Chefredakteur sein. Ich habe mit meiner Frau, die in der Redaktion eine wichtige Rolle spielt, ein Kind gezeugt. Das ist ohne Zweifel ein unerhörtes Privileg. Ich habe Karten für das wichtigste gesellschaftliche Ereignis des Jahres. Ich werde einen Lobgesang auf die Regierung halten, der mich unsterblich machen wird. Unsterblich. Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass ich, wenn sie das ewige Leben erreichen sollten, daran teilhaben werde, beziehungsweise wir: Arena, das Kind und ich. Ich habe durch Wallraf Geheimnisse erfahren, die niemand sonst je kennen wird. Nicht einmal Arena. Obwohl ich mir da nicht sicher bin. Sicher ist nur, dass wir niemals darüber sprechen, niemals solche Geheimnisse miteinander teilen werden.

 

Wenn Wallraf Recht hatte, und es das ewige Leben nicht gab, was hatten sie dann vor? Wussten sie wirklich nicht, dass jedes geklonte Individuum von dem Original, das es verdoppelt, wiederum durch ein eigenes Bewusstsein getrennt war? Andererseits gehörte Wallraf der ersten Generation an, wie er es nannte. Vielleicht war dies nur eine Sackgasse der Geschichte und bei anderen, nachfolgenden Generationen war man schon weiter? Vielleicht hatte man die Sache mit den schnell alternden Telomeren in den Griff bekommen? Und wie war es, wenn man einen Klon klonte?

 

„Wirst du das versprechen?“ hörte ich ihn flüstern.

„Wo kann ich sie finden?“ entgegnete ich. Er blickte sich um, und ich war verwundert, wie aufmerksam und hellwach seine Augen unsere Umgebung absuchten, da er doch gerade noch wie erloschen in die Welt seiner Gedanken abgetaucht schien.

„Die großen Arkadengänge am Neumarktkomplex. Sie arbeitet dort als Verkäuferin in einem Schönheitssalon. Wir werden uns in dem zentralen Café treffen, dort, wo alles zusammenläuft. Du kennst es. Jeder kennt es. Man isst dort besonders schlecht“, fügte er überflüssigerweise hinzu. Aber ich wusste ja, dass er mit dem Essen Probleme hatte. Man musste sich nur die geschlachtete Frikadelle auf dem Pappteller, der vor ihm stand, ansehen.

„Du wirst sie sicher erkennen.“

 

Ich muss gestehen, dass mich die Erwartung, Maria tatsächlich zu begegnen, sehr erregte. Am Ausgang des Zoos wäre ich beinahe mit der Frau zusammengestoßen, die vorhin auf unserer Bank gesessen hatte. Ich entschuldigte mich hastig. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass sie jetzt in Begleitung eines Mannes schien. Und es kam mir so vor, als hätte ich den schon einmal gesehen. Ich traute mich jedoch nicht, mich direkt nach ihm umzublicken.

10

 

„Deine Frau ist noch schöner geworden“, bemerkte Schröder im Fahrstuhl nach oben. Die beiden anderen, die wir nur flüchtig kannten, nickten beifällig. Einer feixte. Ich sah ihn scharf an, und sofort brachte er schuldbewusst wieder Ordnung in sein Gesicht.

 

Ich habe in der letzten Zeit durchaus an Selbstbewusstsein gewonnen. Zum Beispiel hätte ich früher natürlich niemals scharf geguckt. Aber es kommt automatisch, wenn man mit deutlicher Hochachtung behandelt wird. Seit ich die ‚Gedanken zum Tage‘ schreibe, also seit knapp einer Woche, werde ich von allen Seiten mit ausgesuchter Höflichkeit behandelt.

 

Es macht mir Spaß, die ‚Gedanken‘ zu formulieren. Ich habe schon über ‚Unser Beitrag zur Müllvermeidung' geschrieben, über ‚Heiterkeit im Alltag‘, über ‚Politische Verantwortung‘, ‚Neue Medien, Triumph des 21. Jahrhunderts‘ und manches andere. Sie haben mir die Themen bisher immer vorgegeben. Allerdings soll ich bald eigene Ideen entwickeln. Sie sollen einerseits Belange betreffen, die die Bürger auf ihre moralischen Pflichten innerhalb unserer Gesellschaft und gegenüber der Regierung stoßen und dann, zur Entlastung, sollen völlig entspannte Themen bearbeitet werden. Ich habe zum Beispiel ‚Im Zoo‘ vorgeschlagen. Das war nach meinen Treffen dort mit Wallraf. Ich muss allerdings vorsichtig sein, dass ich mich nicht verrate mit meinen eigenen Vorschlägen. Die Idee ist mir gekommen, sie könnten darauf spekulieren, dass ich mich selber verrate, indem ich Themen nenne, die mir mein Unterbewusstsein diktiert. Sicher kann ich nicht alles kontrollieren. Deswegen muss ich sehr wachsam sein, sehr aufmerksam.

 

Andererseits sage ich mir immer wieder, dass sie keineswegs ein Interesse daran haben können, mich fertig zu machen. Haben sie mir nicht gerade die tägliche Rubrik übertragen, die von allen mit der größten Aufmerksamkeit gelesen wird? Haben sie mir nicht den Posten des stellvertretenden Chefredakteurs angetragen? Habe ich nicht gerade eine in hohem Maße privilegierte Begegnung mit meiner Frau gehabt? Ich bin offensichtlich auf der Höhe meiner Laufbahn. Sie können keinerlei Interesse daran haben, mich in eine Falle zu locken!

 

Irgendetwas sagt mir, dass ich trotz allem sehr vorsichtig sein muss. Ich weiß letztlich nicht, wer ‚die‘ sind. Ich habe nur mit Dr. Becker Kontakt gehabt. Wie, wenn es dort mehrere Parteien gibt, von denen eine mir vielleicht alles andere als wohl gesonnen ist, eine Spengler-Partei, beispielsweise. Ich weiß natürlich nicht, ob es die gibt. Aber ich kann es mir denken. Ich nehme mir vor, weiterhin sehr vorsichtig zu sein.

 

Zu Schröder gewandt sagte ich mit feinem Lächeln: „Sie war immer schon schön, es ist eine Freude, sie anzusehen.“

 

Das bedeutet, ich will nicht darauf angesprochen werden, dass sie jetzt noch schöner ist. Jeder in dieser verdammten Redaktion scheint zu wissen, dass wir mit einander geschlafen haben. Ich kann mich nicht erinnern, dass jemals bei einem anderen Fall ein solches Aufsehen darum gemacht worden wäre. Andere Fälle sind allerdings nicht vergleichbar, nicht wirklich. Nur – woher wussten das die anderen? Ich erinnere mich daran, wie Pütz aus der Abteilung Finanzen im letzten Jahr Vater geworden ist – irgendwie haben wir das erfahren. Ich glaube, er hat mal den Wunschkatalog vorgelegt und mit einem Kollegen darüber diskutiert. Ich erinnere mich daran, dass ich dachte, wie konventionell seine Auswahl von Eigenschaften war. Er wollte einen Sohn und der sollte gut rechnen können. Über die Frau hat man rein gar nichts gehört. Sie arbeitet nicht in unserer Redaktion.

 

Es muss der Tatbestand der natürlichen Zeugung sein, der alle so erregt. Was Schröder darüber denkt? Der lässt sich natürlich nichts anmerken, und er sagt auch nichts mehr über Arena. Er hat verstanden.

 

Ich habe sie seit damals nicht mehr gesehen. Sie kommt jetzt abends immer sehr spät nach Hause. Ich höre sie, wenn ich schon im Bett liege. Natürlich habe ich nicht die geringste Lust, sie dann noch zu sprechen. Ich wüsste auch wirklich nicht, worüber ich mit ihr reden sollte. Vielleicht ist es ihr auch peinlich. Zum Beispiel dieses Mieder. Normalerweise trägt sie so was nicht. Das heißt, ganz genau weiß ich es natürlich nicht. Ich habe es bis jetzt angenommen. Aber dann denke ich, sie muss es doch irgendwo hergehabt, es ausprobiert haben. Vielleicht hat sie den ganzen Schrank voll davon?

 

Es kommt natürlich gar nicht in Frage, einfach in ihre Schränke zu gucken. Mit welcher Begründung hätte ich das tun können? Ich könnte natürlich sagen, dass sie mich neugierig gemacht hat. Das ist ein Witz. Niemals könnte ich Arena gegenüber auf diese Begegnung anspielen.

 

Es war ja auch nicht nur die Kleidung, es war ihr ganzes, zu der Kleidung passendes Verhalten. Mir kommt der Gedanke, dass man so etwas nicht spielen kann, so muss man sein. Vielleicht hat sie den ganzen Schrank voll solcher Sachen, die sie anzieht, wenn sie in die Badehäuser geht, um sich auszutoben. Es passt nicht zu meiner Vorstellung von Arena, aber was weiß ich eigentlich von ihr? Und die Begegnung im Wasserturm, die war wirklich, die habe ich nicht bloß geträumt.

 

„Darf man die Gedanken zum morgigen Tag erfahren?“ fragte Schröder. Ich sah ihn kurz an, um seinen Gesichtsausdruck zu interpretieren. Cool wie immer.

„Lass dich überraschen“, sagte ich schnell. Was um alles in der Welt sollte das jetzt heißen? Wusste er etwa bereits, dass ich über den Zoo schreiben wollte? Woher? Und warum spielte er darauf an?

 

Schröder ist mir wirklich ein Rätsel. Ein bisschen unheimlich. Er scheint über Kanäle zu verfügen, die ihn über alles informieren, oder doch über sehr vieles. Über erstaunlich vieles. Dabei sehe ich nicht häufig, dass der mit den Leuten spricht. Das heißt, im Grunde habe ich nicht die geringste Ahnung, mit wem er spricht und welche Rolle er spielt. Ich habe allerdings instinktiv das Gefühl, dass er mir wohl gesonnen ist, dass er sein Wissen dazu benutzt, mir zu helfen, wenn ich denn clever genug bin, ihn zu verstehen.

 

Dann fühlte ich langsam eine Unruhe in mir hochsteigen. Schröder würde mich niemals direkt nach einer so belanglosen Sache fragen wie dem Thema der Gedanken zum nächsten Tag. Das wäre wirklich lächerlich. Er wollte mir sagen, dass er es bereits wusste. Er wusste, woher auch immer, worüber ich schreiben würde. Und er hatte seine Gründe, mir das mitzuteilen. Warum? Wir waren auf unserem Stockwerk angekommen, und ich konnte mich in mein Büro verziehen.

 

Ich habe den Text schon eingereicht. Ein allgemeiner Text, der von den Tieren ausgehend zu politischen Grundsatzüberlegungen überschwenkt. Ich habe mich über die Bandbreite der Tiere ausgelassen, die der Bevölkerung unserer Stadt einen so wunderbaren Überblick über die Artenvielfalt gibt. Ich habe über die große Sorgfalt gesprochen, mit der unsere Regierung es den diversen Arten ermöglicht, zu überleben. Es wird nämlich hier ein Klima geschaffen, das Tieren aus sehr unterschiedlichen Regionen unserer Erde ein Überleben ermöglicht, Tieren, die aus sehr kalten und sehr warmen Gebieten, aus Wüsten und aus Regenwäldern stammen. Alle diese Unterschiede vergehen zur Bedeutungslosigkeit, wenn ein vernünftiger Geist über allem waltet. Das ist der Sinn und der Tenor des Textes, und dann habe ich natürlich ein bisschen die Freude, das Vergnügen ausgeführt, das die Bevölkerung dabei empfinden kann, wenn sie den Zoo besucht, denn es passiert da ja dauernd etwas, das sie amüsieren kann.

 

Ein harmloser Text. Nicht angreifbar, da bin ich sicher. Ich merke, wie meine Hände zittern, als ich meinen PC einschalte, um die täglichen Routineabfragen durchzugehen, meine Mails zu lesen und so weiter. Ich starre auf den Bildschirm, ohne irgendetwas wahrzunehmen oder gar zu begreifen.

 

Es muss mit Wallraf zu tun haben.

 

Aber woher kann Schröder das wissen? Hat er mich beobachtet? Sehr unwahrscheinlich. Er könnte natürlich zufälligerweise – wie damals im Dom, als wir uns trafen ... Aber daran glaube ich nicht.

 

Hat er mir schon im Dom nachspioniert? Ich kann natürlich versuchen, im Ausgangsbuch nachzusehen, ob er sich am letzten Dienstag wie ich für den Zoo abgemeldet hat. Wie ich allerdings die Tatsache interpretieren müsste, dass Schröder, wenn es so wäre, ebenfalls den Zoo besucht hat, weiß ich nicht genau. Immerhin würde das erklären, warum er darauf anspielt. Es würde bedeuten, dass er mich gesehen hat. Ich überlege, welche Schlüsse er ziehen könnte, wenn er mich wirklich mit Wallraf gesehen hat. Dass Schröder mit der Aufmerksamkeit, die ihm eigen ist, sich darüber täuschen ließe, dass Wallraf und ich uns kennen und über ernsthafte Dinge miteinander geredet haben, ist nicht zu erwarten. Mit einem Blick hätte Schröder die Situation erfasst. Er muss nicht unbedingt begriffen haben, dass Wallraf ein Klon ist – Klone kommen in unserer Gesellschaft eigentlich nicht vor. Man spricht nicht darüber, sie sind nicht präsent. Sie geistern im Dunkeln als eine vage Möglichkeit, eine gefährliche Möglichkeit. Aber sie sind nicht etwas, woran man gleich denken würde, wenn man einen Kollegen mit einem Unbekannten im Zoo sprechen sieht. Andererseits: das gilt für mich. Weiß ich denn, was für Schröder gilt? Wie weit gehört Schröder auf meine Seite, wie weit auf die der anderen?

 

Was er auf jeden Fall sofort begriffen hätte, wäre die Intensität des Gesprächs. Und darin liegt etwas so Verräterisches, dass allein das genügt, mich verdächtig zu machen. Man muss sich ja nur in der Redaktion umsehen. Niemals würden irgendwelche Kollegen so miteinander sprechen. Zum Beispiel Schröder und ich: Ich will nicht so weit gehen, uns Freunde zu nennen, aber doch, in gewisser Weise sind wir es. Jedenfalls ist Schröder der Mensch von allen, die ich kenne, der hierfür überhaupt in Frage käme. Niemals jedoch sprechen wir mehr als zwei, drei Sätze miteinander und die wirklich mit allem Bedacht. Wenn ich darüber nachdenke, muss ich zugeben, dass es sehr erstaunlich ist, wie nahe wir uns bei allem und trotz allem gekommen sind. Bis zu einem gewissen Grad vertraue ich Schröder. Oder ist das ein zu starkes Wort? Nicht so wie Wallraf allerdings. Bei Wallraf bin ich mir sicher, dass er keine Alternativen hat. Schröders Alternativen kann ich nur erahnen.

 

Hat Schröder mich gesehen? Mir fällt die Frau mit dem Kind wieder ein. Was war mit der? Wallraf hat sie sehr aufmerksam gemustert, und er hat sie angesprochen, offensichtlich, um sie zu vertreiben. Aber da war noch etwas. Irgendetwas. Ich bin am Ausgang mit ihr zusammengestoßen. Das ist ziemlich ungewöhnlich, finde ich, bei so vielen Menschen. Allerdings auch wieder nicht so unwahrscheinlich, dass man gleich an Absicht denken müsste. Und was sollte auch für eine Absicht dahinterstecken, es ist nicht zu verstehen.

 

Dann fällt es mir wieder ein. Da war ein Mann, der sie begleitete, der auf jeden Fall dicht bei ihr stand, als ich sie anstieß. Und ich hatte irgendwie das Gefühl, ihn zu kennen. Es war nur ein flüchtiger Eindruck. Ich habe ihn nicht richtig wahrgenommen. Konnte das Schröder gewesen sein? Definitiv nein. Den hätte ich sofort erkannt. Schröder aus den Augenwinkeln, Schröder hundert Meter entfernt auf der anderen Straßenseite, Schröder im Dunkeln – ich erkenne ihn aus Tausenden, blind fast. Ich erkenne Schröder immer.

 

Jemand aus der Redaktion? Schwer zu sagen. Das würde immerhin meine eigene Reaktion verständlich machen. Es gibt so viele, die ich ‚kenne‘, weil ich täglich an ihnen vorüberhaste, ohne dass sie sich mir ins Gedächtnis prägen. Einer könnte mich gesehen haben. Tatsächlich zufälligerweise. Vielleicht hat er meinen Zusammenstoß mit der Frau gesehen, und es Schröder erzählt. Vielleicht in gehässiger Weise: Der Zusammenstoß mit einer fremden Frau mit Kind und das kurz nachdem Arena und ich ...

 

Schweiß perlt auf meiner Stirn. Ich zittere. Ich muss die Toilette aufsuchen. Angst schlägt mir auf den Darm. Wenn ich Schröders Bemerkung als Warnung nehmen soll, bedeutet das schließlich auch, dass noch nicht alles zu spät ist, noch nicht alles entdeckt. Vielleicht bedeutete es: Nimm dich in Acht, wo immer du gehst, wirst du beobachtet. Das könnte es heißen.

 

Es ist ja eigentlich eine Selbstverständlichkeit, aber jeder von uns kennt Schlupflöcher. Kontrolle ist eben nicht immer und zu allen Zeiten möglich. Andererseits, wenn sie es wollen, kann sie es werden, kann tatsächlich rund um die Uhr und umfassend sein. Wenn sie es für nötig halten. Und dann gilt: Immer.

 

Vielleicht will Schröder mir sagen, dass ich im Augenblick, gerade weil meine Position so deutlich verändert ist, zu dem Kreis derer gehöre, die wirklich rund um die Uhr beobachtet werden. Es leuchtet mir ein. Ich soll stellvertretender Chefredakteur werden. Sie können kein Risiko eingehen. Ich hätte es wissen müssen. Ich muss wahnsinnig sein, dass ich mich immer noch mit dem Klon treffe. Er bringt mich in Gefahr. Aber inzwischen ist es wohl so, dass auch Wallraf durch mich in Gefahr geraten kann. Wenn sie mich beobachten, bringe ich sie auf seine Spur. Als ich von der Toilette zurückkomme, erlaube ich mir den Luxus, mir einen Becher Trinkwasser zu genehmigen. Den habe ich jetzt nötig.

 

Ich gehe zu Schuster in die Bibliothek. Seit damals, das ist jetzt eine Woche her, bin ich nicht wieder bei ihm gewesen, obwohl er mir einige Sachen zurechtlegen wollte. Er grinst, als er mich sieht, sagt: „Ich habe dir einige Jahresübersichten rausgelegt. Du kannst dich hier vorne hinsetzen.“ Damit deutet er auf einen großen Tisch auf der linken Seite.

 

Ich könnte mich überall hinsetzen, der große Raum ist gänzlich leer. Etwa zehn Tische stehen bereit, um Redakteuren als Arbeitsplätze zu dienen. An jedem der Tische hätten sicher mehrere Personen Platz, sie sind wirklich riesig. Aber es steht jeweils nur ein Stuhl davor. Kein PC. Natürlich arbeitet hier niemand, deswegen. Wer nimmt schon noch Bücher in die Hand? Heutzutage ist alle Information abrufbar. Man gibt ein Thema ein und in Sekunden bekommt man, was man bekommen möchte.

 

Einerseits ist die Fülle von Informationen, die man bekommen kann, unüberschaubar. Andererseits habe ich das Gefühl, es ist doch immer dasselbe. Wie soll ich sagen: Wir benutzen alle dasselbe Datenmaterial, das, das sie hineingeben, das, das wir schnell greifen können. Und dann kommt immer dasselbe dabei raus. Oft denke ich, es ist völlig gleichgültig, wer einen Artikel schreibt, jeder andere könnte das verlässlicher Weise ganz genauso. Bei den Schönschreibern ist das etwas anderes. Vor allem natürlich bei mir. Ich lese Bücher und Zeitschriften. Ich kombiniere, was ich lese auf sehr eigenwillige Weise. Deswegen bin ich so gut. Das meiste, das hier in Form von Büchern vorhanden ist, könnte ich in meinem Computer abrufen. Aber das funktioniert nur wirklich vernünftig, wenn man weiß, was man will. Wenn man sich treiben lassen, Anregungen bekommen will, muss man in den Büchern blättern, oder in den Zeitungen. Es sind oft die kleinen Notizen, die einen weiterbringen. Aber die werden vielfach gar nicht eingespeist oder sind nicht direkt abzurufen, oder man findet erst gar nicht das Stichwort.

 

Seit einigen Jahren ist es wieder modern, Bücher aufzubewahren. Ich glaube, aus den von mir beschriebenen Gründen. Man kehrt unter bestimmten Umständen wieder zurück zu den eher individuellen Recherchen. Es hat sich herausgestellt, dass unsere Redaktion nie aufgehört hat, eine Bibliothek zu führen, Bücher zu sammeln. Aber dann wurde sie wieder zugänglich gemacht. Wie gesagt, man muss einen guten Grund haben, hier zu arbeiten. Ich bin selber eher selten hier gewesen.

 

Ich blicke mich um. An den Wänden stehen Regale mit Büchern. Zu allen möglichen Themen. Auf meiner Seite Kunst, Literatur, Geschichte, Umwelt, Verkehr, Finanzen. Ich blicke verstohlen die Themen entlang. Hinten auf der rechten Seite finde ich Naturwissenschaften, Medizin, Biologie, Chemie. Unter welcher Rubrik wären Klone einzuordnen? Genetik. Es gibt keine eigene Rubrik Genetik. Jedenfalls nicht hier. Ich frage mich, ob ich ohne seine Hilfe an den Regalen entlang gehen kann, um mir die Bücher rauszunehmen. Und wo sind die anderen? Gibt es hinter diesem weitere Räume mit Büchern? Wer hat den Zugang hierzu? Schuster?

 

Ich sage: „War es sehr viel Mühe, das alles zusammen zu tragen?“

„Nein“, gibt er zur Antwort. „Wir sind gut sortiert. Es sind nur ein paar Handgriffe. Wenn du mehr brauchst, musst du es mir sagen.“ Ich bedanke mich, frage weiter, ob die Bibliothek groß ist, ob er sich gut auskennt, wie viele Räume es gibt, und ob er allein dafür zuständig ist. Er ist verblüfft, dass ich so viel frage, misstrauisch. Ich mache ein unschuldiges Gesicht, blicke ganz offen, voller Bewunderung. Ich sage: „Das ist doch eine ungeheure Verantwortung, die du da hast. Ich kann mir vorstellen, darüber in den ‚Gedanken zum Tage‘ zu schreiben.“ Hinter seinen widerlichen, dicken Brillengläsern blitzen seine Augen vergnügt auf. Er wird sofort zutraulich, wundert sich nicht mehr über meinen Wissensdurst.

 

Ich erfahre, dass die Bibliothek enorm groß ist, natürlich nicht zu vergleichen mit der Stadtbibliothek oder der Universitätsbibliothek. Ist ja nur zum internen Gebrauch. Allerdings ist das Archiv riesig und umfasst jede einzelne Ausgabe unserer Tageszeitung seit ihrer Neugründung nach dem zweiten der beiden kleinen Weltkriege des letzten Jahrhunderts. Unsere Zeitung ist tatsächlich älter, aber die Exemplare vor dem zweiten kleinen Weltkrieg sind nicht mehr erhalten. Schuster ist allein zuständig. Er arbeitet jeden Tag hier. An den seltenen Tagen, an denen er frei nimmt - er sagt nicht Urlaub, und ich kann mir vorstellen, dass er einer von denen ist, die ihr Urlaubskontingent nicht ausschöpfen –, an den wenigen Tagen bleibt die Bibliothek geschlossen. Der Zulauf ist unregelmäßig, und dennoch, bei ganz besonderen Problemen kann es sinnvoll sein, sich statt am PC an der Originalausgabe einer Zeitung selbst zu orientieren, sagt Schuster. Ich frage mich, wer das wann tun könnte. Ob es noch mehr von meiner Sorte gibt, die das Objekt Buch oder auch Zeitung lieber in der Hand halten, als die einzelnen Wörter auf dem Bildschirm flimmern zu sehen? Mich ermüdet die Arbeit am PC, nicht nur meine Augen, auch meinen Geist.

 

Einige aus der Politik und dem Vorstand können das Archiv selber benutzen. Da braucht Schuster sich nicht zu bemühen. Ich frage: „Dr. Becker, zum Beispiel?“

„Sicher“, antwortet Schuster. Und nennt noch ein paar andere Namen.

„Dr. Spengler?“ Ich weiß nicht, warum ich das frage. Ich muss nicht ganz bei Trost sein. Schuster sieht mich seltsam an, antwortet aber nicht.

„Sicher der Chefredakteur“, sage ich, so als überlege ich laut, brauche aber keine weiteren Informationen von ihm.

„Und der stellvertretende Chefredakteur?“ leicht fragender Unterton. Schuster grinst verstehend und nickt mit dem Kopf.

„Kann sein.“

Also ja.

„Zeig mir die Räume!“ befehle ich ihm.

Einen Augenblick ist er zu verblüfft, um zu reagieren. Dann sagt er entschieden: „Das geht nicht, auf gar keinen Fall!“

Ich sage: „Ich werde in Zukunft sehr viel hier arbeiten. Die ‚Gedanken zum Tage‘ erfordern schnelles Einarbeiten in die unterschiedlichsten Themen. Ich werde kaum jedes Mal eine Woche darauf warten können, dass du mir die Unterlagen raussuchst.“

Mein Ton ist jetzt etwas hochnäsig, verächtlich. Er wägt ab. Sicher hat er längst gehört, dass ich der nächste stellvertretende Chefredakteur sein werde. Wenn es erstmal offiziell ist, muss er sowieso tun, was ich sage. Wahrscheinlich kommt ihm der Gedanke, dass es nicht verkehrt ist, wenn er sich gut mit mir stellt.

„Na schön“, gibt er nach, „komm mit.“ Ich denke, dass er ein Dummkopf ist, das zu riskieren. Und korrupt. Wie alle.

 

Die Räume hinter dem Leseraum sind lange, unübersichtliche Gänge, vollgestopft mit Regalen und nur spärlich beleuchtet. Hier soll sich niemand lange aufhalten. Wenn man gefunden hat, was man sucht, nimmt man es mit nach vorne, wo Schuster es registriert. Auch wenn Dr. Becker oder ein anderes Mitglied des Vorstandes...? Selbstverständlich.

 

Es ist alles höchst unübersichtlich. Keine Themenüberschriften an den Regalen. Nur Buchstaben und Zahlenkombinationen: die Signaturen. Sicher gibt es bei Schuster eine Aufschlüsselung dafür.

„Völlig unübersichtlich“, knurre ich.

„Mein Job“, sagt er.

Immerhin erkenne ich die Zeitschriften der unterschiedlichen Jahrgänge. Die Buchstaben KSTA und Zahlen: 47/48/49/50. Das ist eindeutig. Ich versuche zu erkennen, wie weit das zurückgeht. Aber es ist ein zu großes Durcheinander. Ich frage Schuster.

„Bis 2025 natürlich“, sagt er verwundert.  Dem Jahr, in dem unsere Regierung endgültig an die Macht kam. Lange vor meiner Geburt. Meine Mutter war damals fünfzehn Jahre alt, meine Großmutter – ich muss kurz überlegen – war etwa acht- oder neunundvierzig.

„Und was ist mit der Zeit davor?“ frage ich.

„Absolute Verschlusssache.“

Ich bemerke, dass er kurz mit den Augen nach links rollt und blicke in dieselbe Richtung, sehe eine unscheinbare Tür, verschlossen.

 

Ich sage: „Das ist alles sehr interessant, Schuster, eigentlich beneidenswert, dein Job.“ Er weiß nicht, was er darauf antworten soll, überlegt, ob ich ihn verarschen will, aber ich mache noch immer mein unschuldiges Gesicht, klopfe ihm jetzt anerkennend auf die Schulter, und er beschließt, mich für den seltsamen Typen zu halten, der ich augenscheinlich bin. Ich komme gut damit durch. Ich habe den Ruf der Kauzigkeit. Jetzt bald werde ich dazu die Macht des stellvertretenden Chefredakteurs besitzen. Sie werden sich von mir einiges gefallen lassen. Ein wunderbares Gefühl von Freiheit überkommt mich.

 

Eine Weile sitze ich dann in der Bibliothek und blättere in den alten Jahresübersichten herum. Ich merke, dass ich unkonzentriert bin. Etwas geht mir im Kopf herum, etwas, das ich hier nicht lösen kann. Ich verlasse die Bibliothek, um mein Büro aufzusuchen.

 

Die Aufzüge sind gläsern. Als ich nach oben fahre, bemerke ich, dass der direkt nebenan, der von oben kommt, im dritten Stock angehalten wird. Neugierig und wegen meiner eigenen kürzlichen Erlebnisse sensibilisiert, schaue ich hin und sehe grade noch eine Frau von hinten den Aufzug verlassen. Arena? Arena. Ist sie auch zu Dr. Becker gerufen worden? Es ist das erste Mal, dass ich direkt damit konfrontiert werde, mit dem Kontakt meiner Frau zum dritten Stock. Obwohl ich natürlich seit langem weiß, dass er bestehen muss. Ob sie Dr. Becker über unsere „Begegnung“ berichtet? Eigentümlicher Gedanke. Nach seinen direkten peinlichen Anspielungen neulich mir gegenüber halte ich es durchaus für möglich, dass er Arena ebenfalls darauf anspricht. Und so, wie ich sie jetzt kennengelernt habe, bin ich mir nicht sicher, ob sie nicht tatsächlich davon erzählen wird. Den Gedanken, dass Dr. Becker vermittels Kameraaufzeichnungen vielleicht längst darüber im Detail unterrichtet sein könnte, verdränge ich unmittelbar wieder.

 

In meinem Büro überlege ich mir, ob ich es nicht doch über den PC versuchen soll. Das Problem ist, dass sie es nachweisen können. Ich kann nicht einfach ‚Klon’ eingeben. Das ist ein verbotenes Wort. Ich würde erstens keine Antwort bekommen, das ist völlig sicher, und zweitens würde ich mich zu verantworten haben.

 

Genetik. Ich kann ‚Genetik‘ versuchen. Für einen Mann in meiner Situation, der ich bald Vater werde, der ich zudem ein besonderes Risiko eingegangen bin, um es zu werden, ist ja wohl nur allzu verständlich, dass ich mich informieren möchte. Ich könnte sogar von Pflicht reden, aber das könnte als Vorwurf verstanden werden. Brennendes Interesse ist besser. Ich verliere plötzlich alle Skrupel, jedes Gefühl für Angemessenheit. Ich will es wissen.

 

Ich tippe das Wort Genetik ein. Zu allgemein. Gene: „von griech. génos, Geschlecht, Gattung: Erbanlagen,“ und so weiter, Begriff schon im Jahr 1909 eingeführt, „die genetische Einheit der Vererbung eines Merkmals von einer Generation auf die nächste, später molekular definierte Einheit der Vererbung.“ Und so weiter, Genschäden, DNS, identische DNS, Zwillinge, genetische Veränderungen, Verdopplungen, Klonen.

 

Da steht es. Ich habe es nicht aufgerufen. Es ist von selber aufgetaucht. Klonen: „Ein bei Pflanzen und anderen Lebewesen seit dem Ende des 20. Jahrhunderts angewendetes Verfahren, aus einer beliebigen einzelnen Zelle (Sperma, Speichel, Haare, Haut etc.) Geninformationen zu gewinnen und durch Einsetzen in eine gesäuberte, entkernte Mutterzelle und Einpflanzen derselben in einen Aufzuchtkörper die identische Verdoppelung des Originals zu ermöglichen. Geschichte: Als 1999 erste Versuche am menschlichen Embryo angestellt wurden und gleichzeitig der Verdacht aufkam, dass man an einer Vermischung von menschlicher DNS mit solcher von Primaten experimentierte, schlossen sich die humanitär gesinnten Westeuropäischen Staaten sowie Nordamerika zusammen und beschlossen (2003) einen Stopp aller Versuche mit menschlichen Lebewesen, nicht aber mit Teilen derselben zu medizinischen Zwecken. Im Jahr 2013 schlossen sich viele Staaten der damaligen Dritten Welt sowie China und Russland dem Abkommen an. Unsere Regierung trat dem Pakt schon im Augenblick der Machtübernahme 2025 bei. Es ist nicht ausgeschlossen, dass kriminelle Regierungen und Vereinigungen an der Fortentwicklung künstlicher Menschen weitergearbeitet haben und irgendwo auf der Welt Klone bereits existieren. Klone sind unberechenbar und extrem gefährlich. Sie sind nicht als Mitglieder der menschlichen Gemeinschaft anzusehen. Sie sind durch keinerlei ethische, moralische, humanitäre oder soziale Grundsätze einer wie auch immer gearteten Gesellschaft verpflichtet. Jeder, der Kenntnis von der etwaigen oder auch nur vermuteten Existenz eines Klons erfährt, ist verpflichtet, die Regierung davon umgehend zu unterrichten und den Aufenthaltsort des Klons bekannt zu geben. Andere Mitbürger sind zu warnen. Äußerste Vorsicht ist geboten. Allerdings sind bisher in unseren Breiten keine Vorfälle bekannt geworden.“

 

Anhang: „Klonen zu medizinischen Zwecken, ebenso wie zur Erhaltung der gesunden menschlichen Rasse bei der Fortpflanzung: gezielte Eingriffe in die DNS sind nicht nur erlaubt, sondern ausdrücklich erwünscht zur Aufhebung und Vermeidung erblicher Defekte (wie verminderte Sehfähigkeit, Zuckerkrankheit, Herzfehler u.v.a.). Das Klonen einzelner Organe zum Ersatz erworbener Krankheiten ist allgemein üblich, wird aber noch nicht von sehr vielen Gesellschaften beherrscht. Hier hat sich unser Land vor allem in den letzten zwanzig Jahren hervorgetan und gehört heute weltweit zu den führenden Nationen, die dieses Verfahren anwenden. Siehe Organbanken.“

 

Unter ‚Organbanken‘ kann man einzelne Organe anwählen, muss den Grund der Störung angeben und den gewünschten Zeitraum für einen angestrebten Austausch. Das wird bereits sehr konkret. Aber kein Wort über das ‚Wie‘: wie klont man ein Herz, lässt man es im Reagenzglas schlagen, bis man es braucht, und vor allem wie kann man bestimmen, dass es ein Herz und keine Niere wird – oder kein rechtes Bein, denke ich schaudernd. Und immer wieder die Frage: wie lange dauert das, bis ein Organ groß genug ist, um eingepflanzt zu werden?

 

Warum habe ich niemals darüber nachgedacht? Warum nehme ich so vieles von dem, was um mich herum passiert, fraglos hin? Wer übernimmt eigentlich die Verantwortung für alles, was so passiert? Bisher war meine Antwort immer: Die Regierung. Aber ich habe keine Vorstellung davon, wer diese Regierung wirklich ist. In der Redaktion übernimmt der Vorstand die Realisierung der Wünsche und Vorschriften der Regierung.

 

Was ist draußen los? Ich denke an den Pöbel im Stadion, an die Menschen im Zoo: Wer setzt bei denen den Willen der Regierung durch? Verwundert denke ich: Sie selber. Sie machen einfach immer, was sie wollen, und das ist der Wille der Regierung. Und da sie immer nur die angenehmen Dinge tun, da sie sich sozusagen voller Vergnügen durchs Leben zappen, kümmern sie sich nicht darum, wer sich das Programm für sie ausdenkt. Was außerdem geschieht, nebenher, wen interessiert das schon. Und Verantwortung – das ist eigentlich ein Großmutterwort. Natürlich verwendet man es auch heute noch bei jeder Gelegenheit. Ich habe Schuster damit rumgekriegt, dass ich seinen Job verantwortungsvoll genannt habe. Einem Boten, der etwas vom vierten zum siebten Stock tragen soll, sagt man: ‚Ich gebe Ihnen die Verantwortung für dieses Päckchen‘. Das soll heißen: ‚Mach dich auf die Socken und verliere nichts‘. Es ist durchaus nötig, so etwas zu betonen, sie vergessen, noch während sie sich auf den Weg machen, ob sie es in den sechsten oder siebten Stock bringen sollen. Aber Verantwortung im Sinne einer Gesellschaft, deren Verlust meine Großmutter immer beweinte, ist etwas ganz anderes. Wenn im Stadion eine Keilerei ausbricht, ist niemand dafür verantwortlich. Wenn die gröbsten Schläger, wie es der Wunsch der Regierung ist, vor aller Augen eliminiert werden, ist das ihr eigenes Bier. Es geht niemanden etwas an. Niemand hätte so einem geholfen. Da die Überwachung des Nachbarn erwünscht ist und belohnt wird, passt man auf und meldet ihn, wenn er etwas Verräterisches tut. Was dann mit ihm geschieht, geht einen einfach nichts an.

 

Nicht, dass ich je jemanden angeschwärzt hätte. Auch Schröder hat das bestimmt nie getan. Mir ist aber bewusst, dass wir zu einer anderen Sorte Menschen gehören. Meine Großmutter würde sagen, dass wir zu der Sorte gehören, die Verantwortung für die Gesellschaft übernehmen müsste.

 

Das ist leicht gesagt. Wenn ich zum Beispiel anfinge nachzufragen, was es mit dem Klonen einzelner Organe auf sich hat – wer würde mir Auskunft geben? Kann man sich vorstellen, was passierte, wenn ich ungeheuerlicher Weise den ketzerischen Gedanken ausspräche, dass mir das Klonen von Einzelteilen nicht einleuchte, dass ich im Gegenteil vermute, man klone tatsächlich ganze menschliche Exemplare, und entsorge den Rest nach Verbrauch des angestrebten Organs? Damit würde ich ja behaupten, die Regierung tue in Wirklichkeit selbst, was sie nachdrücklich verboten und mit der Todesstrafe belegt hat. Mit einem Wort, wenn ich mich durch solche Überlegungen im Sinne meiner Großmutter gesellschaftlich verantwortlich zeigte, so glaube ich, muss jedem klar sein, dass ich mich in tödliche Gefahr begäbe. Das hat meine Großmutter nicht bedacht.

 

Ich kann mir vorstellen, dass sie trotzdem verlangt hätte, dass Menschen wie Schröder und ich Verantwortung zu übernehmen hätten.

 

Und Arena? Irgendwie scheint Arena im Zentrum der Verantwortung zu stehen. Ich bin mir nicht sicher, dass meine Großmutter Arenas Art von Verantwortung gebilligt hätte. Oder dass sie Arena besonders gemocht hätte.

 

Erklären kann ich das nicht. Es gibt keinen Grund, Arena nicht zu mögen. Meine Mutter war von ihr begeistert. Was zwischen uns geschehen ist, weiß niemand. Nicht einmal ich hätte ahnen können, dass das möglich war.

 

Einer plötzlichen Eingebung folgend verließ ich die Redaktion. Ich sagte dem Pförtner, dass ich eine private Besorgung zu erledigen hätte und gleich wiederkäme. Das war okay. Außerdem blinzelte ich ihm zu, um keinen Zweifel daran zu lassen, dass die Besorgung in Zusammenhang mit meiner Frau stand.

 

Ich nahm das Ausgangsbuch an mich und wollte mich eintragen.

„Geht schon in Ordnung“, sagte er, „lassen Sie sich nur einfach elektronisch erfassen, das reicht.“ Also hielt ich meine Uhr an die Schranke. Es war eine besondere Gunst. Es hatte mit ‚Vertrauen‘ zu tun, einfach mal eben so weg zu dürfen, ohne ausführlich zu dokumentieren, wohin man unterwegs war. Also konnte ich nicht darauf bestehen, das Ausgangsbuch in die Hand zu bekommen. Ein andermal.

 

Ich ging zum Neumarkt. Ich war voller Unruhe. Und voller Neugier und aufgewühlt. Ich wollte versuchen, diese Maria zu sehen, bevor Wallraf sie mir zeigte. Ich kann nicht sagen, was mich trieb. Nichts war mehr wie früher. Ich hatte sehr deutlich das Empfinden, dass die Dinge über mich hereinbrachen, ohne dass ich Einfluss nehmen konnte, dass ich im Grunde ein Spielball verschiedener Kräfte war, die ich nur zum Teil deuten und erkennen konnte. Da war einerseits mein ganz normales Leben, meine Existenz, die lange Zeit einfach vor sich hin geplätschert war ohne größere Ereignisse – und mit einem Mal war ich verantwortlich für die ‚Gedanken zum Tage‘. Ich war designierter stellvertretender Chefredakteur, ich hatte Karten für das Ov-Ov-Festival, wobei das schon gar nicht mehr besonders bemerkenswert schien, wenn man an die bevorstehende Beförderung dachte, oder daran, dass mein Lobgesang zu einer der offiziellen Hauptattraktionen dieses Abends werden sollte. Irgendwie hatten sich die Ereignisse überschlagen. Und dann Arena und das Zusammentreffen im Wasserturm. Jetzt, wo es hinter mir lag, wo keine unmittelbare Gefahr mehr für mich bestand, begannen die unangenehmen Eindrücke dieser Begegnung langsam zu verblassen und ihren Schrecken zu verlieren. Es blieb die Tatsache, dass ich Vater werden würde und dies von aller Welt als besondere Vergünstigung angesehen wurde. Ich machte mir keine Illusionen, es war der stellvertretende Chefredakteur, dem die Bewunderung galt und der das Privileg der natürlichen Zeugung genießen durfte. Es war normalerweise nicht erlaubt, deswegen war es ein Privileg. Und ein Privileg genoss man.

 

Es gab unzählige Schönheitssalons in den riesigen Neumarktarkaden. Vielleicht war es dumm, Maria ohne Hilfe finden zu wollen.

 

Ich dachte, dass alles, was geschehen war, ohne meine Einflussnahme geschah und irgendwie ohne direkten Bezug zu meiner Person. Es kam von wer weiß woher. Ich war eine Marionette in ihrem Spiel. Und Arena zog mit an den Schnüren. Also hatte alles vor zwei Jahren angefangen, als man mir nahegelegt hatte, Arena zu heiraten. Ob sie mich seit dieser Zeit beobachteten?

 

Ich sah einfach in jedes dieser Kosmetikgeschäfte hinein, erst von außen oder auch kurz von innen und guckte mir die Verkäuferinnen an. Ich hatte das Gefühl, dass sie alle gleich aussahen. Die meisten waren wunderschön, mit glatten Gesichtern. Sie hatten grundsätzlich schlanke Figuren, aber ausladende Hüften und ziemlich viel Busen. Sie waren fast alle rothaarig und hatten eine üppige Lockenpracht, in den meisten Fällen bis lang auf den Rücken fallend. In diesem Sommer war das die große Mode. Es wechselt fast jedes Jahr, manchmal blieb eine Mode aber auch zwei oder drei Jahre bestehen.

 

Ich gebe diesen roten Haaren keinen zweiten Sommer. Im nächsten Jahr sind sie wieder blond und nicht ganz so lang und lockig. Es hat sich als zu unpraktisch erwiesen. Arena hat mir das gesagt. Ich persönlich finde lange Haare ohnehin scheußlich, jedenfalls in dieser lockigen Üppigkeit. Sie fallen doch immer wieder aus, und man findet sie überall. Wenn man in den öffentlichen Verkehrsmitteln hinter einer Person mit langen Haaren steht, geschieht es oft genug, dass sie einem damit durchs Gesicht wischt. Das ist ekelhaft. Sie riechen auch. Der Geruch einer Person haftet in ihren Haaren. Gerüche können sehr aufdringlich sein. In diesem Jahr ist die Mode lang und rot, und ich bin froh, dass die Frauen in der Redaktion andere Standards haben.

 

Und dann Wallraf. Irgendwie versuche ich, unsere Begegnung nicht allzu sehr in mein Leben eindringen zu lassen. Aber das ist eine Illusion. Ich bin völlig verändert, seit ich ihn treffe. Ich bin Risiken eingegangen, die mich an den Rand meiner gesicherten Existenz, ja meines Lebens bringen. Auch das habe ich nicht selber herbeigeführt. Ich bin ein Spielball von Wallrafs Machenschaften.

 

Vielleicht war es mir deswegen so wichtig, Maria allein zu finden. Wenn sie mich beobachteten, müssten sie mich für besonders wählerisch halten. Oder sie ahnten, dass ich jemanden suchte. Ich musste vorsichtig sein. Ich blieb jetzt lieber ganz draußen und vertiefte mich in die Auslagen, versuchte, von da in das Innere zu blicken und ein Wesen ausfindig zu machen, das sicher dieselbe Kleidung trüge wie die anderen, sich aber in allem übrigen deutlich von denen unterscheiden würde.

 

Als ich mich dem zentralen Café näherte, in dem Wallraf und ich uns demnächst wegen Maria treffen wollten, sah ich einen besonders großen Salon, unmittelbar hinter dem zentralen Schnittpunkt auf der rechten Seite. Mir war sofort klar, dass ich hier hätte anfangen sollen zu suchen, statt meine Zeit mit den peripheren Geschäften zu vertun.

 

Ich sah sie durch das Fenster. Sie saß im hinteren Teil des großen Ladens und sprach freundlich mit einer Dame. Weitere Kundinnen wurden von anderen Verkäuferinnen bedient. Kaum ein Mann. Auch hier das gleiche Bild: Drei oder vier der typischen Rothaarigen, allerdings eine Blondine und, auffällig, eine mit sehr kurzen, rabenschwarzen Haaren. Sah aus, als trüge sie eine schwarze Lackkappe. Vielleicht war das die Mode von morgen. Maria mit ihrem glatten, gescheitelten, haselnussbraunem Haar, das sie, genau wie Wallraf es beschrieben hatte, im Nacken gebunden hielt, dessen Schwere bei einer Neigung ihres Kopfes dieser folgte und somit nicht straff zurückgehalten wurde, sondern weich ihr madonnengleiches Gesicht umspielte – Maria fiel auf und gleichzeitig ab im Vergleich mit ihren Kolleginnen. Ich versuchte, zu verstehen, warum ich diesen Eindruck hatte, und auch, ob alle anderen Menschen das ebenfalls so sehen würden wie ich.

 

Allein wegen ihrer Beziehung, ihrer ungewöhnlichen Liebe zu Wallraf – ich meine zu K1- stand zu vermuten, dass sie alles dazu tun würde, nicht aufzufallen. Vielleicht, wahrscheinlich sogar, lag das aber auch in ihrer eigenen Natur.

 

Natürlich war sie angezogen wie die anderen. Sie hatte ein weißes, verhältnismäßig eng anliegendes Kleid an, dessen Gürtel die Taille betonte und dessen vordere Knopfreihe oben offenstand. Das entsprach dem Outfit der anderen. Allerdings stand der Kragen bei Maria zwar offen, ließ aber lediglich ein langgezogenes Dreieck ihrer Haut frei. Kein bisschen Busen war zu sehen, während die anderen ihre Brüste halb preisgaben, indem sie einfach einen weiteren Knopf offenließen. Und sie hatten mehr Busen, und er war hochgeschoben. Maria hatte eine herrliche Figur. Man konnte es trotz der dezenten Aufmachung erahnen. Ehrlich gesagt, sprang mir diese Tatsache sofort in die Augen. Ich weiß nicht, ob sie überhaupt irgendeine Stütze für ihren Busen verwendete, ich glaube nicht. Als sie aufstand, um zu einem Regal zu gehen und ein Produkt herauszugreifen, wippten ihre Brüste ganz leicht, und ich konnte die Nippel sich im Kleid abzeichnen sehen. Sie hatte nicht so ausladende Hüften wie die anderen, war eher schmal gebaut, und der kurze Rock ließ ihre schön geformten Beine sehen.

 

Staunend stellte ich fest, dass sie perfekt war. Niemals hatte ich etwas Vergleichbares gesehen. Eine seltsame Erregung stieg in mir hoch, alle meine Sinne, meine Nerven waren aufgeregt, geradezu in Aufruhr geraten, mein Mund wurde trocken, und ich dachte, wenn ich jetzt da rein gehe, werde ich kein Wort hervorbringen und was dann. Verstohlen blickte ich zur Seite, ob man mich beobachtete. Nicht sie, irgendjemand, der vielleicht zufällig vorbeikam und meine unangemessene Reaktion mitbekam. Natürlich war das nicht der Fall, ich bin in letzter Zeit sicher überempfindlich. 

 

Sie war schöner, als ihre Kolleginnen. Sie war schöner, als jede Frau, die ich je gesehen hatte, schöner als jedes irdische Wesen, das ich mir vorstellen konnte. Und doch. Mir war klar, dass das auch an meiner Art zu sehen lag. Sie würde den anderen nicht unmittelbar als das besondere Wesen erscheinen, das sie war. Alle Mädchen hier waren jung, glatt, schön und gleich angezogen. Die Rothaarigen hatten auffallende Haare und Titten, die in die Augen sprangen. Die Schwarzhaarige zog die Blicke wegen ihrer Lackkappe auf sich. Außerdem hatte sie ein sehr betontes Hinterteil. Maria hatte alle diese besonderen Merkmale nicht, aber man registrierte ihre Schönheit, insofern gehörte sie dazu, fiel nicht aus dem Rahmen. Aber dann wandte man sich wahrscheinlich von ihr ab, weil die anderen Reize stärker waren. Genau das mussten sie beabsichtigt haben, K1 und sie. Das stille Glück, ihr Glück im Verborgenen, das niemand erahnt und wonach niemand gefragt hatte. Inmitten einer feindlichen Welt lebten sie völlig unbehelligt ihr eigenes Leben.

 

Ich versuchte, mich einigermaßen zu fassen und betrat den Laden. Die Schwarze kam auf mich zu. Ich hatte registriert, dass Maria mit ihrer Kundin bald an ein Ende kommen würde.

„Kann ich etwas für Sie tun?“ fragte die Schwarze und sah mich mit glühenden Augen an. Das gehörte wohl dazu. Ich antwortete freundlich: „Ich suche ein Geschenk für meine Frau, ich würde mich gern beraten lassen, es ist für eine besondere Gelegenheit.“

„Ein besonderer Duft, vielleicht?“ schlug sie vor. Ihre Stimme hatte etwas Rauchiges, in hohem Maße irritierend. Ich antwortete: “Daran habe ich auch schon gedacht. Sagen Sie – die Dame da vorn, ihre Kollegin, ob die mich bedienen kann, wenn sie frei ist, sie erinnert mich vom Typ her an meine Frau.“ Es war ein Wagnis, sicher ungewöhnlich, die eine gegen die andere austauschen zu wollen? Sie verzog keine Miene, als sei das die größte Selbstverständlichkeit von der Welt – und vielleicht war es das ja tatsächlich, und ich täuschte mich. Ich hatte ja auch wirklich nicht die geringste Erfahrung mit diesen Frauen. Dennoch setzte ich überflüssigerweise hinzu: „Sie ist kein besonders spektakulärer Typ, müssen Sie wissen.“ Dabei versuchte ich, etwas Anerkennendes in meinen Blick zu legen, als ich ihn einen Augenblick auf ihren Busen heftete, um ihn gleich darauf zu den Hüften herabgleiten zu lassen. Wahrscheinlich wirkte ich dabei höchst albern, aber irgendwie denke ich, dass alle Männer albern wirken, die sich so an einer Frau versuchen. Es kam darauf an, ob sie das merkte, ob sie es für albern halten wollte, oder ob sie es im Gegenteil als Reverenz an ihre Schönheit akzeptierte. Sie lächelte kaum merklich. Vielleicht hielt sie mich für einen ungeschickten Wichtigtuer. Aber sie lächelte und damit war die Sache ausgestanden.

„Zeta, hier ist ein Kunde für dich“, hörte ich sie sagen, und Maria blickte mich an.

 

Hellbraune Augen mit honigfarbenen Sprengseln. Ich fühle, dass nichts auf der Welt mehr existiert außer diesen Augen, die mich ganz umfassen und einschließen, die mich zu sich hinüberziehen, so dass ich mich selbst verlasse und ganz bei ihr bin. Freundliche, aufmerksame, entgegenkommende Augen, die aber doch eine Tiefe bewahren, an die sie niemanden heranlassen, eine Tiefe voller Traurigkeit, deren Grund Maria nicht kennt, aber ich. Es ist, als stünde sie mit ihrem freundlichen Blick vor sich selbst, vor einem Vorhang, hinter dem eine Düsternis herrscht, die sie verdecken will, verdrängen, die in ihrem Leben keinen Platz haben sollte; aber jetzt ist sie da.

 

„Als mich die Augen deines Großvaters zum ersten Mal anblickten“, so hatte meine Großmutter mir erzählt, „über die einfachen Platten eines Wirtshaustisches hinweg, an dessen verschiedenen Enden wir saßen, sprachen sie mich an und erzählten mir in ein paar Sekunden mehr, als dein Großvater es selber mit seinem Mund in Jahren getan hat. Mehr, als er je wusste, gaben sie von ihm in diesem kurzen Augenblick Preis, und sie fingen mich ein und ließen mich zurück mit dem Wunsch, immer und immer von ihnen so angesehen zu werden, mein ganzes Leben lang.“

 

Ich sehe, wie die honigfarbenen Tupfen zu tanzen beginnen, als lächele sie, und dann steht eine Frage in den Augen, und ich begreife, dass sie etwas zu mir gesagt haben muss, aber ich habe nichts gehört. Ich nehme mich zusammen und wiederhole, dass ich ein besonderes Geschenk für meine Frau brauche.

 

Gleichzeitig nehme ich ihren wunderbaren Duft wahr. Er berührt meine Nase und meine Sinne, er umfängt mich vielleicht intensiver noch als ihr Blick. Ich möchte meine Nase in ihr Haar tauchen, ihre Haut berühren, ihren Geruch aufsaugen in mein Bewusstsein. Genau das tue ich, natürlich ohne dass sie es merkt. Ich missbrauche sie mit meiner Nase. Gleichzeitig denke ich an Wallraf, der ihr ebenfalls nicht widerstehen konnte. Ich hasse ihn für das, was er getan hat. Aber ich weiß, dass ich es selber tun würde.

 

11

 

Zeta. Sie nannten sie also Zeta. Auch einer von diesen modernen, klangvollen, nichtssagenden Frauennamen. Wer mochten ihre Eltern sein? Hatte sie überhaupt Eltern? Wallraf hatte nichts über ihren Hintergrund erzählt. Ob man bei ihrer Geburt auf die richtige Genkombination geachtet hatte? Sie war ganz offensichtlich nicht, wie ihre Kolleginnen, nach dem allgemeinen Musterbuch zusammengestellt worden. Wer immer sie hervorgebracht hatte, hatte einen ausgesucht guten Geschmack bewiesen. War es möglich, dass ihre Eltern, wie meine eigenen, der Natur weitgehend freien Lauf gelassen hatten? Dass sie vielleicht lediglich das Geschlecht bestimmt und darauf geachtet hatten, dass sich keine wesentlichen Krankheiten in ihrer Tochter einnisteten? Oder ob man sie auf natürlichem Wege, so wie Arena und ich? Nein, ausgeschlossen, Maria war etwa so alt wie ich. Damals wäre eine unkontrollierte Zeugung keinesfalls erlaubt worden.

 

Aber sie war so schön, so über alle Maßen – lieblich. Sanft, wie Wallraf sie beschrieben hatte und freundlich, liebenswürdig. Ich hätte ihr stundenlang zuhören können, als sie mir die verschiedenen Düfte beschrieb.

„Was bevorzugen Sie selber?“ fragte ich sie, denn der Duft, der von ihr ausging, war frisch und zart und eigenwillig. Jetzt, da ich ihn einmal in mich aufgesogen hatte, würde ich ihn unter Tausenden wiedererkennen. Er passte gut zu Maria. Er war wie gemacht für sie.

„Jede Frau hat ihren eigenen Grundduft, wissen Sie“, sagte sie und lächelte mich zaghaft an, „etwas, das zu mir passt, muss nicht zu ihrer Frau passen. Es hat mit der Haut zu tun und mit den Farben. Beschreiben Sie mir Ihre Frau.“

„Sie hat Haare wie Sie, antwortete ich, „das heißt, sie sind heller, aber auch glatt; ihre Augen“ - beinahe hätte ich gesagt: ‚sind voller honigfarbener Sterne‘, konnte mich aber gerade noch zurückhalten - „sind blau, eisblau.“ Eisig blau. Kalte, wache, eisig blaue Augen. Augen, die durchdringen, einen warnen, fernhalten, nicht einladend umfassen, nicht einmal, wenn...

„Sie hat einen sehr schönen, hellen aber warmen Hautton“, fuhr ich fort und blickte auf Marias bloße Unterarme. „Mit langen, goldfarbenen Härchen, die einen schimmernden Flaum bilden und über die man sanft hinweg streicheln möchte, so dass sich ihre Haut leicht zusammenzieht.“ Erschrocken hielt ich inne, weil mir bewusst wurde, dass ich die Frau vor mir beschrieb und das, was ich mit ihr gern getan hätte. Eine solche Beschreibung war unangebracht und musste mein Gegenüber peinlich berühren, musste Verlegenheit bei jedem hervorrufen, der Zeuge solcher vermeintlich intimen Details wurde. Wieder trafen sich unsere Blicke. Marias Augen waren eine Spur dunkler geworden, und die Traurigkeit, die die ganze Zeit in ihnen geflackert hatte, trat für einen Augenblick in den Vordergrund. Sie blickte schnell weg und bemerkte leise: „Nun, Sie kennen Ihre Frau, Sie werden am besten wissen, was zu ihr passt. Ich lasse sie einfach an einigen Düften riechen, und dann entscheiden Sie.“

„Bitte“, sagte ich leise und eindringlich: „Ich brauche keine Düfte auszuprobieren. Ich habe gefunden, was ich suche. Geben Sie mir das Parfüm, das Sie selber benutzen. Bitte.“ Sie schien irritiert wegen der unverständlichen Zudringlichkeit mit der ich sprach. Dann dachte sie gewiss, dass es ein Parfüm war wie jedes andere auch. Warum sollte ein Kunde nicht dieses bevorzugen.

„Gut“, sagte sie deshalb und holte einen schlichten Flakon in einer weißen Verpackung mit einem goldenen Logo.

 

Ich hielt meine Uhr unter den Schalter, als ich zurückkam. Keine anderthalb Stunden. Das Päckchen trug ich wie eine kleine Trophäe vor mir her. Der Pförtner sah auf den Aufdruck und grinste.

 

Aus dem Nichts tauchte Schröder auf. „Oh, du willst Arena überraschen“, sagte er mit Blick auf das Päckchen. Ich nickte, mir war nicht sonderlich Wohl in meiner Haut. Jetzt, da ich erreicht hatte, was ich wollte, kam mir seltsam vor, was ich getan hatte. Andererseits, warum sollte ich meiner Frau keine Geschenke machen. Weil du das noch nie getan hast, kam die Antwort aus den Tiefen meiner Seele. Aber es ist ein sehr persönliches Geschenk. Eben. In einer sehr persönlichen Situation. Du hast Arena seitdem nicht mehr gesehen. Ein Grund mehr, dachte ich trotzig.

 

Gleichzeitig fragte ich mich erschreckt, ob ich sie wirklich wiedersehen und ihr das Parfüm überreichen wollte in Anspielung auf das, was geschehen war. Ich fühlte, wie mir der Schweiß langsam auf die Stirn trat, und die Hand, die das Päckchen hielt, wurde feucht. Laut sagte ich zu Schröder: „Ich dachte, ich mache ihr eine kleine Freude. Sie wird es in der nächsten Zeit ja nicht immer leicht haben, so eine Schwangerschaft...“ Ich brach ab. Schröder stand immer noch vor mir. Ich war sicher, dass er meine schwitzende Hilflosigkeit bemerkte. Etwas wie Mitleid zuckte durch die Grimasse, die er schnitt. „Vielleicht hat Arena auch eine Überraschung für dich“, sagte Schröder und hob grüßend die Hand als er weiterschlurfte in den Aufenthaltsraum.

 

An diesem Abend wartete ich auf Arena. Schröders Worte hatten mich tief beunruhigt. Ehrlich gesagt, hatten sie mich ins Mark getroffen. Es war eine deutliche Warnung, anders konnte ich es mir nicht erklären. Etwas ging hinter meinem Rücken vor, von dem ich mal wieder nicht das Geringste ahnte. Ich trat auf meinen kleinen Balkon und sah über den Fluss. Es war bereits fast dunkel. Ein beleuchtetes Festschiff schwamm vorbei. Sicher würde es an der Deutzer Brücke festmachen. Dann war die Party vorbei.

 

Was tat Arena so spät abends in der Redaktion? Bei allem Verständnis für ihren Eifer und ihren Ehrgeiz, das war im Grunde nicht mehr mit normalem Verhalten zu erklären. Schröder wollte mich warnen. Seit unserer Begegnung im Wasserturm hatten wir kein Wort mehr miteinander gesprochen, waren uns nur einmal morgens kurz begegnet, als sie bereits das Haus verließ, während ich noch frühstückte. Sie hatte mir eilig zugenickt und war gegangen. Wich sie mir aus? Warum? Weil sie bekommen hatte, was sie wollte? Was, wenn es nicht geklappt hatte, wer sagte denn, dass es immer beim ersten Mal klappen musste? Soweit ich wusste, war auch das einer der Gründe für die Reagenzglas Methode, dass sie meistens klappte. Und man nicht erst tausend vergebliche Versuche unternehmen musste. Ein sehr unangenehmer Gedanke. Andererseits war ich irgendwie sicher, dass sie den Zeitpunkt optimal gewählt hatte.

 

Sie war bei Dr. Becker gewesen. Na und? Das war ich auch. Mehrmals seit unserer ersten Begegnung. Er sprach jedes Mal kurz mit mir über die ‚Gedanken zum Tage‘, die zu seiner Zufriedenheit ausfielen, gab mir das Thema für den folgenden Tag, beziehungsweise ließ mich seit neuestem selber einen Vorschlag machen, und dann gingen wir wieder auseinander. Kein Wort mehr von Arena.

 

Ich hatte das sehr deutliche Gefühl, dass die Erprobungsphase noch nicht abgeschlossen war und sicher noch einige Zeit dauern würde. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das Verhältnis zwischen dem Geschäftsführer und dem stellvertretenden Chefredakteur genauso wäre, wie zwischen hochstehendem Chef zu deutlich untergebenem Mitarbeiter. Wenn ich an Dr. Spengler dachte, dann musste ich annehmen, dass sein Ton Becker gegenüber ein deutlich anderer gewesen wäre, als der, den ich mir herausnehmen konnte. Vielleicht lag es an mir? Vielleicht war ich zu lange zurückhaltend, zurückgezogen, hatte zu sehr versucht, mich eher außerhalb der Gesellschaft zurechtzufinden, als dass ich meinen Platz in ihr gesucht hätte. Was Arena mir immer vorgeworfen hat. Und jetzt? Warum schien sie mir auszuweichen, seit ich den Erfolg verbuchen konnte, auf den sie so lange gewartet hatte? Oder war etwas schiefgelaufen?

 

Ich hörte, wie die Tür aufging und sie den Vorraum betrat. Es war fast Mitternacht. Einen Augenblick zögerte ich, ob ich sie wirklich ansprechen sollte, aber dann entschloss ich mich und öffnete die Tür meiner Einheit. Etwas wie Erschrecken spiegelte sich in ihren Zügen, allerdings nur für einen sehr kurzen Moment, und ich hätte nicht sagen können, ob das von meinem unerwarteten Auftritt herrührte oder ob etwas anderes dahinter steckte.

„Hallo“, grüßte ich, „kann ich dich einen Augenblick sprechen?“ Abweisung in ihrem Blick, in ihrer ganzen Haltung.

„Ich bin müde“, sagte sie. Selbst jetzt, mitten in der Nacht, sah sie aus wie aus dem Ei gepellt. Wo immer sie gewesen sein mochte, sie hatte auch jetzt ihre normale Alltags-Arbeitskleidung an, ein einfaches Kostüm, allerdings aus einem ziemlich edlen Stoff, würde ich sagen, aus einem sehr dunklen Blauton, dazu eine fast silberfarbene Bluse. Stand ihr ausgezeichnet. Während ich das dachte, fiel mir auf, dass ich ähnlich auf die gelungenen Formen eines Autos reagiert hätte oder eines Möbels. Die äußere Form eines Gebrauchsgegenstandes war mir immer wichtig. Natürlich kommt es bei einem Auto vor allem auf die Leistung an, klar, aber ich freue mich, wenn sie eine neue, noch schnittigere Form erfinden, und ich achte zu allererst darauf.

„Kann ich mir denken, kommst du jetzt erst aus der Redaktion?“

„Besprechungen dauern oft ewig, das weißt du doch.“ Ich dachte, dass ich niemals eine Besprechung hatte, die länger als eine halbe Stunde dauerte. Gleichzeitig fiel mir ein, dass ich als stellvertretender Chefredakteur sicher Besprechungen würde abhalten müssen, die sehr viel länger dauern würden.

 

In diesem Augenblick wurde mir klar, dass es eine Falle sein musste: Ich war gar nicht in der Lage, solcherart Besprechungen abzuhalten. Sie bereiteten mich auch gar nicht darauf vor. Sie ließen mich die ‚Gedanken zum Tage‘ schreiben, wie ich vorher meine Schönschreiberei betrieben hatte. Sie gaben mir Themen vor, die dieselben waren, wie seit Jahren. Ich variierte moralische, politische, soziale Ergüsse der vorgeschriebenen Ansichten. Das war mir in all den Jahren in Fleisch und Blut übergegangen. Dr. Becker hatte kaum etwas zu beanstanden gehabt. Dann ließen sie mich selber auswählen und gaben damit vor, mich nach und nach in die Selbständigkeit zu führen. Dabei hatte ich mich verraten. Ich muss wahnsinnig gewesen sein, den Zoo vorzuschlagen. Und Arena wusste von alledem. Sie ließ mich bewusst in ihre Fallen tappen, hielt sich so weit wie möglich von mir fern. Blieb zu fragen, warum um alles in der Welt ich mit ihr in den Wasserturm musste.

„Ich habe ein Geschenk für dich“, sagte ich. „Wir sehen uns in letzter Zeit so selten, aber ich wollte...“ ich stockte. Was klang besser: ‚mich bei dir bedanken‘, ‚die Bedeutung der Gelegenheit würdigen‘? Ich sagte: „Dir eine Freude machen.“ Sie stutzte, überlegt kurz, nickte mit dem Kopf und war bereit, mir zuzuhören.

 

Wir setzten uns einen Augenblick. So wie wir vor der Begegnung im Wasserturm gesessen hatten. Es fehlte nur der Wein. Ich stellte das Päckchen vor sie hin.

„Ich hoffe, es gefällt dir.“ Auf jeden Fall sah ich, dass ihre Augen sich weiteten, wie in Vorfreude, in angenehmer Überraschung. Aber sie griff nicht direkt danach.

„Was ist es?“

„Mach es auf.“

Da erst nahm sie es zur Hand, ahnte natürlich anhand der Verpackung, worum es sich handelte und wickelte vorsichtig das Papier ab. Skeptisch sah sie auf den Karton, öffnete ihn und nahm den Flakon heraus. Sie zögerte, ob sie auch diesen aufmachen sollte, hielt inne, roch an der Flasche, verzog das Gesicht. Ich wusste nicht, ob ich hoffen sollte, dass ihr der Duft gefiel. Gleichzeitig kam mir der Gedanke, dass es unerträglich sein würde, Marias Geruch an einer anderen Frau, gar an Arena wahrzunehmen. Ich hatte einen Vorwand gebraucht, um mit Maria zu sprechen. Ich hätte es dabei belassen sollen. Warum hatte ich ausgerechnet dieses Parfüm gekauft, wusste ich nicht, dass die beiden Frauen unvereinbar waren. Inkompatibel. Wie unter Zwang sagte ich: „Du musste es aufmachen, sonst kannst du es nicht wirklich riechen.“ Sie öffnete den Flakon, schnupperte, sagte: „Das ist nicht meine Sorte“, und machte ihn wieder zu. Ich war unendlich erleichtert und sagte: „Ich tausche es um.“ Aber ich wusste nicht, welches ihre Sorte war.

„Was hättest du gern?“ Sie sah mich spöttisch an.

„Weißt du nicht, welches Parfüm ich benutze?“ Ich verneinte.

„Ich bin nicht sehr geschickt in solchen Dingen.“

„Und wie bist du auf dieses gekommen?“

„Ich habe mich beraten lassen.“ Hätte ich das nicht sagen sollen? Wussten sie es ohnehin? Es schoss mir durch den Kopf, dass ich Maria in Gefahr brachte. Aber nein. Ich war zum ersten Mal in einen Kosmetiksalon gegangen. Ich war Maria nie im Leben begegnet, Maria hatte keine Ahnung, wer ich war. Und Maria hieß Zeta.

 

„Ich dachte nach allem... ich hätte irgendwie reagieren sollen auf... du warst nie da... ich wollte.“ Hilflos suchte ich nach Worten, einer Erklärung, irgendeiner Verbindung zu Arena, die mir bestätigt hätte, dass alles war wie immer, dass meine Vermutung, sie arbeite gegen mich, nicht stimmte, dass ich nicht bereits mitten in meiner selbstverschuldeten Misere steckte. Aber sie nahm mein Geschenk nicht an. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Trotzdem hüpfte mein Herz unsinnigerweise vor Dankbarkeit, dass sie es nicht getan hatte. Sie hatte Marias Duft nicht angenommen. Es wäre einer Entweihung gleichgekommen.

„Wenn du mir eine Freude machen wolltest“, sagte Arena kalt, „wäre es das mindeste, dass du mir das Produkt schenkst, das ich immer benutze.“

„Wie beschreibt man den Duft seiner Frau, wenn man den Namen des Parfüms nicht kennt?“ verteidigte ich mich, als sei da noch etwas zu machen.

„Utopie“, sagte sie und stand auf. Sie sprach es französisch aus. Ü-to-pie. Es ist sehr seltsam, wie manche Dinge sich halten. Während die Sprache der Wissenschaft, die Sprache der Gesellschaft natürlich Englisch ist und viele Begriffe unseres täglichen Sprachgebrauchs kaum mehr Deutsch zu fassen sind: fast Food, Top dog, Mail etc., ist die Sprache der Schönheit, die Sprache der Frauen, die Sprache der Liebe, was man allgemein darunter versteht, immer noch, wie im 20. Jahrhundert, vom Französischen geprägt, obwohl diese Sprache im internationalen Vergleich sonst kaum mehr eine Rolle spielt.

„Du weißt eine ganze Menge nicht“, sagte sie noch und verschwand in ihren eigenen vier Wänden.

 

Dieses Verhalten kann mich nach allem nicht mehr überraschen, aber ich denke, das war es, was Schröder meinte. Der Bruch. Ich weiß, dass ich sehr beunruhigt sein sollte. Tief im Innern bin ich es natürlich auch. Und dennoch überwiegt ein Gefühl grenzenloser Freude alles andere. Ich nehme den geöffneten Flakon an mich, falte das Papier sorgsam zusammen. Ich werde es ihr zurückbringen. Ich habe einen Grund – einen Vorwand, sie noch einmal aufzusuchen. Ich muss verrückt sein. Aber ich kann nicht anders. Ich werde es tun. Und wenn ich sie gefährde? Die Angst um Maria ist plötzlich stärker als die Angst um mein eigenes Leben. Ich rieche an dem Flakon.

 

Schuster ist mürrisch. Ich habe ihn hin und her geschickt. Er hat keine Lust mehr. Er sucht die Dinge, die ich ihm nenne, in seinem PC. Er hat natürlich ein eigenes Programm. Dann steht er auf und holt mir das Verlangte. Ich sehe ihm über die Schultern, habe schnell begriffen, wie sein Programm funktioniert. Wenn er die Bücher und Zeitungen holt, ist er manchmal zehn Minuten weg, ab und zu auch länger. Vielleicht muss er tatsächlich so lange rumsuchen, vielleicht will er mich nur ärgern. Ich merke mir den letzten Stand auf dem Bildschirm und gebe, als er wieder einmal in den hinteren Räumen verschwindet, den Begriff ‚Klon‘ ein. Die Antwort kommt unmittelbar: Erfasst: 1336 Titel, und darunter: GESPERRT. Aber es gibt ein PASSWORD, um die Sperrung aufzuheben, das ich natürlich nicht kenne. Ich gehe zum Ausgangspunkt zurück.

 

Als Schuster zurückkommt, frage ich ihn, ob er auch alle Zeitungsbestände vor 2025 erfasst hat.

„Selbstverständlich“. Ob er mir rausfinden kann, wann das mit den Organbanken angefangen hat. Wir sind total fortschrittlich in dieser Beziehung, keine andere Regierung hat es so weit gebracht. Aber es ist ja immer interessant zu sehen, wo die Anfänge liegen, von wo ab zum Beispiel unsere Regierung bei gleichem Stand der Wissenschaft neue Wege gegangen ist, die den Fortschritt schließlich herbeigeführt haben. Es wäre also interessant zu erfahren, wie die Lage vor Antritt der Regierung ausgesehen hat. Trotz der Dicke von Schusters Brillengläsern sehe ich, wie sich etwas Aufmerksames, Lauerndes in seinen Blick schleicht. Natürlich ist das ein brisantes Thema. Andererseits gibt es Organbanken, das weiß jedermann. Und wir sind führend auf diesem Gebiet, keine Frage. Es ist ein Thema für den Lobgesang, sogar ein sehr wichtiges, denke ich, es betont die Überlegenheit unseres Systems auch international.

 

Schuster gibt das Wort ‚Organbanken‘ ein. Ich kann nicht so schnell sehen, wie viele Eintragungen, weil ich abgelenkt werde von der Bemerkung: Vor 2025: 11 Titel, GESPERRT.

„Immerhin“, sage ich, „elf Titel. Kannst du mir die holen?“ Er schüttelt den Kopf. Er braucht eine Sondergenehmigung.

„Lass mal“, sage ich, „die besorge ich mir von Dr. Becker persönlich.“

„Viel Glück“, sagt er. Klingt das ironisch?

Für den Rest des Morgens belasse ich es bei den Sachen, die er mir besorgt hat und gebe vor, zu arbeiten.

 

Es ist wahrscheinlich langsam an der Zeit, den Lobgesang zu strukturieren. Ich habe jetzt genug Material zusammen. Ohnehin werde ich nichts Neues sagen. Ich wundere mich schon die ganze Zeit, warum man dieser Hymne so sehr viel Bedeutung beizumessen scheint. Was könnte ich sagen, was nicht schon tausendmal gesagt worden ist? Natürlich, am Anfang war ich zuversichtlich, dass es auf das Wie ankäme, nicht so sehr auf das Was. Ich habe wirklich geglaubt, dass es einen Unterschied macht. Schließlich war und bin ich mit Leib und Seele Schönschreiber. Es ist auch gar keine Frage, dass sich der Stil der ‚Gedanken zum Tage‘ sehr verändert hat, seit nicht mehr Dr. Spengler dafür verantwortlich ist, sondern ich. Ich habe bereits zahlreiche Komplimente dafür bekommen. Ich weiß natürlich, dass niemand es wirklich zum Ausdruck bringen würde, wenn er meine Arbeit schlechter fände als die von Spengler. Aber ich glaube, bisweilen tatsächlich Anerkennung herauszuhören aus dem, was man mir sagt, und ganz allgemein ist klar, dass ich anders schreibe. Ich bin anders. Ich war immer schon anders.

 

Ich hebe den Kopf und blicke in die Ferne, in der ich meine Großmutter sehe. Sie nickt mir wohlwollend zu. Sie streicht mir über den Kopf. Sie sagt: ‚Mein kleiner Böll‘ – auch sie nannte mich nie anders als Böll, aber sie sagte immer: ‚Mein kleiner Böll‘ – ‚ich habe große Hoffnung, wenn ich dich beobachte, irgendwie flößt du mir Hoffnung ein‘. Ich habe damals nicht verstanden, was sie meinte, aber ich habe sehr wohl gespürt, wie gern sie mich hatte und natürlich habe ich ihre Gefühle erwidert.

 

Heute denke ich, dass sie bei aller Skepsis, die sie unserer Welt entgegenbrachte, voller geheimer Genugtuung sah, dass nicht alles perfekt war, dass trotz aller Bemühungen der Regierung nicht alles so funktionierte, wie sie es wollten. Sie sah, dass ihr eigener Sohn und ihre Schwiegertochter vollständig auf die neue Gesellschaft und ihre Errungenschaften abfuhren, und ich glaube, das ängstigte sie. Obwohl mein Vater sie entgegen dem ausdrücklichen Wunsch der Regierung leben ließ, bis sie eines natürlichen Todes starb.

 

Und dann war ich da. Und ich war anders. Ich war eher wie sie selber. Natürlich war ich mehr noch als meine eigenen Eltern von Anbeginn meines Lebens an von unserer Gesellschaft geprägt. Viele Dinge, viele Einstellungen zum Leben wurden uns in der Schule mitgegeben, davon habe ich mich nie frei machen können oder wollen, denn ich wollte sicher nie anders sein als meine Schulkameraden. Aber ich hatte so eine Großmutter, die die anderen nicht hatten, und ich hörte auf das, was sie mir zu sagen hatte. In manchem bot sie mir eine Alternative. Nicht, dass ich mich je getraut hätte, ihre Ansichten weiter zu verfolgen oder etwa in die Diskussion zu werfen. Aber ich hörte ihr zu, aufmerksam, wissbegierig. Das muss sie getröstet, mit eben der Hoffnung angefüllt haben, von der ich erzählt habe. Vielleicht war es das Schönschreiben, was mir in all den Jahren geholfen hat, das Schizophrene der unterschiedlichen Welten, mit denen ich konfrontiert war, zu bewältigen.

 

Vielleicht ist es das: mein ganzes Leben lang habe ich nichts dabei gefunden, in zwei Welten zu leben, die nicht nur nichts miteinander zu tun hatten, sondern die unvereinbar waren. Deswegen konnte ich all die Jahre Schönschreiben in einer Redaktion, die sehr streng alle Regeln unserer Regierung vertrat. Deswegen konnte ich eine Frau wie Arena heiraten,  die ich nicht liebte, wobei Liebe in meinem bisherigen Leben keine wirkliche Bedeutung gehabt hatte, mit der ich gleichwohl bereit war, meinen Samen zu vermischen, um Nachkommen zu zeugen, wie das normalerweise von uns erwartet wurde. Deswegen kam mir niemals der Gedanke, dass das ein unpassendes Match war zwischen einer so ehrgeizigen Frau und einem harmlosen Schönschreiber, dessen Karriere bereits am Endpunkt aller Wünsche angelangt schien, als er sie heiratete. Und deswegen, schließlich, bin ich das Wagnis eines Zusammentreffens mit Wallraf eingegangen. Irgendwie muss ich trotz aller Angst geglaubt haben, ich könne nicht wirklich entdeckt werden.

 

Wallraf gehört einer anderen Art Leben an. Wallraf gehört in die Welt der Erinnerungen an meine Großmutter, Wallraf, das sind die Gedanken, denen ich im Dom nachhänge. Im Grunde habe ich immer schon eine Art Doppelleben geführt. Ich bin nie aufgefallen damit. Niemand, mit Ausnahme vielleicht von Schröder, würde je vermuten, dass ein anderer Böll hinter dem existiert, der für alle sichtbar ist. Und auch bei ihm bin ich mir natürlich nicht sicher. Bei ihm spielt es aber keine Rolle. Denn Schröder hat noch immer seinen Weg in mein Verständnis gefunden.

 

Aber jetzt waren sie vielleicht doch dahintergekommen? Und jetzt gab es Maria.

 

Ich versuchte noch einmal alles zusammen zu fassen: Aus welchen Gründen auch immer Arena sich von mir entfernt hatte: ich war immer noch derjenige, der die tägliche Kolumne schrieb. Ich sollte auf dem Ov-Ov-Festival zum stellvertretenden Chefredakteur ernannt werden, ich würde die Hymne vorlesen, ich würde von da ab ein geachtetes, sogar in gewisser Weise mächtiges Mitglied unserer Redaktion sein. Ich würde Vorteile und Vergünstigungen genießen, die die anderen nicht hatten, und das würde schon auf dem Ov-Ov-Festival anfangen. Meine Frau würde gut daran tun, sich meines Wohlwollens zu versichern. Vielleicht würde ich auf sehr vertrautem Fuß mit Dr. Becker stehen.

 

Ich merkte, wie Schuster ab und zu zu mir herüber starrte. Solche wie der würden vor mir auf die Knie gehen, dafür wollte ich sorgen.

 

Sie konnten nichts von Wallraf mitbekommen haben, es war einfach unmöglich. Ich brauchte mir keine Sorgen zu machen. Es passte nicht zusammen.

 

Als ich die Bibliothek verließ und flüchtig zu Schuster rüber grüßte, sah ich die Kamera. Sie war so angebracht, dass der Eingang mit Schusters Arbeitsplatz damit überwacht werden konnte. Wahrscheinlich aber war sie schwenkbar und konnte bei Bedarf den ganzen Raum erfassen. Na, wenn schon, was hatte ich groß Auffälliges getan. Es gelang mir allerdings nicht, mich vollständig zu beruhigen.

 

An diesem Tag wartete ich bis nach Dienstschluss, ehe ich zum Neumarkt eilte. Ich arbeitete etwa eine Stunde länger, um nicht aufzufallen. Außerdem konnte ich später noch einmal in Ruhe in die Redaktion zurückkommen. Ich konnte mich aber auch dem allgemeinen Bildungsprogramm anschließen. Vielleicht sollte ich das machen: Wiederkommen und in der hintersten Reihe einem Vortrag lauschen. Hinterste Reihe, eher allein, nicht mit den anderen zusammen, schon mal so tun, als kontrolliere man den Ablauf der Angelegenheit, als nähme man zur Kenntnis, wer alles da war. Spengler-Autorität. Die da oben mochten denken, was sie wollten.

 

Als ich mich den großen Galerien näherte, kam mir der schreckliche Gedanke, sie könnte vielleicht nicht im Geschäft sein, aus welchen Gründen auch immer. Der ihr turnusmäßig zustehende freie Tag, Krankheit, Urlaub. Oh Gott, vielleicht hatte man ihr etwas angetan. Ich rannte fast, ohne auf meine Umgebung zu achten.

 

Wieder konnte ich sie durch das Schaufenster sehen. Sie war damit beschäftigt, irgendetwas aus Kartons in Regale zu packen. Die Schwarze bediente einen Menschen, der auf ihre Reize offensichtlich eher ansprang, als ich das getan hatte. Fast unbemerkt trat ich in den Laden und an Maria heran. Sie erschrak ein kleines bisschen, als sie mich wahrnahm, aber sicher nur, weil ich so plötzlich dastand. Dann erkannte sie mich und ließ mich das mit einem kleinen Lächeln spüren.

„Guten Tag“, grüßte sie mich, „mochte Ihre Frau den Duft?“ Den Duft. Ihren Duft, deinen Duft. Ich sog sie in mich ein, wie ich es gestern erst getan hatte, wie ich heute Nacht an dem Flakon gerochen hatte, um mich an sie zu erinnern. Es hatte funktioniert, aber es war ja nicht im Entferntesten dasselbe wie jetzt, da ich vor ihr stand. Wie hatte sie gesagt: jede Frau hat ihren eigenen Grundduft. Marias Grundduft. Ich war versucht, mich ganz nah zu ihr herüber zu beugen, um an ihr zu riechen.

 

Ich bemerkte ihre Verwirrung und antwortete schnell: „Leider nicht. Leider hatte ich völlig vergessen, wie das Parfüm meiner Frau heißt, jetzt weiß ich es, ich würde das gern umtauschen.“

„Kein Problem“, lächelte sie freundlich, „das heißt natürlich, wenn Sie die Originalverpackung noch haben.“ Ich gab ihr das Päckchen. Sie sah, dass es geöffnet war.

„Oh“, sie schien betrübt, „Sie haben es geöffnet.“

„Meine Frau hat es geöffnet, um zu sehen, ob ihr der Duft gefallen könnte, obwohl es nicht ihr übliches Parfüm – aber es hat ihr nicht gefallen, sie ist ein anderer Typ.“

„Ich weiß nicht, ob wir das zurücknehmen können, wenn es schon aufgemacht worden ist, die Versiegelung, ich hoffe, Sie haben Verständnis.“

„Utopie“, bemerkte ich, ohne richtig darauf zu achten, was sie mir sagen wollte. „Meine Frau benutzt Utopie‘“.

„Ah ja.“

 

Maria wendete sich zu einem Regal in der Nähe und holte Arenas Parfüm, um es mir zu geben. Ich erkannte den Flakon wieder, und ich erinnerte mich sogar vage daran, wie Arena roch.

„Es ist ganz in Ordnung“, sagte ich verloren in Erinnerung an Arenas Gegenwart, die mir doch eigentlich immer angenehm gewesen war, obwohl sie mich nie überwältigt hatte.

„Oh ja“, hörte ich Marias Stimme, eine wunderbare Stimme, die aber jetzt den konventionellen Ton eines Verkäuferinnengesprächs angenommen hatte. „Utopie ist ein sehr voller Duft, im Augenblick sehr beliebt bei den Damen.“ Wahrscheinlich war es das führende Parfüm bei allen Frauen, die wie Arena am Puls der Zeit sein wollten.

„Und ihres?“ fragte ich und sah sie an.

„Wie meinen sie das?“ fragte sie erschrocken zurück, weil das eine Art Konversation zu werden begann, die sie, wie ich sehr wohl begriff, lieber nicht mit einem Fremden führen wollte.

„Ich meine, ist es auch beliebt, so im Allgemeinen?“

„Nun, es ist nicht unbeliebt“, begann sie und fasste sich wieder, indem sie den Verkaufston anschlug. „Wir haben es schon lange im Sortiment, es ist kein neuer Duft, eher ein bisschen altmodisch, vielleicht, aber es gibt immer noch Kundinnen, die danach fragen.“

„Er ist wundervoll“, unterbrach ich sie. „Und er passt zu Ihnen. Ich möchte Ihnen den geöffneten Flakon schenken“, und als sie zurückwich: „Bitte, Maria, nehmen sie es an!“

 

Es war mir so rausgerutscht. Ich hatte es nicht sagen wollen. Ich hatte sie nur noch einmal sehen, mit ihr sprechen wollen. Ich hatte sie riechen, sie einatmen wollen für alle Ewigkeit! Nein, ich wollte sie nicht erschrecken, ich wollte Wallraf nicht verraten, ich wollte uns nicht in Gefahr bringen.

 

Sie war blass geworden, dann rot, dann wieder blass. Dann ließ sie mich einfach stehen. Langsam, sehr würdevollen Schritts ging sie einfach in den rückwärtigen Teil des Ladens und verschwand hinter einem Vorhang. Ich begriff, dass sie nicht wiederkommen würde. Ich hatte mir den Weg verbaut, sie jemals wieder zu sehen. Ich nahm den Flakon Utopie, ging zu einer der Rothaarigen, bezahlte und verließ den Laden. Alles geschah so plötzlich, dass der Mann, der vor dem Schaufenster gestanden und mich beobachtet haben musste, offensichtlich nicht mehr schnell genug reagierte. Ich rannte fast in ihn hinein. Er hatte ein ordinäres Gesicht. Ich kannte ihn. Es war der Biertrinker damals vom Stadion. Während ich weiterhastete, ohne etwas zu ihm zu sagen und ohne zu erkennen zu geben, dass ich ihn erkannt hatte, kam es mir, als ich ihn aus den Augenwinkeln sah, sogar so vor, als sei er auch der Mann gewesen, den ich am Zoo bemerkt hatte. Angst kroch an mir hoch, während ich weg zu laufen versuchte. Wie eine schleimige Substanz drang sie mir in alle Poren. Ich konnte sie nicht abschütteln, egal wie schnell ich lief.

 

12

 

Die Frage war nicht mehr, ob sie mich beobachteten, sondern seit wann. Und vielleicht auch, ob sie wirklich alles mitbekamen. Denn immer noch dachte ich, dass es auch ein Zufall sein konnte. Natürlich würden sie jemanden, den sie zum stellvertretenden Chefredakteur machen wollten, überprüfen. Aber rund um die Uhr? Tief im Inneren wusste ich, die Antwort lautete: ja. Aber wenn der Ordinäre Wallraf und mich im Stadion gesehen und man damals schon vermutet hatte, dass Wallraf ein Klon war, hätte man doch das Theater mit dem Stellvertreterposten oder die Begegnung mit Arena nicht arrangiert. Im Gegenteil, man hätte mich vorher unschädlich gemacht. Aber die Begegnung im Stadion war früher, viel früher. Sie konnten es nicht wissen! Vielleicht wussten sie ganz einfach nicht, dass Wallraf ein Klon war. Dann war noch nichts verloren. Vielleicht kamen ihnen meine Ausgänge und mein Zusammentreffen mit dem düsteren Kerl merkwürdig vor, vielleicht ließen sie mich deswegen beobachten. Aber ich hatte immer schon mehr Freigänge als andere, weil man sich als Schönschreiber unter das Volk mischen muss. Für richtig gefährlich konnten sie mich nicht halten.

 

Die Angst hielt mich jetzt vollkommen umschlungen. Ein klebriges Gefühl, das einfach überall war. Ich versuchte, mich umzudrehen, um eine Gefahr von hinten zu erfassen, da saß sie vor mir, zu den Seiten. Ich vermied den Bus, um nicht eingefangen zu werden mit meinem eingebildeten Verfolger, aber er lauerte hinter jeder Ecke. Ich stellte mich in Geschäftseingänge und wartete ab, bis zahlreiche Leute, die hinter mir gegangen waren, vorübergeeilt waren. Ich schlug Haken, machte Umwege, lief die Straße zurück. Der Ordinäre blieb verschwunden.

 

Ich versuchte, mich zu beruhigen. Ich versuchte, nachzudenken, was ich tun konnte. Ich würde nicht mehr in die Redaktion zurückkehren. Sollte ich nach Hause gehen? Es konnte ein Zufall sein. Wenn es sich allerdings im Stadion, im Zoo und jetzt hier um denselben Mann gehandelt hatte, war das ganz und gar unwahrscheinlich. Aber hatte es sich um denselben Mann gehandelt? Oder ging meine Phantasie mit mir durch? Was den Zoo betraf, war ich mir nicht sicher. War es wirklich derselbe ordinäre, besoffene Kerl gewesen, der, der mich damals im Bus angesprochen hatte? Ich versuchte, mich zu erinnern. Hatte Wallraf damals im Stadion nicht den Tisch ausgesucht, an dem der Kerl gestanden hatte? War er zu uns oder waren wir zu ihm gegangen? Machte das einen Unterschied?

 

Sollte ich nach Hause gehen? Würden sie mich da nicht am ehesten finden? Das hätten sie die ganze Zeit tun können. Wenn ich nicht nach Hause ging, machte ich mich erst recht verdächtig. Oder sollte ich doch in die Redaktion zurück und die Gedanken zu einem der übernächsten Tage vorbereiten? In der Bibliothek? Die Kamera in der Bibliothek. Sie mussten gesehen haben, dass ich unbefugt an Schusters PC gegangen war. Sie mussten das Wort gelesen haben, das ich eingegeben hatte: Klon.

 

C’lone University, fiel mi ein, C’lone City. Warum gingen sie um den heißen Brei herum, warum wurden irgendwelche seltsamen Erklärungen abgegeben, um eine unverständliche Namengebung zu rechtfertigen, wenn es auf etwas so Klares, Deutliches, Entscheidendes herauslief: Clone City. Das ewige Leben.

 

Ich musste Wallraf wiedersehen. So viele unbeantwortete Fragen. Wie würde er darauf reagieren, dass ich ihn an Maria verraten hatte. Er würde es längst wissen. Sie würde mit ihm über den Mann gesprochen haben, der ihr Geheimnis kannte. Maria.

 

Ich entschied mich für die Redaktion. Im Grunde hatte ich keine Wahl. Ich musste so weiter machen, wie bisher. Wenn es auch nur die geringste Chance gab, dass sie noch nicht alles wussten, durfte ich mich nicht verdächtiger machen als ich war.

 

Außerdem konnte Schröder da sein, es hätte mich getröstet, mich neben ihn in den Aufenthaltsraum zu setzen und, sagen wir, über das bevorstehende Ov-Ov-Festival zu sprechen. Es hätte mir das Gefühl von Normalität gegeben, von Kontinuität. Mit Schröder war man immer irgendwie auf der sicheren Seite. Vielleicht konnte ich ihn fragen, ob er verheiratet war und Nachwuchs hatte. Er war unwesentlich älter als ich. Es hätte gepasst.

 

Aber ich begegnete niemandem. Ein paar Leute, die ich vom Sehen kannte. Einer fuhr mit dem Fahrstuhl hoch in den siebten Stock, ein Stockwerk unter meinem. Wir grüßten uns.

 

Mein Büro war noch hell. Das war es eigentlich immer. Ich weiß nicht, nach welchen Gesichtspunkten sie die Lichter ausmachten. Grundsätzlich waren zahlreiche Büros rund um die Uhr besetzt. Unsere Abteilung eigentlich nicht, unsere Aufgaben konnte man in der normalen Zeit erledigen. Aber, wie ich schon sagte: erlaubt war es, jede Tagesstunde zur Arbeit zu nutzen. Es gab unterschiedliche Charaktere. Denen wollte man entgegenkommen. Natürlich, in der Abteilung Politik und Weltgeschehen war klar, dass sie jederzeit besetzt sein musste, damit man sofort, wenn etwas passierte, reagieren konnte.

 

Unterschiedliche Charaktere. In einem der hinteren Räume saß noch Hülscher. Es war inzwischen immerhin 20 Uhr, und er war mindestens seit 9 Uhr früh im Büro. Ein großer, dunkelhaariger Mann, der nie einen Ton sagte und irgendwelche Gedichte schrieb. Eine freundliche, im Grunde unwichtige Bereicherung unserer Abteilung. Hülscher arbeitete bestimmt dreimal so viel, wie er musste. Viele seiner Gedichte waren unbrauchbar. Er sagte, das sei normal. Er müsse Ausschuss produzieren. Nur mit jedem zwanzigsten Gedicht sei er zufrieden. Da er niemanden störte, kümmerte sich weiter niemand um ihn. Ich glaube schon lange, dass er noch aus ganz anderen Gründen so viel arbeitet. Er hat zwei Kinder, und ich glaube, sie nerven ihn total. Er hätte während der Aufzuchtzeit Arbeitserleichterung beantragen können. Was er aber nicht tat. Ich kenne seine Frau, er hat sie, als sie mit dem ersten Kind schwanger war, auf ein Betriebsfest mitgebracht. Danach nicht mehr. Eine arrangierte Ehe, die ihren Sinn erfüllte. Ich habe allerdings den Verdacht, dass Hülscher häufiger die Badehäuser aufsucht. Er bleibt manchmal länger über Mittag weg, und einmal habe ich ihn zufälligerweise gesehen, als er hineinging.

 

Unterschiedliche Charaktere. Es war ja wohl nicht so, dass sie wegen Leuten wie Hülscher die Tag-Nacht-Verordnung eingeführt hatten! Wollten sie uns das weismachen? Warum hatte ich nie darüber nachgedacht? Warum habe ich immer alles als bestens durchdacht für unser aller Wohl akzeptiert? Es steckte ein System dahinter. Sie hatten uns Tag und Nacht unter Kontrolle. Wenn das Licht an war, konnten sie einfach alles besser beobachten. Das musste es sein. Aber ich war jetzt gewappnet.

 

Ich ging zu meinen PC und überprüfte die Mails. Eine Nachricht von Wallraf. Ich bekomme eine Reihe von Mails von Leuten, die meine Artikel lesen. Viel Zustimmung, manchmal auch unflätige Berichtigungen. Das Übliche. Es war das erste Mal, dass er eine Mail schickte, und er tat es von einer Postsammelstelle aus, das sah man am Absender. Sehr klug. So konnte man zwar sehen, wann und bei welcher Post er gesendet hatte, aber man konnte sich darauf verlassen, dass er es von einem Ort aus getan hatte, der sehr belebt war und wo sich niemand ausgerechnet an ihn erinnern würde.

 

Ich wusste, dass es Wallraf war. Eine völlig unsinnige Message: „Liebe Mitglieder, unser Ausflug startet morgen um 14.30 Uhr am üblichen Abfahrtspunkt. Seid pünktlich! Der Vorstand.“

Ein Irrläufer. Man konnte es für einen Irrläufer halten. Aber es war keiner, da war ich ganz sicher. Morgen also, um 14.30 Uhr. Er brauchte den Ort nicht zu nennen. Es war klar, wo wir uns treffen wollten.

 

Ich ging nach Hause. Das Päckchen ‚Utopie‘ für Arena ließ ich achtlos in der Redaktion liegen. Ich fragte mich, ob sie mich darauf ansprechen würde, wenn sie nach Hause kam. Ich hatte keine Lust und ehrlich gesagt auch nicht den Mut, sie zu sehen. Ich schloss die Tür zu meiner Einheit ab. Ich wollte ganz sicher sein.

 

Halb drei war kein Problem. Ich verlegte einfach meine Mittagspause auf diesen späten Zeitpunkt. Während ich dem Neumarkt zueilte, ging mir durch den Sinn, dass ich jetzt an drei aufeinanderfolgenden Tagen diesen Bereich der Stadt aufgesucht hatte, den ich vorher monatelang ganz gemieden hatte, den ich normalerweise lediglich schnellstens durchquerte, um irgendwohin zu gelangen, manchmal zu einer öffentlichen Veranstaltung auf dem Neumarkt selber. Dort waren ja Ansprachen oder öffentliche Bekanntmachungen sehr häufig. Aber die Galerien, die Einkaufszentren mied ich, so gut ich konnte. Wenn sie mich also beobachteten, musste ihnen das auffallen.

 

Ich würde ihn fragen, ob er sich vorstellen konnte, dass sie mit dem Klonen bereits so weit waren, dass sie vielleicht bei besonderen Menschen nach und nach einen Austausch alternder Organe oder Blutbahnen oder von Teilen des Skeletts vornehmen konnten, so dass der Mensch wieder jünger war, aber immer noch das ursprüngliche Bewusstsein behielt. Irgend so etwas musste dahinterstecken. Ich dachte an Dr. Becker, daran, dass er sich dem Zeitpunkt seiner Entsorgung gefährlich näherte, dass er aber auf mich keineswegs den Eindruck machte, als wolle er sich damit abfinden. Und die Autorität, die er ausstrahlte, wurde keine Sekunde von seinem für alle ersichtlichen Alter abgeschwächt. Wenn sie am ewigen Leben arbeiteten, war klar, dass es nicht für alle, sondern nur für einige Auserwählte existieren würde. Ich hatte keinen Zweifel, dass Dr. Becker dazu gehörte.

 

Etwas anderes beunruhigte mich zutiefst: wie sollte ich Wallraf beibringen, dass ich sein Vertrauen missbraucht hatte, dass ich Maria nicht nur bereits aufgesucht, sondern sie erschreckt und womöglich in ihren Grundfesten erschüttert hatte, als ich sie bei einem Namen nannte, den sie einzig mit dem Mann ihrer Liebe teilte. Hatte sie ihm Vorwürfe gemacht, oder schlimmer noch, hatte sie es ihm gar nicht erzählt? Was blieb an Vertrauen übrig, wenn die intimsten Details einer Liebe plötzlich anderen, Unbeteiligten zur Kenntnis gelangt waren? Würde er denken, dass ich die Frau, die ich schützen sollte, in Gefahr brachte? Würde er seine Bitte, für Maria zu sorgen, rückgängig machen, ja mir verbieten, sie jemals wieder zu sehen? Würde Maria, wenn sie wusste, wer ich war, ahnen, dass sie ihren Liebsten durch einen Klon verloren hatte und würde sie mich hassen als den Vertrauten des Mörders ihres Mannes?

 

Ich verlangsamte meinen Schritt. Die Galerie war voller Menschen, wie gewöhnlich. Als ich mich dem zentralen Café näherte, hielt ich inne. Ich suchte ihn in der Menge, um schon von weitem zu sehen, wie er mich empfangen würde. Es war gewiss, dass er auffallen musste, weil er so anders war als alle. Aber ich fand ihn tatsächlich nicht sofort, was dafür sprach, wie perfekt er sich zu tarnen verstand. Dann sah ich ihn. Er saß an einem kleinen Tisch, am Rand, strategisch günstig. Der Platz vor ihm, der frei war, für mich frei war, stand in Richtung auf den Kosmetiksalon, in dem Maria arbeitete. So konnte er mir, ohne dass wir unsere Haltungen in auffälliger Weise hätten verändern müssen bedeuten, wo Maria arbeitete und wo ich sie finden würde. Wieder einmal musste ich bewundern, wie gut er immerzu alles bis ins Kleinste bedachte.

 

Gleichzeitig wusste ich, dass sie ihm nichts gesagt hatte. Ihr Vertrauen in einen Mann, der nicht mehr derselbe war, wie der, den sie einmal geliebt hatte, wenn man Wallrafs Schilderungen glaubte, war offensichtlich dahin. Sie wusste es vielleicht nicht, aber sie war frei. Vielleicht ahnte sie es.

 

Die Angst, die mir seit gestern im Nacken saß, lockerte sich für Sekunden. Ein erlösendes Glücksgefühl durchströmte mich. Wallrafs größter Fehler war sein fehlender Mut zu sich selber. Maria hatte ihn nicht lieben können, weil sie nichts von ihm wusste. Mich würde sie als einen ganz anderen kennenlernen. Und da sie frei war, könnte sie eines Tages frei sein für mich.

 

Ich muss wahnsinnig sein.

 

Wallraf sah womöglich noch schlechter aus als sonst. Krank – verloren. Ich hätte Mitleid mit ihm empfinden sollen, aber mein Herz war kalt bei dem Gedanken an die Frau. Ich dachte, dass er seine Situation selber herbeigeführt hatte, dass er sich in Marias Leben gedrängt und sie unglücklich gemacht hatte. Ich spielte mich tatsächlich auf als ihr moralischer Beschützer. Der Gedanke kam mir, und ich kann nicht leugnen, dass ich Genugtuung dabei empfand, und etwas wie Verachtung, dass er die Warnungen unserer Gesellschaft vor solchen, wie er einer war, mit allem, was er tat, bestätigte.

 

In dem Augenblick sah er mich. Seine Augen ruhten in meinen, einen sehr kurzen Moment nur, wie er überhaupt die ganze Zeit unruhig seine Blicke über seine Umgebung hatte schweifen lassen. Aber doch hatten seine Augen die meinen festgehalten. Er hatte mich angesehen, er hatte mich erkannt. Alles was noch zu sagen blieb zwischen uns hatte er in diesen Augenblick gelegt. Er dauerte wenige Sekunden, eine Ewigkeit. Was dann geschah, erlebte ich wie in Zeitlupe. Wallraf stand auf. Er erhob sich von seinem Stuhl und brüllte los. Nach links und nach rechts brüllte er. Erst war ich zu fassungslos, um zu verstehen, zu verstehen, was er tat, zu verstehen, was er sagte. Dann hörte ich es: „Seht her zu mir“, schrie er, „ich bin ein Klon! Ich bin geklont! Seht ihr mich? Ich bin ein – „

 

Vor meinen Augen, vor den entsetzten Augen aller, vielleicht vor Marias Augen, versank er zu Asche. Zwei, drei Männer, einer saß im Café, zwei kamen aus unterschiedlichen Gängen der Galerie, hatten ein Gerät auf ihn gerichtet, das aussah wie eine kleine Röhre, unscheinbar, weniger als eine jener Pistolen, die man in alten Spielfilmen noch sieht, vollständig lautlos. Sie hatten gezielt und abgedrückt, aber ich habe keinen Laut gehört, nicht gesehen, dass etwas aus der Röhre herausgeschossen kam. Wallraf war lautlos, ohne weiteres, in Sekundenbruchteilen, zu Asche geworden. Kein unangenehmer Geruch, keine größeren Reste. Einfach zu schwarzer bis silbrig-grauer Asche. Die Männer waren verschwunden, ehe man gefasst hatte, was passiert war. Ich stand starr vor Schrecken. Die Welt hatte aufgehört zu existieren. Kein Laut war zu hören. Die Welt war vollkommen still.

 

Ich bekam einen Stoß in die Seite, der mich fast zu Boden geworfen hätte. Gleichzeitig wurde die Tür zu dem Lederwarengeschäft aufgedrückt, vor dem ich zufälligerweise gestanden hatte. Jemand zog mich in das Geschäft, durch den hinteren Teil, eine Treppe herunter, durch die Gänge und weitere Türen. Ich folgte, rannte mit, wusste nicht, was mit mir geschah. Irgendwo in einer Versorgungsstraße hinter den Galerien kamen wir zum Stehen. Der, der mich dahin gebracht hatte, sagte: „Ruhig! Ruhig jetzt! Langsam. Geh langsam, sieh niemanden an, geh einfach ruhig und bestimmt geradeaus in Richtung Ringe.“

 

Atemlos, besinnungslos, folgte ich seinen Worten, stolperte durch die Straßen, ging dann langsamer, holte Luft, ging weiter. Am Rudolfplatz hatte ich mich einigermaßen unter Kontrolle. Jetzt ging ich normal langsam. Nein, nicht langsam, nicht schnell, ich ging einfach, egal wohin. Ich ging die Straße entlang, immer weiter, einfach weiter. Dann, irgendwo in der Lindenstraße, blickte ich mich zum ersten Mal um und sah den an, der mich hierhergebracht hatte, dem ich unüberlegt und in instinktiver Panik gefolgt war. Ich machte einen Satz zur Seite, als ich den mit dem ordinären Gesicht dicht hinter mir gehen sah, aber er sagte befehlend: „Geh weiter, lass dir nichts anmerken, geh weiter! Hier noch nicht!“ Dann befahl er mir in einen Bus einzusteigen und bis zum Grüngürtel zu fahren. Er sagte. „Pass auf, wo ich aussteige und folge mir unauffällig.“ Dann war er weg. Erst im Bus sah ich ihn in der Nähe einer Tür stehen. Er würdigte mich keines Blickes.

 

Wie könnte ich auch nur annähernd Worte finden, die meine Verfassung beschrieben. Ein solches Entsetzen hatte mich gepackt, dass es in meinem Körper vibrierte als würde ich von lauten schrillen Tönen geschüttelt. Alle Haare an meinem ganzen Körper standen ab, ich glaubte, ihre Wurzeln einzeln mit hellem Schmerz zu fühlen. Meine Augen waren so geweitet, dass ich sie nicht schließen konnte. Ich war mir bewusst, alles und jeden mit blankem Entsetzen anzustarren, wollte dagegen angehen, um die Aufmerksamkeit nicht auf mich zu lenken und merkte, dass es unmöglich war, auch nur zu blinzeln. Mein Herz schlug mir im Halse, ich hätte kein Wort sprechen können; hätte mich jemand angesprochen, wäre ich vielleicht durchgedreht, wäre weggerannt, hätte geschrien. Ich weiß nicht, wie ich die Busfahrt überlebt habe. Ich weiß nicht, wie es möglich war, nicht aufzufallen, warum die Leute nicht mit dem Finger auf mich gezeigt haben, um mich den Ordnungshütern zu überantworten.

 

Endlich stieg der Ordinäre aus, und ich folgte ihm in einigem Abstand. Ich ging hinter ihm her und hatte gleichzeitig Angst vor ihm. Ich wusste nicht, ob er mich ins Verderben führen würde, oder ob er mich gerettet hatte. Er hatte schnelle, sichere Bewegungen. Er glich nicht dem betrunkenen Kerl, dem wir im Stadion begegnet waren. Plötzlich kam mir die Idee, dass er mich schon einmal gerettet hatte; er war es, der mir im Bus das Spielergebnis zwischen den Co-lone Lonely Boys und den Hamburger Kings mitgeteilt hatte, während ich über dem Gespräch mit Wallraf völlig vergessen hatte, mich nach dem Ausgang des Spiels zu erkundigen. War er so etwas wie mein Schutzengel?

 

Er bog in die Grünanlagen ein, die um diese Zeit nur von wenigen Menschen besucht wurden. Er ging eine ganze Weile, ich nahm an, um sich einigermaßen zu vergewissern, dass wir nicht beobachtet wurden. Dann blieb er stehen und ließ mich herankommen. Immer noch gepackt von Schrecken starrte ich ihn fassungslos an.

„Er hat dir das Leben gerettet, ist dir das klar?“ sagte er. „Er hat sein Leben für deines gegeben.“ Das beruhigte mich keineswegs und machte die Sache auch nicht klarer.

„Was...?“ brachte ich krächzend hervor. Was ist passiert? Wollte ich fragen. Er verstand mich durchaus.

„Sie sind ihm schließlich auf die Schliche gekommen. Er war unvorsichtig in der letzten Zeit. Auch diese Treffen mit dir... Ich habe ihn gewarnt. Aber er ließ sich nichts mehr sagen, er hörte nicht mehr auf mich. Ich glaube, er war fertig.“ Er sah mich aufmerksam an, durchdringend. Nicht unangenehm. Nur so, als wolle er in mein Inneres blicken, als wolle er mich durchschauen.

„Wer bist du?“ brachte ich schließlich hervor. Er schüttelte den Kopf.

„Ein Freund“, gab er zur Antwort. „Wir werden uns nicht mehr wiedersehen. Je weniger du von mir weißt, desto besser für dich.“ Sein Gesicht war nicht wirklich ordinär. Er hatte ziemlich grobe Züge, das stimmt. Aber jetzt, wo er keine betrunkene Grimasse zog und seine klugen Augen auf mich gerichtet waren, merkte ich, dass er alles andere als ordinär war.

„Ich verstehe immer noch nicht.“

„Sie haben nicht aufgehört, nach den beiden zu suchen. Es grenzt ans Unmögliche, dass es ihnen fast fünfzehn Jahre gelungen ist, unentdeckt zu bleiben. Und jetzt haben sie ihn eben erwischt. Ich glaube, er wollte es so. Er war immer darauf gefasst, dass es eines Tages passieren könnte – aber jetzt scheint es fast so, als habe er es – herbeigeführt. Er hat nicht mehr aufgepasst, es schien ihm völlig gleichgültig zu sein.“

Ich sah, wie sich ein Ausdruck von Traurigkeit über sein Gesicht legte. Er fuhr fort: „K2 hatte die schlechtere Position, von allem Anfang an, dass muss man verstehen. Es war wirklich nur eine Frage der Zeit, bis er es nicht mehr aushielt.“ Er sah zu mir hin, als könne ich ihm eine Antwort geben, aber ich konnte es nicht. Stattdessen spiegelten sich in meinem Gesicht die tausend Fragen, die ich Wallraf hätte stellen wollen und deren Beantwortung ich von dem Unbekannten nicht erhoffen durfte.

Aber er sagte: „Du denkst vielleicht, dass es eine Möglichkeit gegeben hätte, nämlich aufeinander zu verzichten. K2 hätte eine eigene Identität in einer anderen Stadt annehmen müssen. Sie hätten sich trennen müssen, wie K1 es vorgeschlagen hat. Und K2 hätte einfach vergessen müssen, dass er ein Klon war.“ Er wandte mir sein Gesicht zu. Wie hatte ich je denken können, dass es ordinär war. Es war vielleicht nicht einmal grob, auch wenn seine Eltern offensichtlich keines der Merkmale für angenehmes Äußeres für ihn aus dem Katalog bestellt hatten. Vielleicht war er auf natürliche Weise gezeugt worden. Ich verdrängte den Gedanken sofort wieder. Er hatte etwas – Menschliches an sich. Was für eine merkwürdige Beobachtung.

Ich hörte mich sagen: „Aber das war ihm unmöglich“. So viel immerhin hatte ich begriffen.

„Ja.“

Wir gingen schweigend nebeneinander her, bis der Unbekannte seine Erklärungen wieder aufnahm. „Ich hatte den deutlichen Eindruck, dass er es zu Ende bringen wollte. Das Verhältnis zu Maria war in den letzten Wochen so spannungsreich, dass er eine Katastrophe befürchtete. Er hätte eine Trennung von ihr nicht ertragen.“

Maria.

„Was ist mit Maria?“ fragte ich. Er blickte unwirsch zu mir rüber. „Lass sie in Ruhe!“

„Wallraf wollte, dass ich mich um sie kümmere“, protestierte ich.

 

Ja, dachte ich, er war fertig. Er wollte, dass jemand sich nach seinem Tod, den er hat kommen sehen, um Maria kümmert. Und dieser Jemand war ich.

„Er hatte gar kein Recht dazu, wenn du verstehst, was ich meine!“

Ich hätte ihn verstehen können. Ich hätte ihn verstehen müssen. Aber ich wollte es nicht. Ich glaubte, mir bereits ein Anrecht auf Marias Leben erworben zu haben. Ich sagte: „Wer wird ihr die Nachricht von Wallrafs Tod überbringen?“

„Sie wird es früh genug erfahren.“

„Aber ich kann ihr erklären...“

„Was?“ Er sah mich direkt an und sagte noch einmal: „Lass sie in Ruhe. Kümmere dich lieber um deine eigenen Sorgen.“

Ich hielt es für besser, ihm nicht mehr zu widersprechen. Was wusste er von mir?

„Ich bin mir nicht sicher, ob sie dich bereits im Visier haben“, sagte er, wie als Antwort auf die Frage, die ich doch gar nicht laut gestellt hatte. „Offensichtlich war K2 der Meinung, dass sie dich noch nicht mit ihm in Zusammenhang gebracht haben. Als sie ihn heute umstellten, wusste er, dass der Augenblick gekommen war, den er lange erwartet hatte. Aber er wollte dich retten. Sie sollten nicht wissen, dass du es warst, mit dem er sich treffen wollte. Deswegen hat er sich geoffenbart, um sie zum Handeln zu zwingen.“

„Und du? Was spielst du bei allem für eine Rolle?“

„Ich sagte es schon: ich bin ein Freund. Ein Freund von beiden, von K1 und K2. Ich kenne sie seit ihrer Kindheit. Ich habe sie aufwachsen sehen. Ich bin euch mehrfach nachgegangen, weil ich wissen wollte, ob ihr gefährdet wart. Das heißt, wenn ich genau sein soll, wollte ich nicht, dass er sich mehr als nötig in Gefahr begibt.“ Er ließ den Kopf etwas hängen. „Sehr spät erst habe ich verstanden, dass ich ihn nicht retten konnte. Er hatte sich aufgegeben. Er wollte nur noch das mit dir zu Ende bringen. Jetzt hat er es zu Ende gebracht.“ Wieder Schweigen.

 

Die hellen, schrillen Töne in meinem Innern waren abgeklungen, meine Haare spürte ich nur noch wie ein leicht wundes Gefühl, eine Überempfindlichkeit, wie wenn man einen Schnupfen, eine Erkältung in den Körper kriechen fühlt. Eine Mattigkeit umfängt einen und ein Gliederschmerz, der einen wünschen lässt, man könnte sich in sich selber vor der Welt verkriechen. Natürlich nur bis man eine Tablette genommen hat und alles ist wieder gut. Ich hatte das Gefühl, es würde nie wieder gut werden können.

 

Dann hielt ich es nicht länger aus. „Warum?“ fragte ich. „Warum hat er überhaupt mit mir gesprochen. Was wollte er erreichen, warum mit mir? Weißt du das?“

Er ließ sich Zeit, ehe er antwortete. Dann fragte er: „Hat er dir das nicht gesagt?“

„Ich weiß nicht, ob ich ihn wirklich verstanden habe.“

Was wollte Wallraf von mir? Er wollte mir sein Leben erzählen, sein schreckliches, fruchtloses Leben aus zweiter Hand. Er wollte mir davon berichten, dass solche wie er seit langem existierten, Klone. Er wollte mir sagen, dass Klone Menschen waren. Dass sie ein Recht auf ein eigenes Leben hatten, das man ihnen verwehrte. Er wollte mir sagen, dass etwas grundsätzlich schief lief mit unserer Gesellschaft, die nicht das Leben des einzelnen wertete, des Individuums, sondern die von einem ewigen Leben träumte, als gäbe es dieses Leben außerhalb des Individuums. Die glaubte, eine Masse Leben erzeugen und nach Bedarf verbrauchen zu können, wie die Klone für militärische Zwecke, oder die einzelne Organe züchtete, um sie wie bei einem defekten Auto bei Bedarf zur Reparatur vorrätig zu haben, einer Gesellschaft, die Klone lediglich als Ersatzmaterial benutzte und die jetzt an einem geheimnisvollen Punkt angekommen schien, an dem es vielleicht tatsächlich möglich war, das vergehende Leben durch ein geklontes zu ersetzen. Er hatte mich ausgesucht, weil er meine Artikel gelesen und geglaubt hatte, in mir eine verwandte Seele zu treffen, einen der ihm zuhören, der versuchen würde, ihn zu verstehen. Einen, der ihn nicht verraten würde. Ich sagte: „Helfen konnte ich ihm nicht.“

„Er brauchte deine Hilfe nicht. Für ihn kam jede Hilfe zu spät, lange bevor er dich getroffen hat. Er wollte dir helfen.“ Ich ließ das sacken.

 

Hatte Wallraf mir geholfen? Er hatte mein Leben verändert. Andererseits hatte mein Leben in der letzten Zeit auch ohne ihn Veränderungen erfahren, die ich nie für möglich gehalten hätte. Und dafür waren die anderen verantwortlich, Arena, Dr. Becker und wer weiß noch. Was meine zukünftige Karriere betraf, hatte mir das Treffen mit Wallraf nicht geholfen, im Gegenteil. Das Wissen, das ich durch ihn erfahren hatte, war eher dazu angetan, mir zu schaden. Zweifel an den Errungenschaften der Regierung waren keine Empfehlung für einen stellvertretenden Chefredakteur. Vielleicht war das der tiefere Grund für die zögernde Annäherung an Dr. Becker, der noch immer zu mir sprach, als sei ich ein unwichtiger Schönschreiber, obwohl er meine Beförderung bereits ausgesprochen hatte. Konnte man mir meine Skepsis anmerken? Obwohl ich mir alle erdenkliche Mühe gegeben hatte, vollständig im Sinne der Regierung zu schreiben – worin ich ja tatsächlich eine in Jahren erprobte Übung hatte. Ob Becker es spürte oder wusste? Wallraf hatte mich in Schwierigkeiten gestürzt, hatte mich in Lebensgefahr gebracht, hatte mich meiner Frau entfremdet – wie konnte mir all das helfen?

 

Ich dachte an meine Großmutter, an die Worte Liebe, Vertrauen, Schönheit, Kindheit und Geborgenheit, an vieles, was seine Bedeutung und seinen Sinn vollständig verloren hatte, seit sie gestorben war. Daran, dass andere Wörter wie zweckdienlich, gesund, ästhetisch, funktionieren in unserem sprachlichen Wertekatalog obenauf standen, daran, dass ich mich in unserer Gesellschaft durchaus zurechtgefunden hatte, wenngleich es Bereiche gab, wie die Entsorgung der Alten, die Organbanken, die ich eher als gegeben hingenommen hatte, ohne in aller Konsequenz darüber nachzudenken. Seit Wallraf in mein Leben getreten war, hatte ich begonnen, wieder öfter an meine Großmutter zu denken und an das, worüber sie mit mir gesprochen hat.

 

Seit dieser Zeit, seit ich Wallraf kenne, habe ich auch in einer neuen, sehr intensiven Weise begonnen, zu fühlen, individuell zu fühlen. Zum Beispiel, als wir die Erlaubnis, oder ich sage wohl besser, den Befehl zur natürlichen Fortpflanzung bekommen haben, habe ich nicht einfach funktioniert. Ich habe einen großen Widerwillen gespürt, mit Arena zu schlafen. Ich habe mich auch immer darauf gefreut, Wallraf zu treffen. Ich habe ihn gemocht. Ich habe manchmal Mitleid mit ihm verspürt – und es gibt Maria.

 

Ich weiß sogar, dass das das Wichtigste ist. Alles andere führe ich an, um davon abzulenken, dass mein Leben, seit Wallraf sie zuerst erwähnt hat, um Maria kreist. Mein Leben mit Maria wird ein anderes sein. Es wird nichts mehr gemein haben mit dem Böll, der ich achtundzwanzig Jahre lang gewesen bin. Es stimmt, ich habe immer schon ein zweites Leben im Kopf geführt. Deswegen denke ich auch, dass es keine großen Probleme machen wird, mit Maria unterzutauchen in eine andere Welt. Ich werde die Zeitung nicht vermissen, nicht meine Beförderung, nicht Arena. Vielleicht Schröder. Aber was ist Schröder gegen Maria. Es ist ganz klar, dass ich sie finden muss.

 

Ich sagte zu dem, der Wallraf kannte und unsere Treffen über einen langen Zeitraum beobachtet hatte, und dem ich vielleicht, außer Wallraf selbst, mein Leben verdankte: „Was wird jetzt geschehen?“

„Halt die Augen auf. Sie müssen mit dem Klonen schon sehr weit sein. Versuch, heraus zu bekommen, wie weit, und hüte dich vor ihnen so gut du kannst. Wir werden uns nicht mehr wiedersehen. Ich kann dir nicht helfen.“ Er wollte sich zum Gehen wenden, ich hielt ihn zurück.

„Glaubst du an das ewige Leben?“

„Das ist Wallrafs Theorie. Ich glaube, es hat vieles für sich, dass genau das dahintersteckt.“

„Und glaubst du, sie werden es erreichen?“ Er zuckte die Achseln.

Ich sagte: „Aber Klone sind Individuen.“

Er antwortete: „Sie waren identisch, K1 und K2. Sie waren identisch. Sie haben identisch gefühlt. Da gab es keinen Unterschied. Er muss es dir selber gesagt haben.“

„Maria hat den Unterschied gespürt. Es waren zwei Personen, nicht eine.“

„Vielleicht hat sich Maria geändert. Vielleicht war es gar nicht K2. Menschen ändern sich. Vielleicht hätte Maria auch aufgehört, K1 zu lieben.“

Ich glaubte ihm nicht. „Das Bewusstsein“, sagte ich als letzten Trumpf. Er hatte ein eigenes Bewusstsein. Es war nicht das seines Bruders.“

„Was ist unser Bewusstsein wert“, sagte er. „Wenn jemand sein Gedächtnis verliert – bleibt er doch derselbe Mensch, oder? Man erzählt ihm einfach, wo sein Platz im Leben war und wieder sein kann. Über kurz oder lang wird er sich erinnern, weil er sich erinnern will. Und er fügt sich an der alten Stelle ein.“ Er schwieg. Ich verstand. Er meinte: man kann ein Bewusstsein manipulieren. Vielleicht klonten sie einen Menschen und gaben ihm dann ein, wer er war, wer er zu sein hatte. Natürlich. So konnten sie ein und dieselbe Person verdoppeln. Und während der alte Mensch abstarb und entsorgt werden musste, erstand in jugendlicher Frische sein Klon, der er selber war. Etwas schnürte mir die Kehle zu.

 

Ich musste ihn jetzt nicht weiter aufhalten. Ich hatte nur noch eine Frage: „Glaubst du, sie wissen, dass Wallraf sich mit mir getroffen hat?“

„Keine Ahnung. Das musst du dir selber beantworten. Wie unvorsichtig bist du gewesen?“ Mir kam die Kamera über Schusters PC in den Sinn. Was sonst noch?

„Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass sie dich sofort töten werden, wenn sie etwas von deinen Machenschaften mitbekommen. Du hast gesehen, dass sie nicht lange fackeln.“

„Sind sie allgegenwärtig?“

„Wenn sie es für nötig halten.“

„Woran erkennt man sie?“

„An nichts. Man kann sie nicht erkennen.“

„Und Wallraf?“

„Er hatte den sechsten Sinn.“

 

13

 

Ich musste zurück in die Redaktion. Wenn ich nicht auffallen wollte, musste ich zurück in die Redaktion. Wenn überhaupt noch etwas zu retten war, musste ich augenblicklich zurück. Aber es war ebenso klar, dass ich Maria aufsuchen würde. Konnte ich das riskieren? Konnte ich es wagen, noch einmal in diesen Schönheitssalon zu gehen? Würde sie mit mir sprechen, wenn sie mich erkannte oder würde sie mich einfach stehen lassen wie neulich? Wie gestern erst. Es schien eine Ewigkeit vergangen seit dem Moment, in dem ich ihr so nahe gewesen war, in dem ich ihren Duft eingeatmet und für einen Augenblick die Kontrolle über mich verloren hatte, der Augenblick, in dem ich sie bei ihrem Namen nannte.

 

Es war mir klar, dass ich keineswegs riskieren durfte, sie heute noch zu sehen. Es wäre in jeder Hinsicht unbedacht gewesen, noch einmal in die Nähe des Ortes zurückzukehren, an dem diese Ungeheuerlichkeit passiert war. Mit Schrecken begriff ich, dass sie über Maria Bescheid wissen mussten, wenn sie Wallraf beobachtet hatten. Vielleicht hatte der Unbekannte das gemeint, als er sagte, ich solle sie in Ruhe lassen. Gar nicht unwahrscheinlich, dass sie Maria als Lockvogel benutzten, um an Leute heranzukommen, mit denen Wallraf Kontakt hatte, an Leute wie mich. Ich musste darüber nachdenken. Was konnte ich tun, um sie zu sehen?

 

Der Pförtner blickte kaum auf, als ich in die Redaktion trat. Ich ging geradewegs in mein Büro. Ich sah niemanden. Ob sie morgen etwas über den Vorfall bringen würden? Ich wägte ab. Wahrscheinlich war es nicht. Ich hatte noch niemals etwas vom Einsatz solcher Waffen gehört. Oder davon, dass die Sicherheitskräfte sich in solcher Weise unter das Volk mischen, um irgendjemanden ohne Vorwarnung einfach auszulöschen. Es war etwas ganz anderes als bei den Prügeleien im Stadion oder bei anderer Gelegenheit. Man erkannte die Ordnungsbeamten normalerweise an ihrer besonderen Kleidung. Es war nicht gerade eine Uniform, würde ich sagen, aber man wusste einfach: sie trugen solche Hemden und solche Hosen. Und im Stadion gab es Schlägereien, Blut. Es wurde geprügelt, und von den Sicherheitsbeamten wurde dagegen geprügelt. Das war der Sinn: nackte Gewalt, die gesteuerte Eskalation von Gewalt. Es hatte damit zu tun, ein Ventil für Bedürfnisse zu finden, deren ständige Unterdrückung ein ungutes Klima geschaffen hätte. Alle waren damit einverstanden. Es war Teil der allgemeinen Belustigung. Die Gefahr, die Todesgefahr, die damit durchaus einherging, gehörte dazu.

 

Was mit Wallraf geschehen war, hatte damit nichts zu tun. Es hatte gezeigt, wie grenzenlos ausgeliefert man den Mächten war, die man nicht kannte. Die allgegenwärtig waren, ohne dass man sie erkennen konnte, die einen überwachten, steuern und schließlich völlig lautlos auslöschen konnten. Das Häufchen feiner Asche, zu dem Wallraf in Sekundenschnelle geworden war, so als habe eine Fee, wie in einem jener alten Märchen meiner Großmutter, ihn mit einem Zauberstab berührt, war so unauffällig gewesen, dass Leute, die nur einige Sekunden zu spät hingesehen hatten, die nicht, wie ich, Wallraf im Augenblick der Atomisierung geschaut hatten, den Vorgang, der sich in Bruchteilen von Sekunden abgespielt hatte, sicher überhaupt nicht begriffen hatten, nicht begreifen konnten.

 

Was war danach geschehen? Wie hatten die Menschen reagiert, die es gesehen hatten? Was hatten die Kellner getan, die als einzige mit Sicherheit sagen konnten, dass da, wo jetzt eine geringfügige Menge Asche lag, Staub fast nur noch, leise aufgewirbelt von der ständigen Bewegung in der Galerie, dass da einen Augenblick vorher noch ein Mensch saß, der ein Glas Mineralwasser bestellt und zur Hälfte getrunken hatte. Oder ob sie dachten, er sei bereits weggegangen, habe sein Glas nicht ausgetrunken, sei gegangen, ohne zu bezahlen, habe sich davongeschlichen, damit man ihn nicht zurückhalte und sei eben deswegen so plötzlich verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt?

 

Aber der Erdboden hatte sich nicht aufgetan, um Wallrafs Asche aufzunehmen. Irgendjemand würde mit einem Handfeger gekommen sein oder mit einem Staubsauger, um den Platz zu säubern für den nächsten Kunden. Wie hatte die Menge reagiert? Ich glaube nicht, dass irgendjemand sich getraut hätte, den Vorfall zu kommentieren. Ich kann mir sogar denken, dass manch einer seinen Augen ganz einfach nicht getraut hat, dass das Außergewöhnliche, Entsetzliche, der leise Tod, die totale Auslöschung nicht wirklich in ihr Bewusstsein gedrungen sind. Dass sie eher bereit waren, an eine Sinnestäuschung zu glauben, als dass sie dieses gnadenlose Ausgeliefertsein in all seiner erschreckenden Konsequenz hätten erkennen wollen. Schon deswegen würde es nicht in der Zeitung stehen. Was in der Zeitung stand, war in gewisser Weise real. Gut, es konnte widerrufen werden. Vieles wurde später im Lichte anderer Erkenntnisse neu interpretiert.

 

Es war, zum Beispiel, kein Problem, von einem Unglück mit mehreren Toten zu berichten, und dann befand man, dass die negative Wirkung auf die Bevölkerung praktisch nicht zu rechtfertigen war und man korrigierte die Aussagen dahingehend, dass es zunächst so ausgesehen habe, als hätte es zahlreiche Opfer gegeben, was sich aber dann, Gott sei Dank, als Fehlmeldung erwiesen habe. Im Gegenteil, allen Opfern gehe es gut. Das war kein Problem. Daran hatte man sich lange gewöhnt. Aber von einem Wesen zu berichten, das atomisiert worden war, als es von sich lauthals behauptet hatte, es sei ein Klon, war derart ungewöhnlich, dass kein Widerruf eine solche Nachricht ungeschehen machen konnte. Wenn man das in die Zeitung setzte, musste man sicher sein, dass man solche Information wirklich unter die Leute bringen wollte.

 

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das der Fall war.

 

Hatte Maria etwas von dem Vorfall mitbekommen? Es hing ganz davon ab, ob er ihr von mir erzählt hatte, ob er vorgehabt hatte, sie etwa direkt mit mir bekannt zu machen. Wenn das aber nicht der Fall war, und ich vermutete, dass Wallraf unsere Gespräche außer mit dem Unbekannten, mit dem er offensichtlich auf sehr vertrautem Fuß gestanden hatte, mit niemandem geteilt hatte, wie ja auch für mich die absolute Diskretion überlebenswichtig gewesen war – wenn sie also nichts von unserer Verabredung gewusst hatte, war es in höchstem Maße unwahrscheinlich, dass sie, die keinen Grund, noch kaum Gelegenheit haben dürfte, während ihrer Arbeitszeit den Salon zu verlassen, ihren Mann, den sie außerdem bei der Arbeit in einem anderen Teil der Stadt vermuten musste, in dem Café wenige Schritte von ihrer Ladentür entfernt entdeckt hätte.

 

Wie würde sie reagieren, wenn er heute Abend nicht wie gewohnt nach Hause kam. Würde sie sich Sorgen machen oder wäre sie vielleicht erleichtert, ihm nicht begegnen zu müssen. Man konnte nicht vermuten, dass ihre Wohnung ein Arrangement wie bei Arena und mir beinhaltete. Arena und ich gehörten bereits einer gehobenen Gesellschaftsschicht an. Natürlich waren wir nicht ganz oben, aber wir konnten nach ganz oben gelangen. Alles, was ich von Wallraf wusste, war, dass er nur deswegen so lange so unbehelligt geblieben war, weil er sich mit einer Situation ganz unten zufriedengegeben hatte, dort, wohin niemand wollte, wo ihn niemand beneidete. Er würde heute Abend nicht zu ihr nach Hause kommen. Ob der Unbekannte ihr die Wahrheit beibringen würde? Ob er ihr sagte, wie es geschah? Wäre ihre Trauer grenzenlos über den Verlust ihres Geliebten oder wäre sie erleichtert, von einem ungeliebten Mann befreit zu sein? Ich hätte sie bedauern, Mitleid mit ihr haben müssen. Aber der, den sie jetzt verlor, war nicht mehr der, den sie geliebt hatte. Wenn ich sie darüber aufklärte, würde sie mir dankbar sein, denn ich gab ihr ihre Liebe zurück. Ich malte mir aus, wie sehr dankbar sie mir sein müsste.

 

Mein Computer piepste und riss mich aus meinen Träumen. Die Message lautete, dass Dr. Becker mich im dritten Stock erwartete. Ich dachte: Leben oder Tod.

 

Arena saß bei ihm. Sie saß im Zimmer des Geschäftsführers, als gehöre sie dorthin. Ich war nicht einmal besonders erstaunt. Dr. Becker lächelte verbindlich und sagte: “Mein lieber Böll.“ Es klang vertraulich, vielleicht sogar so, als seien die Schranken zwischen uns, die unüberwindlichen Schranken zwischen dem allmächtigen Geschäftsführer und dem unbedeutenden Schönschreiber aus der Feuilletonabteilung dabei, einzustürzen, als bewegten wir uns auf jenen zu erwartenden Zustand zwischen nahezu gleichberechtigten Kollegen zu, der durch meine Beförderung zum stellvertretenden Chefredakteur unweigerlich bald hergestellt sein würde. Aber hätte ich mit ‚Mein lieber Becker‘ antworten können? Eine Farce. Ich versuchte, entspannt zu lächeln, Wohlbefinden zu signalisieren, meiner Freude darüber Ausdruck zu verleihen, dass ich Arena hier so unverhofft antraf, mich somit plötzlich in Gesellschaft der beiden für mich im Augenblick wichtigsten Menschen auf der Welt befand.

 

Ich kann nicht annehmen, dass mir das gelingt. Auf meinem Gesicht muss noch der Widerschein von Wallrafs silbrig-grauer Asche liegen, in meinen Augen werden sie erkennen, wie sich das Entsetzen dieses Tages spiegelt. Arena ist mir fremder als Dr. Becker. An ihn halte ich mich instinktiv, als drohe von ihm weniger Gefahr als von ihr.

 

„Mein lieber Böll. Zunächst das Thema für den morgigen Tag. Wir nehmen eine kleine Änderung vor. Glauben Sie, dass sie heute noch einen neuen Text für die Gedanken des morgigen Tages schreiben können?“ Ich nicke automatisch, beflissen, eine Selbstverständlichkeit. Gerade darin erweise ich mich des Vertrauens, das man in mich gelegt hat, für würdig. Ich bin dieser Aufgabe in allem gewachsen.

 

„Schön. Unser Thema wird sein: ‚Der Feind. Der innere und äußere Feind. Nein, halt“, korrigiert er sich, als sei ihm dies gerade erst eingefallen, „wir belassen es bei dem inneren Feind. Der innere Feind. Das schaffen Sie bis heute Abend, Böll? Oder haben Sie sonst noch etwas vor?“

Wieder nicke ich mit dem Kopf, um ihn dann zu schütteln.

„Ich bin den ganzen Tag in der Redaktion, und ich sehe keinerlei Probleme, den Text rechtzeitig einzureichen“, sage ich mit Bestimmtheit.

 

Es ist viel auf mich eingestürmt in den letzten Wochen und Tagen, ich bin in meinen Grundfesten erschüttert und vollständig aus der Bahn geworfen worden. Ich werde nie wieder der alte Böll sein, der, den sie an der Hand nehmen und zu seinem Besten in jedwedes Verderben führen konnten. Ich bin fertig mit Arena und mit der Redaktion. Aber ich habe eine jahre-, jahrzehntelange Übung darin, mich selber vor ihnen zu bewahren, mich vor allen ihren Angängen zu schützen durch die makellose Einhaltung aller äußeren Formen. Selbstschutz durch tadelloses Erfüllen aller erwarteten Verhaltensweisen. Gerade in diesem Augenblick höchster Gefahr, kann ich mich wieder auf mich selber verlassen.

 

Was mir die Kraft gibt, ist dies: Ich werde mit Maria fliehen. Die hier vor mir glauben noch den willfährigen Popanz vor sich zu haben, den sie nach ihrer Pfeife springen lassen können, wann immer sie wollen. Ihren Plan, mich zum stellvertretenden Chefredakteur zu machen, durchschaue ich. Es ist eine Machtfrage. Ich begreife, dass die Partei von Dr. Spengler ganz einfach zu mächtig wurde. Wer Spengler kannte, wusste, dass Becker ihn nie ‚mein lieber Spengler‘ hätte nennen können, Vertraulichkeit vortäuschend, ohne dass Spengler zurückgeschossen hätte. Er war zu stark. Deswegen haben sie ihn verschwinden lassen. Ich hingegen, ein Unwissender, Ahnungsloser, soll ihn ersetzen, ich, der ich mit allem in völliger Abhängigkeit von Becker und seiner Partei gehalten werden kann. Ich werde tun, was sie verlangen, bis zu dem nicht mehr fernen Augenblick meiner Flucht. Maria. Der Gedanke an sie gibt mir eine unglaubliche Kraft. Ich glaube, ich habe mein Gesicht wieder vollkommen unter Kontrolle. Ich kann mich sogar Arena zuwenden und sagen: „Schröder hat Recht, meine Liebe, du wirst tatsächlich immer schöner. Ich habe übrigens deinen Lieblingsduft umgetauscht. Ich habe ihn oben bei mir, du kannst ihn dir holen kommen.“

 

Beide scheinen gänzlich überrascht von meinem Vorstoß. Ich weiß, dass sie ein besonderes Verhältnis miteinander haben müssen, wenngleich ich mir nicht genau vorstellen kann, worin das besteht. Oder doch?

 

Auf jeden Fall kann ich ja wohl meiner eigenen Frau ein Kompliment machen. Sie können beide nichts dagegen einwenden, ohne sich zu verraten. Ich denke, wie haben sie sich das vorgestellt, wenn sie offiziell meine Frau bleibt. Für den Fall, dass ich hierbliebe, heißt das, bei ihnen, mit diesem Marionettenposten, den sie für mich ausgekungelt haben. Aber ich gehe mit Maria fort. Ich meine in Beckers Blick so etwas wie großen Widerwillen zu lesen bei meinen Worten. Und dann, plötzlich, verstehe ich: Wenn das mit dem Wasserturm seine Idee war, kann es dafür nur eine Erklärung geben: Es sollte etwas verdeckt werden, was bereits geschehen war und auf keine andere Weise vertuscht werden konnte. Sie würde nicht mein Kind bekommen. Zu dem Zeitpunkt, als sie mich im Wasserturm verführte, war sie bereits schwanger. Diese plötzliche Erkenntnis erheitert mich, und gleichzeitig fühle ich eine unendliche Erleichterung.

 

Statt eines Dankes oder der Bestätigung, dass sie das für sie bestimmte Parfüm in Empfang nehmen würde, sage Arena: „Wie weit bist du mit dem Lobgesang für das Ov-Ov-Festival? Niemand hat davon bisher eine einzige Zeile zu Gesicht bekommen. Wir machen uns Sorgen, ob du damit fertig wirst.“

 

Jetzt war sie zu weit gegangen. Der Klang ihrer Stimme war womöglich noch abweisender als sonst und von kalter Arroganz. Aber sie hatte nicht das Recht, so zu sprechen. Sie mochte tausendmal im Büro des Geschäftsführers sitzen, sie war nicht meine Vorgesetzte. Sie war immer noch meine Frau, und so wie die Dinge im Augenblick lagen, konnte ich ihr durchaus Unannehmlichkeiten bereiten, das machte sie sich wohl gar nicht klar. Ich brauchte nur zu Schröder laut im Aufenthaltsraum zu sagen, dass ich meine Frau zu meinem großen Erstaunen im Büro des Geschäftsführers angetroffen hatte. Zu meinem großen Erstaunen. Nicht: Zu meiner Freude, Zufriedenheit, meinem Stolz. Jeder würde wissen, was das bedeutete, und dann waren sie unten durch. Vor allem aber Arena. Das bedachte sie wohl nicht.

 

Ich antwortete, leicht gereizt, minimal gereizt, aber gerade so viel, dass sie es merken musste: „Wer macht sich Sorgen?“ Becker reagierte sofort. „Niemand macht sich Sorgen, mein lieber Böll, wir würden es nur gerne wissen, der Vorstand und ich.“ Wunderbar. Ich fühlte, wie zu der Erleichterung, die ich gerade empfunden hatte, die Genugtuung hinzukam, sie auf meine Empfindlichkeiten und Gereiztheit Rücksicht nehmen zu sehen. Ich strahlte Becker an. „Ich bin fast fertig. Sie können völlig beruhigt sein. Ich möchte allerdings nichts davon vorher verlauten lassen, es soll eine große Hymne werden, sie soll am Ov-Ov-Festival verkündet werden.“ Ich betonte das Wort ‚verkünden‘, indem ich eine große Begeisterung in meine Stimme legte. „Es soll außerdem mein ganz persönlicher Dank sein an die Regierung, an die Redaktion, an Sie, Dr. Becker und letztlich auch an dich, meine Liebe“, setzte ich hinzu.

Trotzig sagte Arena: „Ich mache mir Sorgen, ich. Es ist eine zu wichtige Angelegenheit, als dass du sie vermasseln solltest.“

„Nun, nun, meine Liebe“, fuhr jetzt auch Becker dazwischen, „Sie sollten wissen, dass auf Ihren Mann noch immer Verlass war. Ich glaube, Böll, das ist alles im Moment, Sie sollten sich an den Text machen. Schaffen Sie es bis 20 Uhr?“

“Keine Frage.“

 

Es war eine Falle. Zu offensichtlich. Oder doch nicht? Weil sie nichts von Wallrafs und meinen Zusammenkünften ahnten. Andererseits – Falle oder nicht – es hatte keine Bedeutung mehr. Ich würde etwas von der Kleinmütigkeit schreiben, von Menschen, die kein volles Vertrauen in unsere Gesellschaft hatten, denen man immer wieder aufs Neue die Überlegenheit unseres Systems predigen müsse und die dennoch zaghaft und ängstlich waren. Und so weiter. Sie seien wie Entzündungen in einem sonst gesunden Körper, gegen die man etwas unternehmen müsse, damit sie nicht auf weitere Partien des Körpers übergriffen und ihn schließlich allzu sehr schwächten. Einzelne Entzündungen seien nicht schlimm. Manchmal machten sie sogar auf eine beginnende größere Krankheit aufmerksam. Aber ausgemerzt müssten sie allemal zum Schutz des Gesamten werden.

 

Das schrieb sich von selbst. Ich würde natürlich kein Wort über Klone schreiben. Es gab keine Veranlassung dazu. Klone existierten nicht. Wieso hätte ich das Geringste dazu schreiben sollen. Der Gedanke kommt mir, dass sie es vielleicht so weit treiben, mir eines schönen Tages das Thema ‚Klon‘ zu diktieren. Dann ist klar, dass sie mich erledigen wollen. Aber noch wollen sie es nicht. Ich weiß nicht, warum das so ist, aber ich werde die mir verbleibende Zeit nutzen.

 

Schröder kommt kurz vor acht in mein Büro und sagt: „Wolltest du nicht mit zu dem Hupkonzert auf dem Roncalli-Platz?“ Ich hatte es vergessen. Sie gestatteten ernsthaften jungen Musikern, ihre neuesten Schöpfungen zum ersten Mal öffentlich auf dem Roncalli-Platz vorzuführen. Wir von der Redaktion bekamen immer Karten. Es war nicht eigentlich mein Ressort. Aber Franca von der Musikabteilung musste zu der wichtigeren Opernaufführung und hatte mir die Karten weitergegeben. Vielleicht konnte ich etwas daraus machen. Ich hatte Schröder gebeten mit zu kommen. Über allem hatte ich es vergessen. Aber jetzt war ich dankbar für die Ablenkung. Und ich dachte, es würde gut tun, Schröder bei mir zu haben. Wenn es irgendetwas Neues gab, würde er es mich wissen lassen. Wir verließen zusammen die Redaktion. Arena war nicht aufgetaucht, um das Parfüm zu holen. Ich ließ es achtlos liegen.

 

Den ganzen Abend sagte Schröder fast kein einziges Wort zu mir. Ich fühlte mich sehr unbehaglich deswegen. 

 

14

 

Ich hielt es nicht aus, ich ging schon am nächsten Tag wieder in die Galerie am Neumarkt. Ich näherte mich langsam der Stelle, wo am Tag zuvor –

Bewusst hielt ich mich auf der dem Ledergeschäft gegenüber liegenden Seite des Gangs, versuchte dabei, nicht in das Geschäft hineinzusehen, obwohl es mich einige Überwindung kostete. Fast magisch wurde mein Kopf zur Seite gezogen. Ich zwang mich, dem Drängen nicht nachzugeben. Was, wenn mich jemand erkannte, wenn ich hinübersah? Was, wenn sie mich erkannten, ohne dass ich hinüberblickte? Sie würden es nicht wagen, auf einen bloßen Verdacht hin, Aufsehen zu erregen, da konnte ich mir sicher sein.

 

Das Café war voller Menschen, genau wie es gestern gewesen war. Nichts, aber auch gar nichts ließ darauf schließen, was hier Schreckliches geschehen war. Soweit ich das beurteilen konnte, bedienten heute sogar dieselben Kellner. Obwohl ich das nicht hätte beschwören können. Sie trugen alle die gleiche Kluft.

 

Ich musste an dem Café vorbei, wenn ich zu dem Laden wollte, in dem Maria arbeitete. Einen Augenblick überlegte ich, ob es eine andere Möglichkeit gab. Ich konnte den linken der beiden Gänge nehmen und über eine Verbindungsmöglichkeit weiter unten nach rechts gelangen und mich von der anderen Seite dem Kosmetikgeschäft nähern. Aber auch dann musste ich zuerst an dem zentralen Café vorbei.

 

Ich blieb einen Augenblick vor einem Fotogeschäft stehen, blickte dann hinüber zu dem Café. Waren sie auch jetzt wieder da? Waren sie immer da? Immer und überall? Wie hatten sie ausgesehen? Ich versuchte mich zu erinnern, wer geschossen hatte, aber es ging so schnell, in solcher ungeheuren Blitzschnelle. Ich hatte nur Bewegung aus den beiden Gängen wahrgenommen und dann aus dem Café. Ich hatte eine ungefähre Vorstellung davon, wo das im Café gewesen war. Da saßen jetzt zwei junge Frauen und lachten. Aber was sollte das schon heißen. Zufälligerweise war der, der gestern dasaß, ein einzelner Mann gewesen. Heute konnten es zwei junge Frauen sein. Oder eine Mutter, die mit ihrem Sohn dasaß und Eis zu essen schien. Du kannst sie nicht erkennen, hatte der Unbekannte gesagt. Und das war das.

 

Ich entschloss mich tatsächlich für die Annäherung von der anderen Seite. Ich versuchte, die Menschen in mich aufzunehmen, die sich an der zentralen Schnittstelle der Gänge befanden, damit ich eventuell merken könnte, wenn mir jemand folgte. Gleichzeitig wusste ich, wie naiv das gedacht war. Dennoch beruhigte mich diese Strategie etwas.

 

Ich sah sie wiederum bereits von außen. Sie bediente einen Mann, der älter war als wir, vielleicht fünfzig. Fasziniert betrachtete ich ihre Gespaltenheit. Man konnte nicht darüber hinwegsehen. Sie gab sich große Mühe, auf den Kunden einzugehen, sie schien vollständig auf seine Wünsche konzentriert mit ihrer wunderbaren Sanftheit, versuchte sogar ein Lächeln. Er konnte sich ihrer vollen Aufmerksamkeit in jedem Moment sicher sein. Ich aber sah ihre Verlorenheit, die Unsicherheit in ihren Augen. Ich, der ich ahnte, welche Furcht sie durchstanden haben musste, als ihr Mann, ihr Halt, ihr bereits verlorenes Leben ohne Worte, ohne Vorwarnung einfach weggeblieben war, nicht nach Hause gekommen, und dass er diesmal, was sie vielleicht noch nicht wusste, oder vielleicht eben doch, dass er sie dieses Mal endgültig verlassen hatte, für immer. Ich, der ich all das wusste, sah das Flattern ihrer Augenlider, sah die Anmut ihrer Hilflosigkeit und hätte zu ihr gehen, sie in die Arme schließen, beschützen und liebkosen wollen, auf dass ihre Sanftmut befreit würde von aller Trostlosigkeit und aufs Neue zu leuchten begänne.

 

Ich schloss die Augen, weil ihr Anblick mich schmerzte und wartete ab. Erst als sie den Kunden zur Kasse begleitete, betrat ich den Laden und wurde von einer anderen Verkäuferin angesprochen. Ich könnte nicht mehr sagen, welche es war. Ich hörte meine Stimme wie von einer anderen Person: „Ich wurde neulich von einer ihrer Damen so gut beraten, warten Sie, ich glaube es war“, kleine Pause, dann, als fiele es mir gerade wieder ein: „Zeta. Ja, so hat sie geheißen. Ist es möglich, von ihr bedient zu werden?“

„Aber natürlich.“

Sie wandte sich zur Kasse, an der Maria ihrem Kunden einen letzten Blick schenkte und sagte in einem übertriebenen Ton, der sicher dazu angetan sein sollte, mir die Wichtigkeit, die sie meinem Wunsch beimaß, erkenntlich zu machen, der mich aber unangenehm berührte: „Hier ist ein Kunde für dich, Zeta, er legt Wert auf deine persönliche Beratung.“

 

Ich sah wohl, dass sie erschreckte, dass sie dieser Begegnung am liebsten ausgewichen wäre, dass sie aber nicht umhin konnte, mich zu bedienen, der ich, ohne sie direkt anzublicken, Interesse für irgendwelche der herumstehenden Artikel dokumentierte und dabei leichthin aber laut und vernehmlich sagte: „Sie haben mich neulich so gut beraten, meine Frau hat sich über das Parfüm sehr gefreut. Vielleicht gibt es etwas damit Zusammenhängendes, eine Seife, ein...“, ich dachte nach, was es geben mochte, das man als Ergänzung zu einem Parfüm schenken konnte, musste passen, blickte sie jetzt doch an und fuhr fort: „Irgendetwas eben, das Sie mir empfehlen können.“ Mechanisch und an mir vorbei blickend antwortete sie: „Ich glaube, das Parfüm ihrer Frau hieß Utopie?“

„So ist es.“

„Wir haben da eine Reihe von Produkten aus derselben Serie, wenn Sie bitte kurz mitkommen wollen.“

 

Wir gingen zu den Regalen, in denen Utopie stand, weg von der, die mich zuerst angesprochen hatte und die längst mit jemand anderem beschäftigt war. Maria nahm eine Reihe von Schachteln aus dem Regal und stellte sie auf die Theke. Ehe sie damit beginnen konnte, mir im Einzelnen aufzuzählen, was es war, sagte ich leise: „Hören Sie mich an, Maria, ich bitte Sie, laufen Sie nicht wieder weg. Ich bin ein Freund, bitte haben Sie vertrauen.“ Sie hielt inne, die Augen niedergeschlagen, die Hände auf den Produkten.

„Wer sind Sie?“

„Wallraf schickt mich. Ich bin ein Freund.“ Sie schlug die Augen auf. „Wo ist er?“ Die Wehmut in ihrem Blick war unerträglich. Also wusste sie es nicht, also hatte der Unbekannte es ihr nicht gesagt.

„Er kann nicht mehr kommen, er...“ Ich merkte, wie sich jemand unserem Platz näherte. „Und zum Baden?“ fragte ich.

„Natürlich auch.“ Sie drehte sich noch einmal zum Regal und holte weitere Schachteln, um sie vor mich hinzustellen.

„Dies ist das Bade Öl, das ist sehr pflegend und intensiv im Geruch.“

„Genau das Richtige für meine Frau. Ich muss Sie sprechen.“ Sie nickte. Ich flüsterte, meinen Rücken so drehend, dass, wer immer neben mir stand, meinen Mund nicht sehen konnte: „Wann?“

„Überlegen Sie einen Augenblick“, sagte sie ruhig, drehte sich ebenfalls etwas zur Seite und antwortete: „Halb neun.“

„Wo?“

„Giacometti.“

„Ich glaube, ich nehme das.“

„Dann gebe ich Ihnen von der Creme noch eine Probe mit. Ihre Frau kann ja auch selber gern einmal hereinschauen.“

 

Giacometti. Ich wusste nicht, was oder wo Giacometti war. Es gab in dieser Stadt so viele Italiener, Restaurants, Eisdielen. Mein erster Impuls war, Schröder zu fragen. Aber das wäre natürlich in höchstem Maße töricht gewesen. Stattdessen suchte ich eine der kleinen öffentlichen Infozellen auf und gab Giacometti in den Computer. Sieben Eintragungen, keine Gastronomie, kein öffentlicher Treffpunkt irgendwelcher Art. Sieben Nachfahren von irgendeinem Giacometti. Aber Giacometti war nicht irgendeiner. Wer war Giacometti? Was wollte sie mir sagen? Oder wollte sie mich gar nicht treffen, wollte sie mich los sein? Es war zu spontan gekommen, sie hatte nicht überlegen müssen, um mich auf eine falsche Fährte zu locken. Es kam sehr gezielt aus ihr heraus: Giacometti.

 

Ich ließ den Computer noch einmal suchen, diesmal nicht in Verbund mit Adressen:  Giacometti, Alberto, schweizerischer Bildhauer, Maler, Zeichner und Graphiker. Es gab ein Werk von ihm in unserem Museum für befreiende Kunst. Ob sie das meinte? Treffpunkt im MBK? Vielleicht war dieser Giacometti in einem besonderen Raum untergebracht, der sich für ein Treffen eignete? Ich suchte noch ein bisschen weiter, fand aber sonst keinen brauchbaren Hinweis mehr, der mir weitergeholfen hätte.

 

Ich weiß nicht, wie ich den Tag überstanden habe, die Gedanken zum Tag über den inneren Feind, die Becker gestern ohne Abstriche akzeptiert hatte, fanden allgemein große Aufmerksamkeit. Irgendwann traf ich auf Schröder, der bemerkte, dass die schlimmsten Feinde in der Tat die seien, die von innen her am System rüttelten. Es sei gut und richtig und langsam überfällig, dass wieder einmal darauf aufmerksam gemacht würde. Man werde sonst zu lasch, verlöre die Aufmerksamkeit, die allein doch den Schutz gegen alle möglichen Gefahren böte. Es war eine der längsten Ansprachen, die Schröder je in meiner Gegenwart gehalten hatte. Ich versuchte, in seinen Worten zwischen den Zeilen und schließlich in seinem Gesicht zu lesen, was er mir eigentlich sagen wollte, aber sein Gesicht blieb verschlossen wie immer.

„Schröder“, fragte ich ihn schließlich, „glaubst du, dass wir den inneren Feind immer erkennen, dass wir wirklich wissen, woher die schlimmste Gefahr droht?“ Wir waren allein, das heißt, fast allein. Natürlich saß die Sekretärin im vorderen Teil des Raumes, der mit meinem Büro direkt verbunden war, und hinten trieb sich sicher irgendwo Hülscher herum. Außerdem wusste man natürlich nicht, ob sie einen abhörten. Aber ich hatte nichts Unbilliges gefragt, und Schröder würde wie immer untadelig antworten. Allerdings hatte ich ihn bittend, fast flehend angeschaut, weil ich wissen wollte, ob er mir noch eine Chance gab. Und er hielt meinem Blick stand, so dass ich ganz sicher war, er hatte mich verstanden, und dann antwortete er: „Ich glaube nicht, Böll, Gefahren lauern überall. Selbst wo wir sie am wenigsten vermuten. Wir können uns nicht vollständig schützen. Das einzige, was hilft, ist absolute Aufmerksamkeit. Wir dürfen einfach nicht nachlassen in unserem Bemühen, ihn zu erkennen und auszumerzen. Aber“, er machte eine kleine Pause, „es ist schwer, zu siegen. Ich glaube, wir können es nur als Gesamtheit packen. Jeder von uns allein läuft Gefahr, dem Feind immer wieder zu erliegen. Deswegen ist dein Artikel ja so wichtig.“

Also gab er mir keine Chance. Er sah, dass ich allein war. Dass nicht nur Spengler und Konsorten gegen mich sein würden, sondern er hatte auch begriffen, dass Arena und Becker mich fallen lassen würden, wenn sie mich benutzt und erreicht hatten, was sie wollten.

 

Wenn ich ihn nur nach den Klonen hätte fragen können, wenn ich nur auf Wallrafs Atomisierung hätte anspielen können.

„Hast du schon die Zeitung gelesen?“ fragte ich beiläufig, „irgendetwas Besonderes?“

Aufmerksam blickt er mich an. „Nein“, sagte er langsam, und ich sah, dass er darüber nachdachte, worauf ich anspielte, was ich wissen wollte, „ich glaube nicht.“ Einen Moment ging es mir durch den Sinn, ihn nach neuen Waffen zu fragen, dann ließ ich es bleiben.

„Na schön“, sagte ich, „ich werde noch einen kurzen Bericht über das Hupkonzert schreiben, ich habe es Franca versprochen.“

 

Ich fieberte dem Abend entgegen, hoffend, dass meine Überlegungen, Giacometti betreffend, richtig gewesen waren.

 

Das Museum für befreiende Kunst hatte, wie alle anderen Museen, täglich bis 22 Uhr auf. Es herrschte sehr viel Betrieb. Es gab natürlich eine Veranstaltung, bei der mehrere Künstler um die Gunst des Publikums wetteifern mussten. In den oberen Räumen der turmartigen Architektur herrschten schrille Schreie der Anerkennung und Missbilligung. Diese direkte Künstlerbeschimpfung gehört zu den besonders beliebten Events. Die Werke derjenigen, die unterliegen, werden sofort im Museumsofen verbrannt. Manchmal dürfen Installationen, die dem Publikum nicht gefallen, an Ort und Stelle kurz und klein geschlagen werden. Ich wunderte mich, wieso Maria gerade diesen lauten Ort ausgesucht hatte, aber ich nahm an, dass ihre Strategie der von Wallraf ähnlich war, der auch immer den Schutz in der Menge gesucht hatte.

 

Ich wusste, dass in den oberen Etagen nur zeitgenössische Kunst ausgestellt wurde. Objekte aus dem vorigen Jahrhundert – und Giacometti stammte noch aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, würden sich im Keller befinden, wo man eine kleine Abteilung mit wechselnden Ausstellungen nostalgischer Sujets aus der eigenen alten Sammlung bereithielt. Die Abteilung war durchaus überschaubar, und es gab hier kaum Besucher. Ich fand keinen Giacometti. Irritiert stieg ich wieder die Stufen zum Eingangsbereich hoch. Ich musste mich geirrt haben. Ich hatte sie falsch verstanden. Enttäuscht dachte ich, dass ich sie eben noch einmal in ihrem Kosmetiksalon aufsuchen würde, selbst auf die Gefahr hin, ihren Kolleginnen langsam verdächtig zu werden. Im Hinausgehen sah ich es, ein kleines Schild: „Giacometti empfiehlt heute:“ Es war ein winziges Stehcafé, direkt neben dem großen Buchladen. Man konnte es sehr leicht übersehen.

 

Maria stand an einem der beiden Tische in der hintersten Ecke. Das Café war sonst leer. Der Mann hinter der Theke sah müde und gleichgültig aus. Ich nahm irgendetwas zu essen und wollte mich zu ihr gesellen. Sie deutet auf den Tisch, der neben ihrem stand, nicht weit von diesem entfernt. Ich stellte mich so, dass ich mit dem Gesicht zur gegenüberliegenden Wand stand, so dass ich Maria links, den Eingang der kleinen Nische rechts im Blickwinkel hatte. Sie stand im rechten Winkel zu mir, den Blick frontal auf den Eingang gerichtet.

„Ich bin froh, dass Sie es gefunden haben“, sagte sie, „hinterher fiel mir ein, dass Sie es wahrscheinlich nicht kennen, oder doch? Aber es musste so schnell gehen, heute Mittag.“ Sie stocherte in einem Teller mit Spaghetti, der vor ihr stand.

„Waren Sie mit Wallraf hier?“ Sie nickte.

„Warum hier?“

„Er geht gern zum Dom und auch in die Museen, und hier, glaubt er, sind keine Kameras und dergleichen. Hier können wir uns einigermaßen ungestört unterhalten. Sonst weiß man häufig nicht – aber hier – er ist ganz sicher, dass hier nichts passieren kann. Sie beobachten das große Restaurant und die einzelnen Stockwerke, aber nicht dieses kleine Stehcafé.“

Ich konnte nicht umhin, zu denken, dass das naiv war. Andererseits schien Wallraf wirklich gut Bescheid zu wissen – wenn man davon absah, dass er zum Schluss den Kampf doch verloren hatte.

„Was ist mit ihm?“ fragte sie jetzt voller Unruhe, und wieder flatterten ihre Augenlieder.

„Maria...“, begann ich.

 „Warum hat er das getan?“ unterbrach sie mich, „warum hat er Ihnen meinen Namen gesagt?“ Ihre Stimme klang vorwurfsvoll, verletzt.

„Bitte, glauben Sie mir, er hat es nicht getan, um ihre Geheimnisse zu verraten – aber er hat mir ihre Geschichte erzählt, seine.“ Ich sah ihre wundervollen Augen auf mich gerichtet. Ich hätte sagen wollen: ‚Du brauchst keine Angst zu haben, ich bin bei dir, meine Liebste, ich werde immer für dich da sein, ich werde dich nie verlassen, ich will alles für dich tun, ich will dich glücklich machen!‘ Aber natürlich tat ich das nicht, und es war mir durchaus bewusst, wie völlig absurd das gewesen wäre. Ohne Zweifel hätte sie sich auf dem Absatz herumgedreht und mir das bisschen Vertrauen entzogen, das ich gerade aufzubauen begonnen hatte.

„Wussten Sie“, fragte ich stattdessen und versuchte, meiner Stimme einen möglichst behutsamen Ton zu geben, „dass Wallraf ein Klon war?“ Ihre Augen zogen sich in Unverständnis zusammen, dann weiteten sie sich vor Entsetzen.

„Ein Klon?“ fragte sie fassungslos zurück, „war?“ Ich blickte zum Eingang, zu dem Mann hinter der Theke. Er beachtete uns nicht, wir waren allein.

„Wissen Sie, was ein Klon ist?“ Sie schluckte, trank einen Schluck von ihrer Cola Super, senkte die Augen, sah mich zweifelnd an, blickte zur Seite und sagte schließlich: „Ich glaube schon.“

Ich versuchte eine gewisse Aufforderung in meinen Blick zu legen, weil ich wissen wollte, ob sie die Tragweite dessen, was ich gesagt hatte, für ihre eigene Person, für ihr Leben begriffen hatte.

„Ein Klon“, sagte sie nach einer kleinen Weile, „ist eine identische Verdopplung eines bestimmten Lebewesens, einer Pflanze, eines Tiers oder – “ sie stockte.

„Eines Menschen“, ergänzte ich und wartete ab.

„Menschliche Klone“, sagte sie nach einer Weile, als reflektiere sie einen Lexikonartikel oder genauer: eine Anweisung aus einem offiziellen Regierungsblatt, „menschliche Klone gibt es eigentlich nicht. Sie sind allerdings sehr gefährlich, sagt man, wenn sie doch existieren. Sie sind wie eine Waffe, die man nicht kontrollieren kann.“ Sie sah wieder auf ihren Teller. Tränen füllten ihre Augen. „Was heißt war?“ fragte sie noch einmal.

Statt direkt auf ihre Frage zu antworten, sagte ich: „Menschliche Klone sind in erster Linie Menschen, Maria, das müssen Sie verstehen. Sie dürfen keine Angst haben und keine falschen Schlüsse ziehen. Was immer die Regierung uns glauben machen will, ich bitte Sie in erster Linie, sich folgendes vor Augen zu halten: Es ist schrecklich, dass man diese armen Wesen gezüchtet und sie dann so allein gelassen hat. Wallraf – K2, hat sehr gelitten, müssen Sie wissen. Man hat ihn als identische Kopie seines Bruders geklont und sein ganzes Leben lang hat er sein wollen, wie dieser, weil er war wie er. Aber er hat sein Leben nicht leben dürfen. Verstehen sie das?“

„Nein“, sagte sie, und ich hörte die Angst in ihrer Stimme. „Wer ist K2?“

„Wenn Sie mir versprechen, ruhig zu bleiben, sich wenigstens zu bemühen, sage ich es Ihnen, aber nur dann.“ Sie schluckte die Tränen herunter und versprach es.

„Ich will es versuchen.“

„Es hat zwei Brüder gegeben, K1 und K2. K1 war ein normal zusammengestelltes Kind, von dem man, als es bereits im Körper seiner Austrägerin sich gesund entwickelte, einige Zellen nahm, aus denen man einen Klon des ersten Geschöpfes entwickelte, das man in einem anderen Aufzuchtkörper aufwachsen ließ. Das war vor 33 Jahren.“ In ihren Augen bemerkte ich das erste erschreckende Verstehen. „Die beiden wurden unter der Kontrolle der Regierung zu Versuchszwecken großgezogen. Und sie hatten unter ihrer Identität zu leiden. Es war, wenn ich das richtig verstanden habe, anders als bei Zwillingen, die, auch wenn sie eineiig sind, die Chance haben, sich unterschiedlich zu entwickeln. Das kennen Sie sicher. Zwei Kinder, Mädchen vielleicht, sehen sich sehr ähnlich, manchmal betonen sie es noch durch die Kleidung. Aber wenn Sie genau hinsehen, entdecken Sie, dass die eine ein wenig dicker ist als ihre Schwester, oder die Augen der einen glänzen, während die der anderen stumpf bleiben. Und sie können gänzlich unterschiedliche Charaktere haben. Aber diese beiden, von denen wir hier reden, hatten diese Möglichkeit nicht. Was immer sie taten, sie waren sich in allem gleich. Vielleicht, so kann man sich vorstellen, hat K2, der Klon, noch mehr gelitten als K1, das Original. Denn bei allem war es K1 erlaubt, ein Leben nach seinem Geschmack zu leben, während K2 dem Zwang der Wiederholung ausgesetzt war. Zwar empfand er genau wie sein Bruder, aber er konnte nicht frei wählen, nicht als erster leben, sondern bevor er wusste, was er wollte, war immer bereits für ihn entschieden.

 

Die beiden sind eines Tages, da waren sie etwa 18 Jahre alt, geflohen. Es ist ihnen tatsächlich gelungen, einen Platz im Leben unserer Gesellschaft zu finden und ihn so auszufüllen, als gehörten sie dazu. Das war natürlich ziemlich kompliziert, und sie haben sicher Freunde gehabt, die ihnen dabei halfen, Identitätsnummern zu bekommen, einen Arbeitsplatz und dergleichen. Aber das löste ihre Probleme nicht wirklich. Das Original wollte sich definitiv von seinem Klon trennen. Er konnte diese Verdopplung nicht mehr ertragen, erlaubte ihm nicht mehr, in seine Nähe zu kommen. Er tauchte in der Normalität ab und nannte sich Wallraf. Er war Fahrer in einem Möbelgeschäft. Eines Tages lernte er eine Frau kennen, Zeta. Aber der Name gefiel ihm nicht, er war kalt und nichtssagend. Er nannte sie Maria. Die beiden liebten sich über alles, ein in unserer Gesellschaft sehr ungewöhnlicher Zustand. In ihrer Liebe fanden sie eine Nische, die sie von allen anderen absonderte, und eine Weile schien es so, als könne niemand ihr Glück stören.“

Maria war bleich geworden wie eine Wand.

„Wie lange waren Sie glücklich mit ihm?“ wagte ich zu fragen.

„Lange“, antwortete sie leise. „Sehr lange“.

„Und wann fing es an, anders zu werden?“

 

Einen Augenblick denke ich, dass ich jetzt einen Schritt zu weit gegangen bin. Sie beginnt zu zittern, hält sich an dem Stehtisch fest, so gut sie kann und fängt dann hemmungslos an zu weinen. Mir ist völlig egal, ob uns jemand beobachtet und was der Mann hinter der Theke denkt. Mit einem Satz bin ich bei ihr, halte sie in den Armen, lege tröstend, schützend einen Arm um ihre Schultern, so dass ihr Kopf an meiner Schulter ruht, wo die Tränen immer noch strömen. Ihr Haar berührt mein Kinn, und wenn ich den Kopf senke, was ich tue, um beruhigende Geräusche zu machen, während meine Hände über ihren Rücken streicheln, berühren meine Lippen die haselnussbraune Seide, von der ihr wunderbarer, betörender Duft aufsteigt. Ich schließe die Augen, um diesen Augenblick zu genießen, und obwohl mir ihr Schluchzen ins Herz schneidet, bin ich gleichzeitig angefüllt von einem so tiefen, nie gekannten, berauschenden Glücksgefühl, dass ich weiß, wenn sie in diesem Augenblick kämen, um Maria und mich zu atomisieren, in leise rieselnde Asche zu verwandeln, wie sie es mit Wallraf gemacht haben, wäre mein Leben erfüllt. Ich könnte ewig so stehen bleiben. Ich merke, wie die Tränen langsam weg ebben. Immer noch bleibt sie bei mir stehen, versucht nicht, sich aus meiner Umarmung, der Umarmung eines Fremden, zu befreien. Ich habe aufgehört, beruhigende Geräusche zu machen, stattdessen liebkosen meine Lippen selbstvergessen ihr Haar, und: „Ach, Maria“, murmele ich und darin liegt gleichzeitig alle Seligkeit des Augenblicks und alle Hoffnungslosigkeit der Zukunft. Ach Maria. Langsam beginnt sie sich zu bewegen und ich weiß, jetzt muss ich sie loslassen oder sie wird mir nie wieder erlauben, ihr nah zu sein.

 

Noch immer stand meine Frage im Raum: Wann fing es an, anders zu werden?

„Es muss vor etwa drei Jahren gewesen sein“, hörte ich ihre kleine, verzweifelte Stimme. „Ich habe es erst gar nicht gemerkt, aber dann –“ dunkle Schatten lagen über ihrem Blick. Ich befürchtete, sie würde wieder zu weinen anfangen. „Er war plötzlich so anders – ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll.“

„Er war ein anderer“, brachte ich hervor. Sie bekam Schluckauf.

„Es ist unfasslich. Was ist passiert? Was hat dieser –“ sie zögerte, ihn einen Klon zu nennen. Sie hätte Teufel sagen wollen, und natürlich tat mir K2 leid, denn sie hätte ihn niemals geliebt, niemals auch nur akzeptiert, dass er ein menschliches Wesen war, schon gar nicht, wenn sie erfuhr, was er wirklich getan hatte, um ihr nahe zu sein.

„Was hat er mit ihm gemacht?“

Wenngleich es feige war, mich dahinter zu verschanzen, war ich froh, dass ich wahrheitsgemäß antworten konnte: „Ich weiß es nicht.“

Sie insistierte nicht. Es war klar, dass er, wie auch immer, seinen Bruder, seinen Widersacher, sein anderes Ich, Marias Geliebten, seinen Todfeind, endgültig aus dem Weg geräumt hatte, um in seine Rolle zu schlüpfen. Ich wusste, dass es keinen Erfolg haben würde, aber ich dachte, dass ich es ihm schuldig war und versuchte noch einmal, Verständnis für ihn in Maria zu wecken.

„Er hat es aus Verzweiflung getan, seine existenzielle Not war einfach unvorstellbar, Maria, Sie dürfen ihn nicht verurteilen, wenigstens nicht wie man einen Menschen verurteilen würde!“ Jetzt hatte ich es doch gesagt. Ich wollte es nicht. Sie sah mich mit bitterem Schmerz an, und ich hörte sie fast schluchzen. „Sie sagen es selbst, er war kein Mensch. Er war ein Ungeheuer, ein Klon! Oh, mein Gott! Wie soll man sich davor schützen? Warum warnen sie einen, wenn sie einem nicht gleichzeitig Mittel an die Hand geben, sich zu schützen! Wie hätte ich ihn erkennen sollen, wie? Oh, mein Gott!“ Sie verlor jetzt wieder die Fassung.

„Er hat meinen Mann umgebracht, und ich habe drei Jahre mit dem Mörder meines Mannes gelebt!“

 

Ich nahm sie wieder in die Arme und versuchte, sie aufzufangen in ihrem Entsetzen. Eine Weile standen wir so. Sie weinte nicht mehr, sie sprach nicht mehr. Ich hielt sie ganz still, darauf bedacht, meine Lippen nicht wieder über ihr Haar streichen zu lassen und atmete stattdessen ihren Geruch ein und fühlte sie wie einen kleinen verängstigten Vogel, dessen Herz mit Macht schlägt, wenn man ihn locker in der Hand hält. Schließlich straffte sich ihr Körper, und sie fragte mit einer gewissen Entschiedenheit: „Wo ist er jetzt?“

„Er existiert nicht mehr. Sie haben ihn ausgelöscht. Sie haben ihn gestern in dem Zentralcafé vor dem Salon, in dem Sie arbeiten - atomisiert.“

Der Ausdruck auf ihrem Gesicht verriet ein kindlich-gläubiges Erstaunen über das, was sie da hörte. Es schien ihr ganz offensichtlich ein angemessenes Ende für das unmenschliche Wesen, das sie drei Jahre missbraucht hatte, und nicht einmal das Wort ‚atomisieren‘ verursachte ihr ein Gruseln.

„Also sind sie jetzt beide...“ Ich nickte. Sie stand ratlos. Jeden Augenblick würden wieder Tränen fließen.

 

Jetzt kam der Moment, auf den ich seit Tagen, ja eigentlich seit der Zeit, als Wallraf sie zum ersten Mal erwähnte, hingelebt hatte. Ich sagte: „Haben Sie jemanden, der sich um Sie kümmert?“ Ich dachte an den Unbekannten, der vielleicht ein Freund auch von Maria war, aber sie schüttelte verneinend den Kopf.

„Ich weiß nicht, ob Sie verstehen, dass Sie in großer Gefahr sind. Man hat Wallraf – ich meine K2, den Klon, der sich in ihr Leben geschlichen hat, schon längere Zeit beobachtet. Und wenn man ihn jetzt vernichtet hat, dann deswegen, weil man ihn für eine große Gefahr hielt. Und alle, die mit ihm zu tun hatten, an erster Stelle seine Frau.“

Ihre Augen weiteten sich vor Empörung, sie wollte widersprechen, aber ich fuhr fort: „Sie gelten als seine Frau, Sie hätten sich bis gerade eben noch als seine Frau ausgegeben. Alle, die mit ihm zu tun hatten, geraten in Verdacht, ihm geholfen zu haben, gewusst zu haben, wer er war. Wenn Sie drei Jahre mit ihm zusammen gewesen sind, können Sie niemandem glaubhaft machen, dass Sie nicht gewusst haben, wer er war.“ Jetzt weinte sie wieder heftig. Aber ich nahm sie nicht in die Arme.

„Was kann ich tun?“

 

Ich schluckte, ehe ich mit fester Stimme sagte: „Fliehen Sie mit mir, Maria!“ 

15

 

Langsam spüre ich die Gefahr überall. Sie kriecht durch die Straßen, in denen zurzeit wegen des seit einigen Tagen anhaltenden Sommerregens wenig los ist. Es ist nicht ratsam, sich mehr als nötig dem sauren Regen auszusetzen, der bisweilen Verätzungen auf der Haut bewirkt und, wenn man nicht die entsprechende Regenkleidung anhat, kleine Löcher in die unpräparierten Stoffe beißt.

 

Die Gefahr kriecht aber auch durch die Redaktion. Ich begegne wenig Leuten, nur solchen, denen man nicht ausweichen kann, wie dem Pförtner oder meiner Sekretärin. In der Kantine sitzen weniger Menschen als sonst, ebenso in den Lesesälen und Aufenthaltsräumen. Und ich habe das deutliche Gefühl, dass man allgemein weniger mit einander spricht, dass man noch mehr als sonst bemüht ist, für sich zu bleiben.

 

Ich glaube auch, dass irgendetwas im Gange ist, dass unterschwellige Bewegungen für Abläufe und Veränderungen sorgen, von denen ich noch weniger mitbekomme als gewöhnlich. Als einfacher Schönschreiber hatte ich früher natürlich keinerlei direkten Draht zum Zentrum des Geschehens, außer hin und wieder durch Arena. Die habe ich seit unserem Zusammentreffen bei Dr. Becker überhaupt nicht mehr gesehen. Aber jetzt bin ich kein einfacher Schönschreiber mehr, mir obliegt es, die ‚Gedanken zum Tage‘ zu formulieren. Ich sollte selber im Zentrum der Macht stehen, ich müsste als einer der ersten über wichtige Veränderungen, über anstehende Neuerungen informiert werden. Stattdessen finde ich Beckers Anweisungen jeden Morgen im Computer. Auch meine Texte schicke ich ihm jetzt per Computer runter. Er hat aufgehört, mich zu sich kommen zu lassen. Dennoch weiß ich, dass er meine Texte schätzt. Sie werden immer nahezu unverändert übernommen.

 

Und dann Schröder. Ich sehe ihn kaum noch. Schröder, der irgendwie über mich zu wachen schien, der mich beobachtete und mich begleitete, der manches Mal, wenn ich von irgendwelchen Ausflügen und erst recht von den Zusammenkünften mit Wallraf in die Redaktion zurückkam, plötzlich unten im Eingangsbereich auftauchte, um mir wichtige Informationen und sogar Warnungen zukommen zu lassen. Schröder kümmert sich gar nicht mehr um mich. Wir treffen uns nur noch ganz selten und wirklich wie zufällig. Wir reden kaum noch miteinander. Richtig aufgefallen ist es mir erst, als wir kürzlich mit Classen aus Schröders Abteilung im Fahrstuhl standen und Classen sagte: „Das mit den ,Gedanken zum Tage‘ machen Sie echt klasse, Böll, das wollte ich Ihnen nur noch mal gesagt haben, die lese ich jetzt sehr gern, sind nicht mehr so trocken.“ Und er nickte mir anerkennend zu. Es war nicht nur ein deutliches Kompliment, sondern auch ein Tadel an Spengler. Man traute sich, Bewertungen auszusprechen. Spengler war out. Wer weiß, wer zu seiner Fraktion gehörte. Die hatten jetzt jedenfalls das Nachsehen.

 

Da hörte ich, wie Schröder sagte: „Stimmt, echt klasse!“

 

Ich habe lange darüber nachgedacht, was ich davon halten soll. Noch niemals hat Schröder eine solche Bemerkung gemacht, schon gar nicht zu mir. Wenn er nichts zu sagen hat, hält er den Mund. Das tut er sehr häufig. Wenn er etwas sagt, bedeutet es etwas ganz Bestimmtes, etwas, das sich trivial anhören mag und das noch lange nicht jeder versteht. Aber es steckt ein tieferer Sinn dahinter, und ich verstehe ihn meistens eben doch. Das aber, dieses ‚stimmt, echt klasse‘, klingt aus Schröders Mund wie eine Verhöhnung. Verhöhnt hat er mich nie. Ich habe auch seitdem das Gefühl, dass er sich eher an Classen hält als an mich. Zum Beispiel gehen die beiden jetzt häufig zusammen zum Mittagessen, während Schröder mich nicht mehr abpasst wie früher. Aber ich weiß natürlich nicht, ob das wirklich stimmt, oder es nicht vielleicht nur Zufall ist. Vielleicht waren wir in der letzten Zeit zu häufig zusammen, vielleicht gehört das zu einer Strategie der Ablenkung. Denn wenn sie begreifen, dass wir uns bei allem doch recht nahegekommen sind, so nah, dass ich immerhin schon manchmal denke, dass Schröder mein Freund ist, kann uns das nur schaden. Ich beschließe, abzuwarten, aber das ungute Gefühl bleibt.

 

Manchmal sitze ich in meinem Büro und träume von Maria. Sie ist tatsächlich mit unserer Flucht einverstanden. Ich habe ihr im Grunde sehr bewusst Angst eingejagt, als ich behauptete, man würde sich ihrer ohne weiteres bemächtigen, da man Wallraf erst einmal erledigt hatte. Eines ist klar, wenn Maria dran ist, bin ich es auch. Wenn sie Wallraf wirklich über längere Zeit beobachtet haben, werden sie auch hinter unsere Zusammenkünfte gekommen sein. Wenn ich tatsächlich die Hoffnung habe, dass das vielleicht doch nicht so ist, dann weil ich mir nicht vorstellen kann, dass sie geplant haben, ihn auf diese Weise zu töten. Das war zu spektakulär, zu öffentlich. Und auch wenn alle Kellner am nächsten Tag so getan haben, als sei nie etwas gewesen und die Menschen sich anscheinend völlig unbefangen in dem Café bewegten, so konnte man ganz sicher sein, dass es zahlreiche und genaue Berichte von dem, was sich da abgespielt hatte, geben würde und dass sich die Kenntnis des neuen Waffentyps in Windeseile verbreiten würde. Das wollten sie ursprünglich sicher nicht riskieren.

 

Vielleicht kam dieses Gefühl von überall lauernder Gefahr auch gerade daher, dass mit Wallrafs Atomisierung etwas unbeabsichtigt in Gang gekommen war, das sich jetzt nicht ohne weiteres mehr kontrollieren ließ.

 

Jedenfalls war sie wirklich einverstanden. Vielleicht war ich der einzige Mensch, dem sie trauen konnte, vielleicht wollte sie von mir mehr über ihren Mann, den ersten, das Original erfahren, oder, wer weiß, sogar auch über den Klon, der ihr Leben so vollständig verändert oder sagen wir es ruhig, ruiniert hatte.

 

Ich bin zwar der Überbringer der schlechten Nachricht, aber ich bin sicher auch der einzige, der eine Brücke zu ihrem bisherigen Leben schlagen kann. Sie hatte sehr zurückgezogen gelebt mit ihren beiden Männern. Sie hatten praktisch keine Freunde, was natürlich mit der Tatsache zusammenhängt, dass K1 und K2 geflohen waren und keine rechtmäßige Identität besaßen. Ich fragte sie nach dem mit dem groben Gesicht. Aber sie konnte sich nicht erinnern, ihn wirklich schon einmal gesehen zu haben. Ich fragte, ob ihr Mann – der eine wie der andere – manchmal ohne sie weggegangen sei und ob es da einen besonderen Ort, irgendeinen Treffpunkt auch zweifelhafter Art gegeben habe, den sie nennen könne. Denn ich dachte, dass wenn wir fliehen und uns eine neue Identität geben wollten, wir sicher auf die Hilfe anderer, solcher wie des Unbekannten, der offensichtlich ein Eingeweihter war, angewiesen sein würden. Sie versprach, darüber nachzudenken. Wir brauchten beide Zeit, um uns an den Gedanken der Flucht zu gewöhnen, um Vorbereitungen zu treffen, um in uns die Bereitschaft zu einem solchen Wagnis wachsen zu lassen. Andererseits durften wir nicht zu lange warten, das war ganz offensichtlich. Wir verabredeten uns für den Freitag, den Tag vor dem Ov-Ov-Festival. Die ganze Stadt würde ihre Aufmerksamkeit auf das Ereignis gerichtet haben und wir hätten eine umso größere Chance, uns unauffällig davonzumachen.

 

Die Frage, die wir uns stellen mussten, deren Beantwortung wir allerdings schuldig blieben, war: wohin? Wohin um alles in der Welt konnten wir fliehen? Egal, ob wir in unserer Stadt blieben, die allein durch ihre enorme Größe unter Umständen die Möglichkeit eines Unterschlupfes bot, oder ob wir eine andere Stadt auswählten – wir brauchten eine neue Identitätsnummer, ohne die wir keine Arbeit und keine Wohnung finden würden. Unser bisheriges Leben aber, mit all seinen Annehmlichkeiten und Beschwernissen würden wir hinter uns lassen müssen, das war uns klar. Es war Maria, die bei unserem zweiten Treffen mit sehr zaghafter Stimme darauf bestanden hatte, zu klären, wohin wir tatsächlich gehen wollten, und sie hatte natürlich Recht. Also mussten wir den mit dem groben Gesicht finden. Ich drang noch einmal auf sie ein, sich an jeden zu erinnern, der mit ihrem Mann Kontakt gehabt hatte.

 

Mir selber ist es im Innersten gleichgültig. Ich bin unbeschreiblich glücklich und überlasse mich, auch wenn das natürlich völlig unverantwortlich ist, einfach dieser Empfindung: Ich denke, wenn ich mit Maria fliehe, wird sie bei mir sein, an meiner Seite, dann wird einfach alles so sein, wie es sein sollte. Ich kann nicht wirklich über diesen einen wesentlichen Punkt hinaus Pläne machen. Ich bin völlig ausgefüllt von diesen neuen Gedanken, die um Maria kreisen, von diesem allumfassenden Gefühl, sie zu sehen und in ihren Augen zu versinken, ihre Stimme zu hören, mit ihr zu sprechen, sie zu riechen und ihr ein Lächeln zu entlocken, das sie mir manchmal aus all ihrer Traurigkeit heraus doch schenkt. Und ab und zu, nicht mehr so intensiv wie bei unserem ersten Treffen, als sie sich hemmungslos schluchzend meinen Armen überlassen hatte, aber doch ab und zu kann ich sie berühren, ihren Arm fassen oder ihre Schulter, wie im Affekt oder zum Schutz. Einmal habe ich sogar ihr Haar zurückgestrichen, das so schwer nach vorne fällt und jeder Bewegung ihres Kopfes folgt. Und sie ließ es geschehen. Ich weiß, dass ich Geduld haben muss, dass ich nicht erwarten kann, dass sie meine Gefühle so schnell erwidert. Aber ich weiß auch, dass ich diese Geduld haben werde und dass sie mich zum Ziel führen muss.

 

Wenn meine Großmutter Maria gekannt hätte, hätte sie sie geliebt. Sie hätte uns beide geliebt, weil wir für sie sicher verkörpert hätten, woran sie in all ihrer Unschuld, in all ihrer Altertümlichkeit bis zum bitteren Ende glaubte, mit all ihren Werten, die noch aus dem 20. Jahrhundert zu uns herüber wehten wie Staubflocken unter dem Bett, die man mit dem Mopp hervorholt: Liebe, Zuneigung, Menschlichkeit. Ach, hätte ich mit Maria ein Kind zeugen dürfen!

 

Es ist klar, dass wir ohne die Hilfe des Unbekannten nicht weiterkommen werden. Irgendwie muss es uns gelingen, ihn aufzutreiben. Wir haben keine vierzehn Tage mehr.

 

Es braut sich etwas zusammen. Und wegen Schröder mache ich mir echt Sorgen. Ich sehe ihn jetzt wirklich kaum noch. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das alles nur Taktik ist.

 

Dann kam der Moment, in dem ich zu ahnen begann, dass etwas definitiv mit Schröder nicht stimmen konnte. Ich holte ihn gegen unsere sonstigen Gewohnheiten in seiner Abteilung ab, weil wir uns gemeinsam einen Lichtbildervortrag ansehen wollten, zu dem wir uns vor längerer Zeit verabredet hatten. Es ging um die Weiten Sibiriens, Schröders Gebiet: Reise und Erholung.

 

Normalerweise kommt Schröder auf dem Weg zum Fahrstuhl an meiner Abteilung vorbei, so dass unsere Treffen, auch unsere Verabredungen eigentlich immer etwas Zufälliges haben oder auch Selbstverständliches, etwas, das sich irgendwie von selbst ergibt, nicht auffällt. So haben wir es all die Jahre gehalten, ohne je darüber zu sprechen.

 

Wenn ich also jetzt zu Schröders Abteilung nach hinten ging, war das eine deutliche Abweichung von unseren sonstigen Gewohnheiten. Es war aber schon ziemlich spät, und ich wollte die Gelegenheit nicht verpassen, in Ruhe neben ihm sitzen zu können, seine beruhigende Aufmerksamkeit zu spüren, die Sicherheit seiner Informationen. Erst jetzt, wo ich unsere gemeinsamen kleinen Gänge bereits längere Zeit entbehren musste, fiel mir auf, wie sehr ich Schröder für mein Wohlbefinden und meine innere Ausgeglichenheit brauchte. Als ich die Abteilung betrat, sagte er: „Ach du bist es, Böll, hallo.“  Dann ging er seelenruhig weiter seiner Beschäftigung nach, und ich hatte das deutliche Gefühle, dass es ihm weder merkwürdig vorkam, dass ich mich überhaupt in seiner Abteilung blicken ließ, noch schien er im Geringsten anzunehmen, dass ich vielleicht seinetwegen gekommen sein könnte.

 

Eine Alarmglocke begann in meinem Kopf zu läuten, leise erst noch und unsicher, um welche Art von Gefahr es sich handeln könnte, aber doch immerhin so deutlich, dass ich sie nicht übergehen konnte. Ich sagte: „Tag, Schröder, woran sitzt du gerade?“ Er blickte eine Sekunde irritiert von seinem Computer auf, als ich ihn ansprach und antwortete dann: „Malediven. Dort soll ein neues Zentrum für die Redaktion aufgebaut werden. Das alte soll abgerissen werden, es taugt überhaupt nicht mehr, es ist fast zehn Jahre alt. Sie werden es sprengen. Wir bekommen ein phantastisches neues Zentrum, ich habe hier die vollständige Simulation, willst du mal sehen?“

 

Ich war stumm vor Staunen. Schröder, der Stille, Schröder, der Vorsichtige, Schröder, der Abwägende, der, der nie ein Wort zu viel sagte, bei dem alles um die wirklich wichtigen Dinge, Eindrücke, Konsequenzen ging, saß hier vor mir, quatschte triviales Zeug und wollte mir die Simulation einer Ferienanlage auf den Malediven zeigen, die wir doch nie zu Gesicht bekommen würden. Ich konnte nicht glauben, dass das derselbe Mann war. Oder dachte er, dass ich mich, wenn ich erst stellvertretender Chefredakteur wäre, in Zukunft selber öfter dort rumtreiben könnte und die Anlage deswegen für mich von Interesse sein würde?

 

Wie ein Blitz durchschoss mich der Gedanke: Das ist nicht Schröder! Das kann nicht Schröder sein! Ich sagte: „Ist ja bemerkenswert, echt stark!“ somit einen Gesprächston imitierend, der niemals der unsrige war. Statt entsetzt oder zumindest fragend zu mir hochzublicken, der ich seitlich über ihm stand und mich zu seinem Bildschirm gebeugt hatte, grinste er: „Sag ich ja.“

Ich versuchte es mit unserer Verabredung: „Der Dia-Vortrag über Sibirien fängt gleich an.“

„Ach der“, machte Schröder, ohne von seiner Bildschirmspielerei aufzublicken. „Wäre sicher interessant.“

„Gehst du nicht?“ fragte ich vorsichtig.

„Oh, ich, äh…“ – unwilliges Achselzucken – „ich bin jetzt echt mit dieser total coolen Sache beschäftigt, Mann, sieh dir das an, du hast von deinem Zimmer aus ‚ne Verbindung zum Pool mit der zentralen Bar. Wenn du dir ‚nen Drink bestellst, kommt so eine Mieze bis vor dein Bett geschwommen mit dem Tablett, hier guck mal, die da!“ Ein Wesen, das ich vor einigen Wochen sicher noch als ideale Zusammenstellung verschiedener Genkomponenten angesehen hätte, und das ohne weiteres als Sekretärin in unserer Vorstandsetage hätte anfangen können, schwamm lächelnd durch den Pool auf ein Zimmer zu, in dem ein Mann, lässig auf seinem Bett liegend, auf seinen Drink wartete, der ihm von der schwimmenden Nixe auf einem Tablett balanciert ins Zimmer gebracht wurde. Andere Gestalten, die um den Pool gruppiert waren, sahen zu und freuten sich und klatschten Beifall. Schröder war völlig absorbiert in diesem kindlichen Theater.

„Geht keiner von Eurer Abteilung?“ fragte ich.

„Doch, klar, ich weiß nicht, doch, Classen, glaube ich.“

 

„Na gut“, sagte ich, „war wirklich interessant, das mal zu sehen, Schröder. Vielleicht ist es gar nicht schlecht, sich öfter mal gegenseitig zu informieren.“

„Klar“ antwortet er, aber es war ihm anzumerken, dass er nicht einmal richtig zugehört hatte.

 

Ich bin vollständig verwirrt. Ich gehe zurück in mein Büro und überlege. Schröder ist nicht mehr Schröder. Er sieht aus wie Schröder, er arbeitet in derselben Abteilung, er kann mit Schröders Programmen umgehen. Er funktioniert wie Schröder immer funktionieren sollte. Und es natürlich auch getan hat. Aber alles, was den Menschen ausmachte, was meinen Freund Schröder ausmachte – ich nenne ihn jetzt so, weil ich langsam begreife, in welch starkem Maß er wirklich immer mein Freund gewesen ist – all diese persönlichen Eigenschaften, sind wie weggeblasen. Mein Herz bleibt stehen, als ich es begreife: Sie haben ihn ausgetauscht. Der da ist nicht Schröder, der da ist Schröders Klon!

 

Ich erreiche die Toilette mit Mühe. Meine Eingeweide wollen sich komplett entleeren. Die Angst pumpt in mir, pumpt meinen Magen aus, so dass ich mich übergebe bis nur noch eine grünlich-braune Flüssigkeit aus mir hochsteigt und pumpt gegen mein Gedärm, das unter Schmerzen alles aus mir herauszupressen scheint, was ich je zu mir genommen habe. Ich kralle mich an den Toilettenwänden fest, ich kotze mit dem Kopf gegen die Wand ins Becken und irgendwo hin und habe das Gefühl, dass ich diesen kleinen, stinkenden Raum nicht mehr lebend verlassen werde.

 

Ich weiß nicht, wie lange dieser Zustand andauert. Lange.

 

Als nichts, wirklich gar nichts mehr aus mir rauskommt, obwohl es immer und immer weiter pumpt und drängt, gelingt es mir, mich ein bisschen zu fassen. Zitternd in den Beinen und am ganzen Körper, vor allem aber erschüttert bis ins Mark, versuche ich, mein Gesicht und meine Hände mit Wasser einigermaßen wieder hinzukriegen. Ich habe überall Sauereien gemacht, auf dem Boden, selbst an den Wänden und versuche jetzt mühsam, alles mit Papier und Wasser zu beseitigen. Gott sei Dank kommt in der ganzen Zeit niemand, dem ich Erklärungen abgeben müssten. Als ich einigermaßen fertig bin, setze ich mich auf den geschlossenen Klodeckel, um mich weiter zu beruhigen, ehe ich mich wieder in mein Büro wage.

 

Die Sekretärin ist längst gegangen. Hülscher arbeitet wie immer im Hintergrund. Ich habe ihn im Verdacht, dass er irgendwelche Bücher liest, während er vorgibt, zu dichten. Komisch, dass ich das in diesem Augenblick als tröstlich empfinde, einem Augenblick, in dem mir mehr als bei jeder anderen Gelegenheit der letzten Wochen der Boden unter den Füßen weggerissen worden ist. Hülscher ist wie ein Relikt aus einer bereits vergangenen Zeit. Er scheint noch der gleiche, während alles andere um mich herum begonnen hat, sich zu verändern, oder sich zu ersetzen. Vielleicht sind Hülscher und ich die beiden einzigen in der Redaktion, die noch sie selber sind. Irrwitziger Weise denke ich, wenn sie Hülscher klonen, dichtet er womöglich noch mehr Mist als vorher.

 

Was um alles in der Welt sollte ich tun? Ich setzte mich vor den Computer und versuchte, in mein Programm rein zu kommen.

 

PASSWORD

 

Was ich dann tat, kann ich nicht erklären. Ich tat es, weil es das einzig Logische schien, weil mir nichts anderes zu tun übrigblieb. Ich ging in die kleine Küche, die unserem Büro direkt gegenüber liegt und in der sowohl unsere Abteilung als auch die von der Annonce direkt neben uns Kaffee machen, oder mittags manchmal irgendeine Kleinigkeit. Eines der Obstmesser war spitz und scharf und hart genug. Ich nahm es, zusammen mit einem anderen Messer aus der Schublade, versuchte, es unauffällig in meine Jackentasche gleiten zu lassen. Mit dem anderen Messer schmierte ich mir eine alte Schnitte Brot, tat etwas Käse darauf, legte das Messer weg und mampfte an dem Brot. Ich hatte Angst mein Magen würde wieder rebellieren, aber er hielt stand. Ich kaute extra langsam. Ich setzte mich auf einen Stuhl, nahm eine Broschüre, die herum lag und fing an, darin zu blättern. Mag sein, dass diese Vorsichtsmaßnahme übertrieben war, aber meine Sinne waren einzig auf das Gelingen meines Plans gerichtet, und ich wollte kein Risiko eingehen. Ich weiß nicht, ob sie in der Küche eine Kamera haben. Ich habe noch nie eine bemerkt. Aber wenn – sollten sie mich nicht entdecken.

 

Als das Brot endlich runter war, trat ich meinen Weg an. Es war zu erwarten, dass Schuster noch in der Bibliothek war. Er hielt sich bekanntermaßen immer in der Bibliothek auf. Und es war zu erwarten, dass er um diese Uhrzeit allein dort war. Er schien erstaunt, mich zu sehen, sagte aber verhältnismäßig freundlich: „Soll ich dir jetzt noch Sachen raus legen? Ich dachte, du wärst fertig.“

„Ist schon okay, ich wollte nur mal wieder vorbeischauen. Wie geht’s denn so?“

Sein Blick wurde misstrauisch. „Gut“ antwortete er, kurz angebunden. Ich wies auf die Kamera, die über seinem Bildschirm angebracht war. „Wirst du die ganze Zeit beobachtet?“ Im ersten Augenblick schien er nicht zu verstehen. Dann sagte er. „Ach das, nein, ich weiß nicht. Ich glaube, sie machen sie hin und wieder an, aber ich habe keine Ahnung, wann sie es tun, vielleicht immer.“ Das letzte sagte er, weil er langsam zu ahnen begann, dass irgendetwas mit mir nicht stimmen konnte.

„Warum willst du das wissen?“

„Nur so, ich bin neugierig. Ich sehe mich um, wenn ich erst befördert worden bin, werde ich die Dinge sowieso von der anderen Seite betrachten.“

Das hielt ihn erstmal zurück. Aber ganz ließ sich sein Misstrauen nicht dämpfen.

 

Ich sah nur diese eine Kamera. Sicher konnte man sie schwenken und den gesamten Raum überschauen. Aber sie war auf den Computer gerichtet. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass jemand Tag und Nacht Schuster überwachte, das machte einfach keinen Sinn. Vielleicht machten sie Aufzeichnungen und sahen stichprobenartig oder bei Bedarf alles durch.

 

Das ist gleichgültig. Was ich vorhabe, macht mich ohnehin zu einem Paria. Ich muss es riskieren. Wenn sie ihn rund um die Uhr bewachen, bin ich erledigt. Sonst habe ich vielleicht die Zeit, die ich brauche.

„Hast du was dagegen, wenn ich noch ein bisschen hierbleibe?“ frage ich und schlendere rüber zur Literatur.

„Um halb zehn wollte ich gehen“, sagt er.

„Kein Problem.“ Ich gehe rüber und sehe, dass die Kamera nicht mitschwenkt. Ich hocke mich unten vor ein Regal, als suche ich dort etwas, N wie Nabokov fällt mir in die Augen. Die Tische über mir verdecken die Kamera.

Ich rufe: „He, Schuster, komm mal her, ist das alles, was ihr an Literatur zu Nabokov hier habt?“ Ahnungslos kommt er zu mir, hockt sich neben mich und fragt: „Was steht denn da alles?“

 

Im Nu hole ich das Messer aus meiner Tasche, stürze ihn zu Boden, knie mich auf ihn, immer von dem Tisch verdeckt und halte es ihm an die Kehle, so dass ich ihn ritze und ihm weh tu.

„Hör zu“, sage ich, „ich brauche das Password für das Top Secret Klone. Hier geht etwas vor sich, was ich wissen muss. Das Password, alter Junge, oder du bist ein toter Mann!“ Er keucht, seine Augen gucken voller Unsicherheit, seine Brille ist ihm bei dem Sturz vom Kopf gefallen. Ich denke, wie nachlässig von seinen Eltern, nicht auf seine Augen geachtet zu haben bei der Fortpflanzung. Während meine Arme ihn niederdrücken und mein Knie sich in seine Magengrube drückt, bringt er unter dem Messer hervor: „Damit kommst du niemals durch!“

„Mach dir keine Sorgen um mich, Schuster, die Frage ist erstmal, ob du die nächsten fünf Minuten überlebst.“

Das leuchtet ihm ein. Er sagt: „Ich weiß es nicht. Sie haben mir kein Password genannt; ich habe keine Ahnung!“ Ich ritze seinen Hals noch mehr ein, steche regelrecht zu, so dass er vor Schmerzen aufstöhnt und das Blut anfängt zu fließen. Aber er wehrt sich nicht einmal richtig, der Feigling.

Ich sage: „Schlecht für dich, Schuster, denn wenn du es nicht kennst, steche ich dich einfach ab!“ Ich habe nichts mehr zu verlieren.

Er röchelt: “Klone sind eine eigne Rubrik. Du gehst über Klone zu Clone City und dann gibt es ein Eternity!“ Er winselt, er windet sich jetzt unter meinen Händen.

„Ist das alles? Ist das auch wirklich alles?“ Ich schreie ihn an, ohne meine Stimme zu erheben, ich lege alles in diesen totalen Schrei und stoße noch ein bisschen mit dem Messer zu, so dass er fast erstickt an seiner Angst und seinem Schmerz, und ich höre, wie er sagen will: ja, aber nicht mehr kann, und ich drücke einfach mit einem Ruck das Messer in seinen Hals. Es geht ganz weich und leicht rein in diese fleischige Masse, und Schusters Zunge kommt raus statt vieler Worte, und sein Blut fließt und an seinen Augen erkenne ich, dass er wegtaucht, abdriftet. Er wird einfach verbluten.

 

Ich erhebe mich von dieser widerlichen blutigen Masse, die unter mir noch leise zu zucken scheint. Und blicke schnell zu der Kamera, die immer noch auf den Computer gerichtet ist. Ich ziehe meine Jacke aus und stelle mich auf einen Stuhl, seitlich von der Kamera und befestige meine Jacke an einem der Regale und ziehe sie übers Eck, so dass der Blick der Kamera aufgefangen wird von meiner Jacke und nicht mehr sieht, was am Computer geschieht. Schuster liegt für immer stumm in seiner Ecke. Vielleicht findet man ihn sowieso erst nach Tagen, so beliebt ist die Bibliothek nicht. Wer weiß, ob man die Kamera überhaupt regelmäßig überprüft. Ich habe plötzlich auf alles eine beruhigende Antwort. Ich bin nicht mehr zurechnungsfähig.

 

Ich setze mich an seinen Computer. Ich rufe Klon auf und werde wieder mit dem Password konfrontiert.  Clone-City. Aber dann gibt es ein weiteres Hindernis, denn sie fragen nach dem CODE, und ich versuche es einfach mit Eternity. Eine Reihe von Titeln wird aufgeführt. Name des Autors, Erscheinungsjahr, und eine Nummer. Eine Nummer, verdammt noch mal, was muss ich tun, um die Bücher und Artikel zu LESEN!!? Schuster liegt in seiner Ecke und sagt nichts mehr. Ich bin ein Idiot. Schuster würde doch niemals Zugang zu den eigentlichen Informationen haben. Ich muss mich zusammennehmen. Ich muss überlegen, was ich erreicht habe. Was ich erreichen kann. Schuster kennt seine verschiedenen Passwords, aber natürlich nicht, um die Inhalte abrufen zu können. Schuster ist kein Geheimnisträger. Schuster wäre, soweit ich ihn beurteilen kann, auch nicht daran interessiert.

 

Aber das ist nicht die Frage. Die Frage ist, welche Passwords er kennt und wozu sie dienen können. Sie dienen dazu, ihm alle Titel aufzuführen, die von verbotenem Interesse sind und – natürlich: ihre Signaturen! Die Zahlen, die hinter den Titeln auftauchen, sind die Signaturen der Bücher und Artikel, an Hand derer er sie auffinden kann! Ich gehe in Windeseile die Titel durch: 1336. Sie sind nach Jahreszahlen geordnet. Ich nehme nur die von diesem Jahr: sechzehn. Ich schreibe mir die Signaturen auf.

 

Es ist klar, dass das, was ich suche, im hinteren, gesperrten Teil der Bibliothek zu finden sein muss. Ich gehe durch den vorderen Teil, lasse die Tür zum Lesesaal auf, einerseits, um von dem Licht, das von dort kommt, zu profitieren und nicht selber Licht anmachen zu müssen, andererseits um zu hören, falls wider Erwarten jemand die Bibliothek betreten sollte. Ich eile zu der Tür, hinter der ich die geheimen Texte vermute. Sie ist natürlich verschlossen. Kein Schlüsselloch. Keine wie auch immer geartete Möglichkeit, die Tür zu öffnen! Schweiß läuft mir von der Stirn, Schweiß läuft meinen Rücken herunter, meine Hände sind feucht wie nach einem Duschbad. Vorsichtig spähe ich noch einmal den Rahmen der Tür ab, und da sehe ich es: Auf der linken Seite, etwas höher als Augenhöhe ist der Türspalt verbreitert. Es handelt sich um einen Code-Karten-Verschluss. Ich gehe zurück in den Lesesaal. Wo würde Schuster die Karten aufbewahren? Entweder im Schreibtisch vorn, weil die Kamera immer darauf gerichtet ist, oder, viel wahrscheinlicher, am Körper.

 

Es kostet mich unendlich viel Überwindung, zu Schuster zurück zu kehren, seinen hässlichen, toten, blutverschmierten Körper nicht nur zu sehen, sondern auch noch anfassen zu müssen. Aber jetzt bin ich so weit gegangen, dass ich nicht mehr zurückkann. Ich nähere mich dem Toten, wobei die Stille des Lesesaals in entmutigender Weise meine eigenen Geräusche verstärkt. Jeden Augenblick scheint Schuster sich umdrehen zu wollen. Ich fasse in seine äußeren Jackentaschen, finde aber nichts. Die Hosentaschen sind mir zu ekelhaft, und es scheint unlogisch, Codekarten in der Hose aufzubewahren. Ich finde sie in einer extra dafür angefertigten Hülle in einer der inneren Seitentaschen. Schnell lasse ich den Körper los, der mit einem Geräusch, als entwiche ihm Luft, wieder zur Seite sackt.

 

Es scheint mir im Nachhinein sehr merkwürdig, mit welcher Kaltblütigkeit und Präzision ich vorgehen konnte. Ich hatte gerade einen Menschen erstochen, hatte ihm ein Messer in die Kehle gestoßen, aber es hatte irgendwie nichts mit mir zu tun und ließ mich vollständig kalt. Ich glaube, es war die eigene Todesangst, die mich abschirmte von jeglicher menschlichen Empfindung. Es ist eine Angst, die sich mit solch erstickender Wucht eines Menschen bemächtigt, dass alle anderen Gefühle, Hemmungen, anerzogene Verhaltensweisen einfach keine Rolle mehr spielen können.

 

Ich nahm die Codekarte wie selbstverständlich und ging zurück in die Bibliothek. Das Öffnen der Tür war eine Kleinigkeit. Der Raum lag ebenfalls im Dunklen. Offensichtlich gab es, wie im vorhergehenden, vom Lesesaal aus zugänglichen Raum auch hier keine Fenster. Ich machte Licht. Eine gleißende helle Lichtflut ergoss sich über die Regale. Ich erschrak und konnte im ersten Augenblick nichts sehen, weil ich so geblendet war. Ohne Schwierigkeiten fand ich die Signaturen, die ich suchte, und nach kurzem Durchblättern, ergab sich, dass zwei Artikel von ein und demselben Wissenschaftler von Bedeutung waren, der über die letzten Versuche mit Klonen berichtete. Es ging klar daraus hervor, dass man in all  den Jahren niemals aufgehört hatte, Menschen zu klonen, dass man sie einerseits, wie Wallraf berichtet hatte, als Kanonenfutter, sozusagen im Dutzend verbrauchte und dass man andererseits, angeregt, oder angespornt von der Notwendigkeit, einzelne Organe als Ersatz für kranke zu züchten, wobei manchmal sehr wenig Zeit für den Austausch zur Verfügung stand, daran gearbeitet hatte, das Wachstum des geklonten Materials zu beschleunigen. Es war auch von den Telomeren die Rede, die Wallrafs Alterungsprozess beschleunigt hatten, ein Fehler, den man heutzutage durch unterschiedliche Geninformation einerseits und Hormonbeschleuniger andererseits, in den Griff bekommen hatte.

 

Es gab zwei Möglichkeiten des Klonens von Organen und anderer zu substituierenden Körperteilen. Man ließ sie einzeln in einem mutterleibartigen Milieu, sozusagen in einem Glaskasten wachsen. Das hatte den Vorteil, keinen weiteren Abfall zu produzieren, doch schien die Funktion der Organe, die ohne Zusammenhang und ohne Funktionskontrolle in kürzester Zeit herangezüchtet waren, noch lange nicht in allen Fällen gesichert. Die Fehlerquote war offensichtlich beträchtlich. Besser waren solche Züchtungen, die im Zusammenhang des gesamten Körpers erfolgten. Jedoch hatte man da das Problem der Entsorgung des Restkörpers, wenn man beispielsweise nur ein neues Herz brauchte. Obwohl solche Entsorgung, wie ich ja selber an Wallrafs Ende erfahren hatte, letztlich kein wirkliches Problem darstellte, weil sie sehr sauber und schnell und sicher schmerzlos vonstattenging, schien es doch eine wahnsinnige Vergeudung, wenn ich den Autor richtig verstanden hatte.

 

Von solchen Überlegungen war der Schritt nicht mehr weit bis zum Klonen des gesamten Menschen, der den Kranken schließlich vollständig ersetzen konnte. Über die Jahre hatte man eine Vielzahl von Problemen, die damit zusammenhängen, gelöst: Das Problem der Zeit: Dem Autor zufolge war man seit Anfang dieses Jahres in der Lage, einen vollständigen Menschen in nur 10 Tagen zu klonen. Was bedeutete, dass man ein Individuum gleich welchen Alters in weniger als zwei Wochen aus einer Zelle bis zum augenblicklichen Stand seiner Entwicklung hochziehen konnte.

 

Zweitens: Das Problem des Alters und der Ausbildung. Es war gelungen, wenn man bestimmte Zellen zur Vorlage für das Klonen nahm, und dazu gehörten Samenzellen ebenso wie bestimmte Zellen aus dem Gehirn, das vollständige Wissen des Menschen der geklont werden sollte, zu bewahren. Allerdings offensichtlich nur, solange es sich um seit langem erworbenes Wissen handelte. Kurzfristige Informationen wie kurzfristige persönliche Vorlieben oder Absprachen, konnten damit nicht erhalten werden. Ich musste an Schröder denken, den sie mir genommen hatten, ohne das zu ahnen. Der Klon funktionierte in Schröders Abteilung wie Schröder es getan hatte. Aber er wusste nicht, dass er sich mit mir für den Dia-Vortrag über Sibirien verabredet hatte. Vielleicht waren dies kleinere Mängel, die in kürzester Zeit sich selber überwinden würden, denn der Klon mochte zwar hier und da eine solche Absprache übersehen, würde aber, darauf hingewiesen, antworten können, das habe er leider vollends vergessen. Er würde nicht weiter auffallen. Und in sehr kurzer Zeit würde diese Phase von dem neuen Menschen mit seinen neuen Verabredungen überlagert.

 

Viel schwieriger war ein drittes Problem, das sie aber auch bereits im Griff zu haben schienen, wenigstens teilweise: das Bewusstsein. Es lag ja im Grunde nahe: wenn man schon einen neuen Menschen erstellte, im gleichen Zug auch seine Fehler zu verbessern. Wenn ich mich frage, warum sie Schröder ausgewählt haben, warum gerade ihn, der sich in allem so untadelig verhalten hat, der immer die richtigen Worte im richtigen Augenblick gefunden hat, dann kann ich es mir nur so erklären: sie haben ihn durchschaut. Und sie haben, indem sie ihn klonten, sein Bewusstsein, das heißt seine Persönlichkeit geändert. Schröders Persönlichkeit, die darin bestand, dass er die Welt und seine Umgebung auf seine Weise interpretierte. Schröders Vorlieben, seine wie auch immer zu erklärende Freundschaft für mich – das hatten sie diesem Klon nicht mitgegeben, ja, möglicherweise war es genau das, was sie an Schröder ausmerzen wollten. Und es war ihnen gelungen. Sie hatten eine Schröder-Puppe geklont.

 

Ich konnte nicht anders als voller Abscheu und Verachtung über Schröders Klon zu denken, dieses Wesen, das in gar keiner Weise dem Schröder entsprach, den ich kannte. Natürlich, wenn ich an Wallraf und sein Schicksal dachte, versuchte ich mir einzureden, dass ein Klon letztlich auch ein Mensch war. Vielleicht nicht mehr derselbe Mensch, also nicht mehr Schröder trotz des identischen Aussehens, aber dennoch ein Mensch. Aber es fiel mir schwer, nein es war unmöglich, die Dinge in dieser Weise zu sehen. Ich habe Schröder so anders in Erinnerung, und ich muss annehmen, dass sie ihn eliminiert haben, vielleicht sogar wegen seiner Zuneigung zu mir. Ich kann in diesem Ersatz nur den Feind sehen!

 

Das ewige Leben. Der Autor versprach das ewige Leben. Wann immer ein Mensch alt wurde oder aus anderen Gründen verbesserungswürdig war, konnte man einen Klon von ihm herstellen, bei dem alle Mängel beseitigt worden waren. Dann konnte der alte Mensch ohne weiteres entsorgt werden. Blieb die Frage des Bewusstseins. Blieb die Frage, ob man einen Klon von einem Klon anfertigen konnte, ohne größeren Substanzverlust. Hier herrschte zugegebenermaßen noch keine endgültige Klarheit. Deshalb der Vorschlag des Autors, zunächst ausgewählte Beispiele zu klonen, eben solche, die mit Fehlern behaftet, aber im Übrigen sehr brauchbar waren. Sobald die Fehler sich zu einer Gefahr zu verdichten schienen, solle man vorsichtshalber einen von den Fehlern sozusagen gereinigten Klon herstellen und Beobachtungen über die Entwicklung des Charakters, des Bewusstseins und so weiter anstellen. Man solle dann in Abständen von ein, zwei Jahren von diesem geklonten Exemplar weitere Klone erstellen, und diese unter Laborbedingungen beobachten. Es sei weiterhin anzuraten, dasselbe mit besonders verdienten Bürgern zu tun, kurz bevor sie das Alter der Entsorgung erreicht hätten.

 

Ich habe genug gelesen. Clone-City. Es ist klar, was passieren wird. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, mit Maria so weit weg von dieser Stadt zu fliehen, dass sie uns nicht mehr erreichen können. Ich weiß nicht genau, ob ich das wirklich glauben kann. Tief in meinem Innern weiß ich, dass wir keine Chance haben. Aber wenn ich an Maria denke, gibt es nicht nur eine Stimme der Vernunft. Mein Herz klopft heftig, mein Blut gerät in Wallung. Ich weiß, dass ich sie retten will. Ich muss sie retten. Ich weiß, dass ich sie für mich retten will. Ich lösche die Lichter, verlasse den grässlichen Ort, haste durch den Lesesaal, dessen Lichter ich ebenfalls lösche. Vorher löse ich meine Jacke von der Kamera und achte dabei sehr genau darauf, nicht in ihr Blickfeld zu geraten. Ich ziehe die Tür leise und vorsichtig hinter mir zu. Kein Mensch auf den Fluren. Noch einmal suche ich einen Waschraum auf. Mein Gesicht ist kalkweiß. Die Augen liegen in tiefen dunklen Höhlen. Ich ziehe mein Hemd gerade, meine Krawatte, bemerke die Blutflecken an meinem rechten Ärmel, überlege, ob ich zurück in mein Büro soll, um eine Mappe, irgendetwas zu holen, womit ich die Flecken verdecken kann, aber dann entschließe ich mich dagegen, haste nach unten, am Pförtner vorbei, der mich kaum zu bemerken scheint. Es ist, als bewege ich mich in einem Vakuum, ohne weiteren Bezug zur Realität.

 

 

Ich irre lange durch die Straßen, suche Orte auf, an denen ich mich mit Wallraf getroffen habe. Jetzt am Abend sind sie laut und überfüllt von Menschen. Wieder einmal tauche ich unter in der Menge. Früh am Morgen schleiche ich mich nach Hause. Nichts lässt darauf schließen, dass man hinter mir her ist. Ob Arena zu Hause ist, kann ich nicht sagen. Sehr leise taste ich mich in meinen Bereich vor. Zu Sicherheit schließe ich meine Tür ab. 

 

16

 

Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich habe Angst, in die Redaktion zurück zu gehen und genauso große Furcht habe ich davor, es nicht zu tun. Ich beschließe, dass ich zuerst Maria aufsuchen muss und danach entscheiden, was werden soll. Ich habe fast gar nicht geschlafen und fühle mich elend. Allerdings nicht etwa, wie ich erstaunt feststelle, wegen Schuster. Fast kommt mir die Angelegenheit unwirklich vor. Habe ich dem Mann gestern tatsächlich das Obstmesser an die Kehle gehalten und habe ich dann zugestoßen in diese hilflose, am Boden liegende, verängstigte weiche Masse, die sich nicht einmal gewehrt hat? Ich versuche, nicht mehr daran zu denken.

 

Ich gebe Maria von außen ein Zeichen. Sie lächelt mir zu, macht aber keine Anstalten, nach draußen zum kommen. Ich möchte nicht in den Laden gehen. Es ist anders als neulich, als ich vorgeben konnte, etwas kaufen zu wollen. Ich fühle mich nicht in der Lage, mit einer dieser Frauen zu sprechen und sei es auch nur, um laut nach Maria zu fragen. Ich müsste sie Zeta nennen. Das kann ich nicht. Ich spüre meine enorme Spannung. Ich warte, bis Maria wieder zu mir herübersieht. Ich hoffe, dass sie meine flehentlichen Blicke versteht und erhört und mich endlich erlöst. Sie lässt sich Zeit, aber dann kommt sie doch.

 

Ich sage leise: „Ich muss dich sehen, Maria“, und sie antwortet mir: „Hat das nicht Zeit?“ Sie ist immer noch sehr scheu mit mir und es tut mir leid, sie zu bedrängen, aber ich habe keine andere Wahl. Ich sage ihr, dass ich in Schwierigkeiten bin und dass es von großer Wichtigkeit ist, den Unbekannten aufzuspüren, der uns helfen soll. Sie sagt: „Du siehst furchtbar aus, was ist geschehen? Ihr Blick und ihre Stimme sind voller Mitgefühl. Das tut mir gut. Dann ist sie einverstanden, mich abends bei sich zu empfangen. Ich soll mir selber ein Bild machen von Wallrafs Leben. Vielleicht finde ich in der Wohnung und unter seinen Papieren Hinweise auf den Mann oder andere seiner Art. Obwohl er, wie sie sagt, nicht viele Dinge aufbewahrt hat, immer in der Furcht, eines Tages entdeckt zu werden. Es sind nur noch zwei Tage bis Freitag. Wir müssen uns ohnehin etwas einfallen lassen.

 

Sie fragt, welche besonderen Schwierigkeiten ich habe. Ich sage ihr nichts von Schuster, aber ich erzähle ihr von Schröder und von meinem Verdacht, dass er ein Klon ist und dass ich mit Problemen in der Redaktion rechnen muss, weil ich dahintergekommen bin, und ich sage: „Wir müssen so schnell wie möglich fliehen, wir haben tatsächlich keine Zeit mehr zu verlieren.“

Da sagt sie etwas, das mich sehr merkwürdig berührt. Vor allem, weil es aus ihrem Mund kommt. „Was ist mit deiner Frau?“ Sie sieht mich nicht an dabei. Sie weiß, dass ich ihretwegen alles aufgebe. Die Gefahr, die uns umgibt und die uns bedroht, ist nur der Auslöser der uns sozusagen nötigt, tatsächlich zu handeln. Aber irgendwie hat sie verstanden, dass ich nicht nur meinetwegen mit ihr fliehe, sondern ihretwegen. Vielleicht denkt sie, dass sie Arena ihren Mann wegnimmt. Ich sage: „Ich hatte niemals eine Frau.“ Und das stimmt.

„Hast du gelogen?“ Was für eine altmodische Frage, was für ein unangemessenes Unbehagen. Am liebsten würde ich sie jetzt, in diesem Augenblick, an dieser Stelle küssen. Natürlich kommt das nicht in Frage. Nicht wegen der Öffentlichkeit, in der wir uns befinden und vor allem nicht wegen Maria selber. Ich werde auf jeden Fall sehr behutsam sein. Nicht ich, sie wird es sein, die eines nicht mehr fernen Tages auf mich zukommen wird, um meine Nähe zu suchen. Ich kann mit Mühe ein Lächeln unterdrücken und ein nie gekanntes Glücksgefühl durchströmt mich, ein Gefühl von Leichtigkeit und von Ausgelassenheit. Ich antworte: „Nein, ich habe nicht gelogen. Ich werde es dir später erklären. Hab Vertrauen zu mir.“ Sie gibt mir ihre Adresse. Sie will nicht, dass ich sie nach der Arbeit von hier abhole.

 

Ich kann der ganzen Welt begegnen. Ich habe nicht einmal mehr Angst, in die Redaktion zu gehen. Allerdings bin ich doch nicht so unvorsichtig, mich einfach in die Höhle des Löwen zu begeben. Ich postiere mich in der Nähe des Eingangs und beobachte die, die herauskommen. Ich kann nichts Ungewöhnliches in ihrem Benehmen feststellen. Haben sie Schuster noch nicht gefunden? Zumindest dem Pförtner musste aufgefallen sein, dass er sich gestern nicht abgemeldet hat. Der Pförtner blättert in aller Seelenruhe in unserer Zeitung. Vielleicht gehört Schuster aber auch zu denen, die nicht auffallen, wenn sie sich nicht abmelden, weil sie sozusagen in der Redaktion wohnen. Vielleicht hatte er irgendwo in seiner Bibliothek eine Liege stehen und übernachtete manchmal dort? Ich verwerfe den Gedanken. Auch Hülscher geht irgendwann nach Hause und auch der Pförtner wird nicht Tag und Nacht an seinem Platz sitzen können.

 

Dann sehe ich Schröder und Classen durch die Halle kommen und fasse mir ein Herz. Ich gehe direkt auf sie zu. Classen sagt: „Hi, Böll! Und welche Gedanken machen wir uns heute?“ Es klingt irgendwie ironisch, aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Ich halte Classen zur Ironie eigentlich für unfähig. Der Schröder-Klon grinst bloß blöde. Kein Wort von Schuster, kein Wort von irgendwelchen Aufregungen im Haus. Wenn sie mich wirklich noch nicht entdeckt haben, dann darf ich jetzt nicht den Fehler machen, mich nicht mehr um meine Arbeit zu kümmern. Ich tippe freundlich grinsend in die Luft und gehe zum Aufzug rüber.

 

Die Kameras im Aufzug. Ich versuche, mein Gesicht zu beherrschen.

 

Als Themenvorschlag für die morgigen Gedanken zum Tage finde ich das Wort Treue auf meinem Tisch. Treue. Du großer Gott. Sie kommen in der letzten Zeit offensichtlich auf die sogenannten älteren Werte zurück. Irgendwie unverständlich. Oder ob sie mich damit aus der Reserve locken wollen?  Ob sie wissen, dass ich noch ein anderes als das offizielle Verständnis dieses Wortes habe, ein Verständnis, das noch von meiner Großmutter stammt? Aber ich bin durch ihre Schule gegangen. Das haben sie doch wohl nicht vergessen. Sie können nicht annehmen, dass sie mich mit einem solch simplen und einfach zu durchschauenden Trick fangen. Ich schreibe den Text sehr schnell runter, und ich weiß, dass Becker ihn genau so übernehmen wird.

 

Ich fange hinterher allerdings an, nachzudenken. Marias Gedanken kreisten sicher nicht von ungefähr um meine Frau. Auch unser zukünftiges Verhältnis wird eher mit Treue zu tun haben und mit Treuebruch. Sie kann nicht wissen, dass Arena und ich aus ganz anderen Motiven zusammengekommen sind, als sie und Wallraf. Vielleicht würde ich eines Tages, wenn wir ein richtiges Paar wären, darüber sprechen können. Vielleicht würde sie den Unterschied verstehen. Ich bin sicher, dass sie Arenas Verhalten, was das Kind betrifft, das sie durch die Wasserturmaktion zu meinem gemacht hat, missbilligen wird. Man hat mich hereingelegt. Sie haben mich missbraucht. Ich bin Opfer. Wie sie, Maria, die betrogen wurde und sich einem Fremden hingegeben hat mit einer Liebe, die sie einzig für ihren Mann, ihren Geliebten bereithielt.

 

Nicht ich bin Arena untreu gewesen. Aber selbst Arenas Verhalten kann ich insgeheim nicht als untreu werten, weil wir nicht von vorn herein durch eine alles umfassende Liebe, die Treue erfordert hätte, miteinander verbunden gewesen sind. Arena ist konsequent auf ihrer Karriereleiter aufgestiegen, wirklich konsequent. Und eigentlich habe ich davon ebenfalls profitiert. Maria, auf der anderen Seite, kann man erst recht keinen Treuebruch vorwerfen. Eher Wallraf, dem zweiten Wallraf, dem, den ich kennengelernt habe, denn er hat sie hintergangen. Und jetzt, da beide tot sind, wäre es auch kein Treuebruch, wenn sie sich mir zuwendete, ihrem Retter und Beschützer.

 

Wenn wir den Unbekannten nicht auftreiben, werden wir uns allerdings kaum retten können.

 

Ich weiß nicht, wie ich den Tag verbracht habe. Ich hungerte nach dem Abend, an dem ich sie ihn ihrer Wohnung treffen würde. Und ich weiß auch nicht, warum ich so voller Erwartung war, so voller ungestümer Erwartung. Ich hatte keinen Grund dazu.

 

Als ich an diesem Tag die Redaktion verließ, sah mir der Pförtner auf eine eigentümliche Weise nach, die mir unangenehm auffiel. Er blickte schon hoch, als ich herankam, sah mir zu, wie ich meine Uhr zur Zeiterfassung hochhielt und blickte mir dann nach. Seine Augen klebten an mir, an meinen Bewegungen, an meinem Gang. Er sprach kein Wort, aber seine Miene verhieß nichts Gutes.

 

Den ganzen Tag über habe ich in den Gängen der Redaktion gelauscht, in der Kantine, selbst im Lesesaal unserer Abteilung, ob man von irgendwelchen Unregelmäßigkeiten spräche. Falls man Schuster gefunden hatte, würde man ihn so dezent und taktvoll wie irgend möglich entfernt haben, aber man hätte auf jeden Fall sofort mit dem Nachforschen begonnen.

 

Ich beeile mich, von der Redaktion wegzukommen. Wie naiv bin ich eigentlich? Glaube ich wirklich, ich könnte sie täuschen? Ich hatte die Kamera verhängt, aber hatte das ausgereicht? Zum Beispiel sind keine anderen Kameras in den Räumen mit dem Geheimmaterial? Ich muss wahnsinnig sein. Plötzlich befinde ich mich in einem Bus, der in die falsche Richtung fährt.

 

Während ich irgendwohin fahre, denke ich, dass es nur einen Grund dafür geben kann, wenn sie wegen Schuster offensichtlich keine Nachforschungen anstellen. Sie wissen längst, wer sein Mörder ist. Und wenn sie mich unbehelligt lassen, gibt es auch dafür im Grunde nur eine Erklärung: Sie wissen, dass sie mich bekommen werden. Ich kann nirgendwohin fliehen. Sie wissen, dass es völlig unmöglich ist. Sie warten ab, weil sie noch etwas mit mir vorhaben. Sie wollen mich in Sicherheit wiegen, und sie haben noch etwas mit mir vor. Vielleicht wollen sie Maria.

 

Es ist absurd. Es kann nicht sein. Es kann nicht sein, dass sie Wallraf in der Nähe von Marias Arbeitsplatz eliminieren, ohne zu wissen, dass sie dort arbeitet und dass sie seine Frau ist. Es ist absurd anzunehmen, dass sie von unseren Treffen nichts ahnen. Ich muss rasend naiv sein, zu glauben, sie hätten meinen Mord an Schuster nicht entdeckt und rätselten noch an einem Motiv herum. Ich muss wahnsinnig sein, zu glauben, ich könnte Wallrafs Flucht wiederholen und eine neue Identität bekommen. Es ist die Verblendung des Verzweifelten, die Illusion des bereits zum Tode verurteilen, an eine unbehelligte Liebe mit Maria zu glauben.

 

Was auch immer, ich muss zu ihr. Ich bemühe mich, auf Umwegen zu ihr zu gelangen, um sie nicht zu verraten, aber auch das ist sicherlich völlig überflüssig.

 

Sie haben ein ideales Versteck gefunden. In einem alten, fast slumartigen Haus aus dem 20. Jahrhundert, in einem jener Viertel, wo der Pöbel wohnt, solche, die gern zu den Spielen der Co-lone Lonely Boys gehen und sich schlagen. Bei denen, die die Regierung weitgehend sich selbst überlässt, weil sie leicht zu manipulieren sind, die von niemandem beneidet werden, die laut brüllend ihre Begeisterung wie ihren Unmut kundtun und unter denen man hin und wieder die schlimmsten einfach aussortiert.

 

Ich steige eine dunkle Stiege hoch, höre den Fernseher hinter jeder Tür, ab und zu laut keifende oder grölende Stimmen. Aus einer Tür kommt ein etwa zwölfjähriger Junge mit einem gemeinen Gesicht, der sich, sobald er mich sieht, an die Genitalien packt und böse grinst. Einen Moment lang überlege ich, ob ich ihn grüßen soll, lass es aber, gehe dicht an ihm vorbei, weiche nicht aus. Ich rieche den Kaugummi in seinem Mund und seinen schlechten Atem. Ich denke, wenn Maria ihm auf der Treppe begegnet –. Da war all die Jahre Wallraf, aber jetzt ist sie allein, ungeschützt. Ich beginne zu verstehen, warum sie sich bereit erklärt hat, mit einem völlig Unbekannten in eine unsichere Zukunft zu fliehen. Wahrscheinlich ist alles besser als dieser Ort des Schreckens.

 

Ich bin erstaunt, wie gemütlich die Wohnung in einem solchen Haus sein kann. Sie lebt unter dem Dach. Die Räume sind hell. Es gibt nicht viele Möbel, alles ist schlicht. Aber Maria hat überall Pflanzen stehen, von denen ein Teil blüht und eine – fast möchte ich sagen: liebliche Atmosphäre schafft. Die Wohnung riecht nach ihr, ich finde ihren Duft überall. Schüchtern mache ich einen Schritt in einen Raum, der auf der einen Seite auf einen kleinen Dachbalkon führt und einigermaßen wohnlich ausgestattet ist, auf der anderen Seite so etwas wie eine kleine Küchenecke aufweist.

 

Sie beobachtet mich. Sie ist anders als sonst. Ich habe das Gefühl, dass sie selbstsicherer auftritt. Meine Aufregung wächst, als ich merke, dass sie meinem Blick nicht wie sonst ausweicht. Sie hat etwas ungeheuer Strahlendes, das mir den Atem zu nehmen droht, wenn ich sie, so wie jetzt, einfach angucken kann, ohne Angst, meine Gefühle zu verraten, ohne die Furcht vor den überall lauernden Beobachtern.

 

Ich habe immer empfunden, dass ihre Schönheit aus ihrem Innern kommt. Es hat nicht nur mit den sanften warmen Farbtönen ihrer Haut und ihres Haares zu tun, nicht nur mit der Vollkommenheit ihres Körpers und ihrer Formen, ihres Mundes, ihrer Augen. Es ist vielmehr der Ausdruck ihres Wesens, das durch ihre Augen spricht, die Anmut ihrer Gesten. Sie steht da, sie lächelt, sie kommt auf mich zu, zeigt mir mit einem Schritt auf den Balkon eine wilde weite Aussicht über unsere Stadt, mit dem Fluss in weiter Ferne, den man von hier nur orten kann, weil die Domtürme zwischen anderen, weit höheren, von hier aus zu sehen sind.

 

Ihre Nähe ist weit aufregender als die Aussicht, aber ich atme beides ein in einem unvergesslichen Moment der Vollkommenheit. Ich bin ganz still. Ich habe Angst, dass der Moment vergeht, dass selbst ein einziges Wort den Zauber brechen könnte, dem ich erlegen bin und dem ich angehören möchte in Ewigkeit.

 

Da sagt Maria: „Komm!“, und ich erstarre vor Verlangen. Tausend helle Sterne funkeln in ihren Augen und ich sehe, wie ihre Lippen sich bewegen, um mich einzuladen, aber ich höre ihre Worte nicht. Sie führt mich in einen anderen Raum, in dem nichts ist als zwei zu einem Bett gerichtete Matratzen. Lichtdurchflutet, selbst jetzt an diesem späten Sommerabend, weil über uns der Himmel durch schräge Dachfenster von drei Seiten auf das Lager fällt.

 

Ich weiß nicht, was mir geschieht. Ich blicke sie fragend an, weil ich nicht will, dass sie zu früh etwas tut, zu dem sie sich vielleicht verpflichtet fühlt. Etwas, das ich mehr möchte als alles auf der Welt, ohne im Geringsten zu ahnen, was mich wirklich erwartet. Sie steht vor mir, senkt die Augen, blickt mich wieder an und haucht: „Es ist gut.“

 

Etwas zieht mich hinunter zu ihrem Mund. Eine innere Kraft, die mich handeln lässt, die mich vorantreibt, die mich tun lässt, was ich tue als sei dies meine eigentliche Bestimmung, als habe ich endlich zu mir selber gefunden. Unsere Lippe berühren sich. Ihr Mund ist von einer unvorstellbar zarten Festigkeit. Der Himmel fällt auf uns herab.

 

Während wir uns küssen, suchen meine Hände ihren Körper, ihre Schulter, ihren Hals, ihr Haar. Ich umfange sie und presse sie an mich, während mein Mund weiter sucht, über ihr Gesicht streift, ihre Augen. Mein Körper spannt sich, ist erfüllt von einem süßen Drängen, das ich nicht kenne, das mich vollständig aufzulösen scheint, so dass ich für Momente denke, mir schwinden die Sinne.

 

Maria macht sich lächelnd von mir los und beginnt sich auszuziehen. Dann mich. Wir stehen voreinander, um uns anzusehen, berühren uns. Ihre Nacktheit ist unerhört und gleichzeitig so vertraut, dass ich weiß, ich bin zu Hause. Nichts, was ich jetzt tue, ist mir fremd, auch wenn ich es zum ersten Mal erlebe. Ich nehme die Frau in meine Arme und hebe sie behutsam hoch. Ich ergreife sozusagen Besitz von ihr. Ich lege sie auf das Bett, das für uns gemacht ist, für uns allein.

 

Behutsam lege ich sie nieder, beuge mich über sie, bedecke ihren Leib mit zarten Küssen, erforsche mit den Händen, wer sie ist. Und dann gerate ich zu diesem Punkt zwischen ihren Beinen, der mich anzieht mit einer brennenden Kraft, der ich nicht widerstehen kann, und sie öffnet ihre Schenkel. Mit einer langsamen, zarten Bewegung tauche ich in sie ein, einer zitternden, bittenden, drängende Bewegung, die Ausdruck meiner Furcht ist, meiner Freude, meines Begehrens, meiner Wollust. Woher kommen all diese Wörter? Fremde, verbotene, verdrängte Worte, die in mir hoch wallen, mich überfluten, als hätten sie einen Jahrhunderte alten Damm gebrochen.

 

Ich dringe in sie ein, ich spüre sie, Maria, und in der elektrisierenden, weichen Zartheit dieses Moments lässt sie ein kleines Stöhnen vernehmen, einen Laut, der mich erschüttert, der mich erschauern lässt vor Lust. Kaum wage ich zu tun, was ich andererseits ganz von selber tue und tun muss. Keine Macht der Erde könnte mich davon abbringen. Ich schließe die Augen und merke, wie meine Sinne schwach werden, wie das Drängen in mir stärker wird und dass ich nicht mehr zu halten bin. Zwei, drei Stöße und ich explodiere in eine warme Dunkelheit. Ich fliege zwischen Sternenglitzern durch eine haltlose Nacht und schwimme endlich auf einer wilden, wunderbaren Woge, die mich langsam, ganz langsam, nach Lichtjahren einer über mir zusammenfließenden Empfindung auffängt und noch immer über ein Meer verebbender Erschütterungen trägt.

 

Die Stille, die dem folgt, ist grenzenlos. Maria liegt in meinen Armen, das aufgelöste Haar umfließt ihr Gesicht, dessen Ausdruck unbeschreiblich ist. Eine Ruhe erfüllt mich, eine Zufriedenheit, wie ich sie niemals kennengelernt habe, und im Augenblick ist nichts wichtig und scheint kein Glück unmöglich.

 

Ich weiß nicht, wie lange wir so liegen, ohne zu sprechen. Ich weiß nur, dass ich nicht möchte, dass dieser Augenblick vergeht. Ich möchte, dass die Zeit stillsteht, dass die Welt vielleicht jetzt aufhört zu existieren. Alles, was hiernach kommt, wird zweitrangig sein.

 

Da höre ich ihre Stimme. Und so sehr ich sie liebe, diese Stimme, wie ich alles an ihr liebe, so möchte ich doch nicht, dass sie jetzt spricht. Denn wenn sie auch nur ein Wort sagt, so bedeutet dieses Wort das Ende des Augenblicks, der doch für die Ewigkeit gedacht ist. Sie sagt: „Du brauchst keine Angst zu haben.“ Das ist gleichzeitig so abwegig in diesem Moment meines höchsten Glücks und auch wieder so rührend, wenn man bedenkt, dass wir uns am Rande des Abgrunds bewegen, dass ich von einer überschwänglichen Freude erfüllt werde und sie einfach an mich drücken und küssen muss.

 

Ich fange einen Blick auf aus ihren wunderschönen Augen und erfahre im selben Moment eine Unruhe, die ich nicht begreife. Da ist ein metallisches Leuchten in all den vielen funkelnden Reflexen, den ich nie vorher wahrgenommen habe. Ich meine, es ist ihre eigene Angst, die sie zu beruhigen sucht, indem sie mich tröstet. Ich will diese Angst vertreiben mit meinen Küssen, mit denen ich ihre Lider verschließe. Mein Mund wandert weiter über ihr Gesicht und berührt schließlich die zarte Beuge ihres Halses, dort, wo die Schulter ansetzt und da, unvermittelt, unerwartet, trifft mich ein akutes Gefühl von Gefahr, dem ich völlig schutzlos ausgeliefert bin. Es durchzuckt meinen Körper bis in die Zehen, und ich muss die Augen öffnen, um mich zu vergewissern, dass wir zusammen sind, dass ich Maria in den Armen halte, dass nichts geschehen kann, uns auseinander zu bringen. Ich verstehe nicht, was mir geschehen ist. Sie sagt noch einmal: „Du sollst sehen, alles wird gut.“ Und: “Ja“, sage ich mit einem Anflug von Unsicherheit.

 

Sie erhebt sich ganz leicht, wie eine Feder kommt sie  mir vor, schwebt nach oben, wendet sich mir zu, ein Blick, so durchdringend, dass ich mit einem Satz bei ihr bin, um sie noch einmal in die Arme zu schließen und sie mit meinen Küssen, meinen Händen zu liebkosen, um nie mehr, nie mehr aufzuhören. Sie löst sich sanft, aber mit einer erstaunlichen Entschiedenheit aus meiner Umarmung, nimmt ihre Kleider auf und beginnt, sich wieder anzuziehen. Ich stehe einen Augenblick, um sie nur anzusehen, voller Bedauern, dass sie sich wieder verhüllt, vor mir verbirgt. Dann ziehe ich mich seufzend ebenfalls an.

 

Sie stellt etwas zu essen auf den Tisch, sie füllt zwei Gläser mit Wein. Sie ist wie umgewandelt. Sie hat alle Scheu, alle Schüchternheit verloren. Ihre Bewegungen sind effektiv. Ab und zu lacht sie mir zu, hält mich aber jedes Mal auf Abstand, wenn ich wie ein Pawlowscher Hund auf ihre Blicke mit einer weiteren Annäherung reagieren möchte. Dann kommen wir zu unseren Zukunftsplänen.

„Ich habe ihn gefunden, den Mann, den du gesucht hast, du weißt, der dich bei Wallrafs“, ihre Stimme bricht mit einem leichten, schrillen Ton ab, dann fährt sie fort: „Der dich gerettet hat. Er heißt Zero. Und ich habe ihn nur einmal flüchtig gesehen. Deswegen habe ich mich nicht gleich an ihn erinnert. Aber ich habe seine Nummer unter Wallrafs Papieren gefunden. Nachdem wir heute gesprochen haben, habe ich noch einmal alles nachgesehen und tatsächlich den Hinweis gefunden, dass ich mich an Zero wenden soll, wenn ich Hilfe brauche und er mir keine mehr geben kann.“ Sie beobachtet mich aufmerksam, während sie das sagt. Warum freue ich mich nicht? Warum habe ich so ein ungutes Gefühl und wieder diesen Anflug von Gefahr, der im Hintergrund zu lauern scheint.

„Hast du ihn getroffen?“ frage ich irritiert und ein bisschen böse, ohne zu verstehen, warum, und sie antwortet: „Ich habe ihn gesprochen. Ich habe ihm gesagt, dass wir fliehen wollen, und er hat versprochen, uns zu helfen. Allerdings“, sie zögert.

„Allerdings?“

„Allerdings geht das nicht so schnell, er kann uns die Nummern frühestens am Montag besorgen.“

„Das ist nach dem Ov-Ov-Festival!“

„Ja.“

„Weißt du, was das bedeutet?!“

„Dass du daran teilnehmen musst.“

„Das ist unmöglich, Maria, das kann ich nicht. Jetzt nicht mehr. Es ist etwas geschehen...“ Nein, ich kann ihr nichts von Schuster erzählen. Dass ich ein Mörder bin. Jetzt weiß ich, warum ich diese merkwürdige Angst verspüre: Irgendetwas, irgendjemand wird sich uns in den Weg stellen, wird uns davon abhalten, zusammen weg zu gehen und glücklich zu sein. Wir sind noch nicht aus der Gefahrenzone. Was soll ich bloß tun?

Sie sagt: „Wenn du Angst hast, in die Redaktion zurück zu gehen, weil sie entdecken könnten, was du herausgefunden hast, dann bleibe einfach zu Hause. Deine Hymne, hast du das vergessen? Du kannst vorgeben ihr zu Hause noch den letzten Schliff geben zu wollen. Das ist Grund genug, weg zu bleiben. Niemand wird dich stören, und am Ov-Ov-Festival wirst du so viel Erfolg haben, dass man dich nicht anzutasten wagt, und dann sind wir ohnehin weg.

 

Die Hymne! Was weiß Maria von der Hymne?

 

Ich frage: „Wieso weißt du so gut Bescheid?“ Aber sie lacht meine Sorgen weg und sagt: „Ich weiß alles von Zero, er hat mir den Rat gegeben. Ich glaube, es ist ein guter Rat.“

Für eine Sekunde habe ich das Gefühl, Arena gegenüber zu sitzen. Es ist die Erinnerung an die Wirklichkeit, die Erwähnung des Ov-Ov-Festivals, die mich so denken lässt. Ich möchte nicht daran teilnehmen. Ich habe Angst. Vielleicht schnappen sie mich, bevor ich die Hymne verlesen kann. Sie werden nicht zulassen, dass ein gesuchter Mörder die Hauptattraktion des Festes bestreitet. Aber bin ich ein gesuchter Mörder? Wer ist schon Schuster? Was ist ein Menschenleben, wenn man es jederzeit vervielfältigen kann? Ich bin sicher, dass niemandem daran gelegen wäre, Schuster zu klonen. Aber ich bin hinter ihr Geheimnis gekommen, sie werden mich töten. Anderseits stehe ich doch, seit ich die ‚Gedanken zum Tage‘ schreibe und zum stellvertretenden Chefredakteur ernannt werden soll, auf ihrer Seite! Warum fällt es mir so schwer, die Dinge von dieser Seite zu betrachten?

Ich sage: „Ich habe kein gutes Gefühl, Maria. Ich möchte nicht bei diesem Festival auftauchen. Ich fürchte, sie werden mir etwas antun.“ Sie lächelt mich an, sie sieht zauberhaft aus.

Ich sage: „Lass uns gleich fliehen, Liebste, irgendwohin! Wir können ein paar Tage in einer anderen Stadt verbringen. Ich kann eine Reisegenehmigung ausfüllen, und du kommst mit als meine Frau. Lass uns Zero anrufen und ihm Bescheid geben, wo er uns erreichen kann. Wenn wir die Nummern am Montag bekommen, sind wir in Sicherheit.“

 

Es scheint so einfach, so sicher, sie muss das einsehen. Stattdessen insistiert sie, als liege ihr besonders daran, dass ich auf dem Ov-Ov-Festival meinen großen Auftritt habe. Ich verstehe nicht, warum ihr das so wichtig ist, aber sie denkt vielleicht, dass sie jemandem der so im Rampenlicht steht, nichts antun werden, während sie sicher nach mir suchen würden, wenn ich jetzt unerwarteterweise und so kurz vor meinem wichtigen Auftritt einfach verschwinde. Ich muss ihr versprechen, den Text vorzubereiten, den ich immer noch bloß im Kopf habe und ein Manuskript anzufertigen. Und auszudrucken, damit nur ja nichts schief gehen kann. Irgendwie ist ihre Besorgnis auch rührend.

 

Sie drängt mich, zu gehen. Ich möchte sie wieder hochheben und in das Bett tragen, unser Bett. Ich möchte die Nacht bei ihr verbringen, ich möchte mich nie mehr von ihr trennen, keinen Tag und keine Nacht. Sie lässt mich noch einmal ihre Lippen spüren, ihren kleinen Körper an meinen gelehnt, dann besteht sie darauf, dass ich gehe. Nichts riskieren, keine voreiligen Fehler, volle Konzentration auf die Hymne und das Fest und dann, danach, die Flucht, die Freiheit, das ewige Glück.

 

Ich kann die Beunruhigung nicht abschütteln, die Angst läuft mit mir, auf meinem Weg nach Hause. Irgendetwas scheint nicht in Ordnung. Ich weiß auch, dass die Bedrohung konkret ist und dass es einen guten Grund hat, wenn ich so empfinde. Aber ich komme nicht darauf, welchen.

 

17

 

Es ist überhaupt kein Problem, in der Redaktion anzurufen und zu sagen, dass ich die restliche Zeit vor dem Ov-Ov-Festival sozusagen in Klausur zu Hause verbringen werde, um der Hymne den letzten Schliff zu geben.

 

Ich habe mich in den letzten Wochen so intensiv mit den verschiedenen Phasen der Hymne befasst, dass mir die Formulierung leichtfällt, genauso leicht, wie für die ‚Gedanken zum Tage‘. Ich wundere mich etwas, dass Becker mir so freie Hand lässt. Ihr Vertrauen in meine Fähigkeiten als Schönschreiber ist ganz offensichtlich grenzenlos. Natürlich haben sie seit langem Erfahrung mit meinem Stil. Und die Gedanken zum Tage sind mir gut gelungen und treffen in allem den Ton, den sie wollen. Es ist meine zweite Natur, die Dinge so darzustellen, wie sie dargestellt werden sollen. Ich finde einfach immer die richtigen Worte. Ich kann mich auf mich verlassen.

 

Ich schreibe die Hymne in einem Tag. Sie darf nicht zu lang werden. Eine Viertelstunde höchstens. Sonst hört niemand mehr zu. Ich soll sie selber vorlesen. Das ist ohne Zweifel eine große Ehre. Was, denke ich, wenn ich, statt einen Lobgesang zu verfassen, eine große Anklageschrift vorlese, Hinweise auf ihre Machenschaften gebe, die Bevölkerung vor der Entwicklung des Klonens warne? Ich bin sicher, dass ich eliminiert werde, ehe ich zu Ende sprechen kann. Sie gehen kein Risiko ein. Sie gehen in jedem Fall auf Nummer sicher. Andererseits liegt ihnen ganz sicher nichts an einem Skandal auf dem Ov-Ov-Festival. Wenn sie es verhindern können, werden sie mich auf gar keinen Fall eliminieren. Ihr Bestreben muss sein, mich groß raus kommen zu lassen. Sie wollen mich zum stellvertretenden Chefredakteur ernennen, sie können sich keine Schlappe leisten. Irgendwie beruhigt mich das.

 

Was meine Entdeckung mit Schröder angeht, so versuche ich, die Sache rational anzugehen. Schröder wird nicht der einzige sein, den sie ersetzt haben. Über kurz oder lang werden sie uns offiziell darüber informieren müssen. Vielleicht sogar schon in Zusammenhang mit der Umbenennung unserer Stadt jetzt beim Festival. Vielleicht habe ich Schuster ganz umsonst umgebracht. Außerdem, so wie die Dinge liegen, und wenn man an meine zurückliegenden und jetzt zu erwartenden Erfolge denkt, gehöre ich doch schon so gut wie zur anderen Seite!?

 

Ich drucke den Text aus und denke an Maria. Den halben Freitag und den ganzen Samstag liege ich auf meinem Bett und tue gar nichts, warte auf den Beginn des Festivals und denke daran, wie es sein wird mit Maria.

 

Am Samstagmittag höre ich die Tür gehen. Ich glaube, Arena ist die ganze letzte Woche nicht zu Hause gewesen. In den letzten beiden Tagen, seit ich ununterbrochen im Hause arbeite, war sie bestimmt nicht da. Ich hätte sie gehört. Ich liege ganz still, weiß nicht, was ich tun soll oder was jetzt geschehen wird. Sie weiß offensichtlich, dass ich da bin, oder vielleicht ahnt sie es. Sie versucht, Kontakt aufzunehmen und ruft leise: „Böll?!“

Soll ich ihr antworten?

„Ist alles in Ordnung?“ fragt sie weiter, und ich denke, was für eine seltsame Frau.

„Bist du fertig geworden?“ Also ist es die Hymne, die ihr Sorgen macht, die Hymne, die mir Ehre bringen soll und deswegen auch für sie von so großer Bedeutung ist. Sie wird nicht lockerlassen, wenn ich nicht antworte. Und es spielt ja auch keine Rolle mehr. Also rufe ich: „Es ist alles okay. Ich glaub, sie ist großartig geworden.“

„Fein!“ antwortet sie. „Ich wusste es.“

Pause. Dann, schmeichelnd: „Bist du fertig angezogen? Sollen wir nicht zusammen hingehen? Es wir einen guten Eindruck machen. Lass mich deinen Anzug überprüfen.“

Sie wird keine Ruhe geben. Ich reiße mich zusammen, stehe auf und öffne die Tür, die immer noch abgeschlossen ist. Aber sie macht keine Bemerkung, geht völlig darüber hinweg. Alles ist in Ordnung. Sie wird aus diesem Tag das Beste herausholen, da bin ich sicher.

 

„Du bist noch gar nicht umgezogen“, sagte sie, „wo ist dein Anzug?“ Sie kommt einfach und wie selbstverständlich in meinen Bereich, öffnet meinen Schrank, ist für einen Moment ratlos, will fragen: Wo?... und sieht dann meinen guten Anzug, den, zu dem sie mir vor einiger Zeit schon geraten hat. Top Design. Arena hat den besten Geschmack von allen. Sie holt den Anzug raus, überprüft, ob er in Ordnung ist, legt mir auch alle weiteren Kleidungsstücke hin, inklusive Unterwäsche, so dass ich staune, woher sie weiß, wie ich meinen Schrank geordnet habe, aber vielleicht sind alle Schränke der Welt gleich geordnet, und sagt: „Nimm noch eine Dusche. In einer Stunde etwa sollten wir gehen. Vergiss nicht, die Haare zu waschen, heute blickt sozusagen die Welt auf dich!“

Damit verlässt sie mich, nicht ohne mich mit einem schelmischen Blick zu bedenken und im Vorbeigehen tätschelt sie mir sogar übermütig die Wange.

 

Die ganze Zeit über stehe ich starr und sehe ihr zu. Ich versuche zu ergründen, was wirklich in ihr vorgeht. Sie behandelt mich wie ein Kind oder wie ein unmündiges Wesen, dem man auf die Sprünge helfen muss. Ich frage mich, was nach dem Ov-Ov-Festival sein wird? Denkt sie, dass unser Leben dann wieder normal weitergehen wird? Wird sie wieder in die Wohnung zurückkehren? Oder wird sie ganz zu Becker ziehen? Nein, ich denke schon, dass sie dann als meine Frau auftreten wird. Ich werde Erfolg haben, ich werde heute befördert. Sie ist selber erfolgreich, aber das, was mich erwartet, übertrifft sicher alles, was ihr selber möglich wäre. Sie wird es genießen, die Frau an meiner Seite zu sein. Außerdem bekommen wir ja das Kind.

 

Nur: Es wird kein ‚danach‘ für uns geben. Sie weiß es noch nicht, aber sie wird ab Montag so gut wie Witwe sein. Ich werde nicht mehr da sein. Maria und ich werden auf dem Weg in unser neues Leben sein. Fast bedaure ich Arena, die alles so wunderbar eingefädelt hat: Der endgültige Erfolg, der Erfolg auf Dauer, der ihre Stellung für die Zukunft durch meine Person festigen sollte, wird ihr nun doch versagt bleiben. Meine Hymne wird eine Eintagsfliege bleiben. Schließlich wird jemand anderes zum stellvertretenden Chefredakteur ernannt werden! Vielleicht kommt Spengler ja zurück!

 

Ich höre, wie sie in ihrem eigenen Bereich ausgelassen hantiert und zu irgendeiner Musik trällert. Ich beschließe, das Spiel heute Abend bis zum Ende mitzuspielen. Auch aus Arenas Verhalten erkenne ich, dass Schuster, was immer sie mit ihm inzwischen gemacht haben, keine Rolle spielt. Das beruhigt mich.

 

Arena hat einen Wagen arrangiert. Ich frage nicht, ob es Beckers Wagen ist, oder einer von Beckers Wagen. Er ist jedenfalls für uns im Augenblick noch eine Nummer zu groß. Allerdings am Ende des Abends, also nach meiner Beförderung, wird er sozusagen passend sein. Wir sehen aus wie ein strahlendes junges Paar. Ich: lässig in meiner Designer-Kluft, die meine Größe und Schlacksigkeit unterstreicht, sie in einem rasanten, in eigentümlichen Rottönen changierenden Kleid, aus einem dieser ganz neuen Materialien, die so leicht und wunderbar sind, dass sie den Körper wie ein Windhauch umfließen; sehr ausladende schwarze Flügelärmel und eine Draperie um die Hüften, die ebenfalls zu den Seiten irgendwie absteht, so dass sie Mühe hat, in das Auto zu steigen. Wenn sie steht, ist sie eine elegante Erscheinung, von einer kühlen Unnahbarkeit, die in starkem und reizvollem Kontrast zu dem ungewöhnlichen, eigenwilligen, phantastischen Kleid steht. Ich bin sicher, dass sie auffallen will, und wird, und dass sie alles bestens für unseren Auftritt vorbereitet hat.

 

Unser Wagen muss warten, eingereiht in eine lange Schlange von gleichen Autos, bis wir vor dem MAK halten und aussteigen können. Der Fahrer fährt weiter, wer weiß, wohin. Ich bin sicher, später am Abend wird er in derselben Schlange wieder vorfahren, um uns abzuholen. Es ist alles arrangiert. Wir gehen mit anderen, gutaussehenden und noch besser angezogenen Paaren auf den hell erleuchteten Eingang des Museums zu. Der ganze Vorplatz stellt sich dar wie eine riesige Theaterbühne, vor allem die hohe kastenförmige Front des Gebäudes, dessen wenige und kleine Fenster – im Vergleich zu den Glaspalästen unseres Jahrhunderts – man für dies Gelegenheit vollständig und bis zur Unkenntlichkeit verhüllt hat, so dass stattdessen eine riesige Screen entstanden ist, eine Projektionsfläche, auf der sich das Geschehen des Innenraumes widerspiegelt. In schnellem Wechsel, sieht man einmal die gesamte Halle, die selbst über hundert Jahre nach ihrer Entstehung noch nichts von ihrer Größe, ja Großartigkeit verloren hat, und dann zehn oder fünfzehn Porträts von bedeutenden Persönlichkeiten der Regierung oder unserer Stadt und von schönen Frauen.

 

Die Menge gafft. Wie immer steht auf dem großen freien Platz vor dem Museum - auf dem ehemals die öffentlichen Fernsehanstalten standen, deren völlig veraltete Gebäude man vor etwa zwanzig Jahren abgerissen hat, wodurch ein wichtiges Grundstück im Zentrum der Stadt frei wurde, über dessen neuerliche Bebauung man seit neuestem wieder berät –, eine riesige Menschentraube, die dabei sein will, bei diesem Jahreshauptereignis unserer Stadt.

 

Ich weiß, dass es Arenas Ehrgeiz ist, auf einem dieser Bildschirme nach draußen projiziert zu werden. Ich werde während meines Vortrags ganz sicher darauf zu sehen sein, und im Grunde kann sie davon ausgehen, dass wir beide dort erscheinen werden, denn schon jetzt ist sie die Frau an meiner Seite.

 

Während wir immer noch langsam im großen Pulk auf den viel zu kleinen Eingang zugehen und ich die Riesenportäts vor mir, über mir ebenfalls sehe, fällt mir auf, wie sehr sie sich gleichen, wie alle diese schönen, gut aussehenden Menschen sich gleichen. Und dass Arena wunderbar dazu passen wird. Plötzlich wird mir mitten in der Menge kalt. Wie viele von denen mögen, wie Schröder, bereits als Ersatz ihrer selbst auftreten? Dann schiebe ich den Gedanken beiseite.

 

Ich kenne keine Menschenseele, und auch Arena scheint ein bisschen irritiert, als wir endlich in dem Gebäude sind. Aber ihr Aussehen gibt ihr Mut und sicher auch das Bewusstsein, dass bald, nachher, die Leute, die sie jetzt noch nicht beachten, weil sie nach den anderen, den wichtigeren Ausschau halten, auch ihre Nähe suchen werden.

 

Ich kann nicht leugnen, dass es mir ein bisschen Spaß macht, das alles zu beobachten. Auch ich empfinde, wie die Situation mein Gefühl für meine eigene Bedeutung steigert. Schon fallen hier und da Blicke auf uns, die zu wissen scheinen, dass wir nicht irgendwer sind. Arena strahlt mich an, während sie ein Glas Champagner nimmt und mich auffordert, dasselbe zu tun. Sie weiß, dass ich mir nichts aus Champagner mache, aber ein Bier zu trinken, kommt natürlich überhaupt nicht in Frage. Ich sage leise, dass ich vorsichtig sein möchte, bis ich meinen Lobgesang vorgetragen habe, und sie lächelt und wispert, dass sie das okay findet. Für den Augenblick brauche ich dieses Brausewasser also nicht zu trinken.

 

Wer uns beobachtet, muss tiefstes Einverständnis zwischen uns vermuten. Die Frau an meiner Seite. Unwillkürlich muss ich lachen. Es ist zu verrückt. Endlich, endlich habe ich diese Frau gefunden, die einzige, die wahre, die, die ich nie wieder fortlassen werde – und hier bilde ich ein Paar mit einer Larve.

 

Ich bin Arena nicht böse. Ich verachte sie nicht, nicht einmal, wenn ich daran denke, was sie mir in diesem Wasserturm angetan hat. Im Grunde ist sie sich treu geblieben. Ich bin es, der aus der Rolle fällt. Ich bin es, der nicht mehr funktioniert. Oh, nicht heute Abend. Heute Abend werde ich Ihnen zeigen, wozu ich fähig bin. Sie sollen mit mir zufrieden sein, Arena soll stolz auf mich sein. Es ist der Preis, den ich bereit bin zu bezahlen, der Preis, mich frei zu kaufen, der Preis für ein Leben außerhalb der Gesellschaft, für ein Leben mit Maria. Und sie, Maria, steht vielleicht draußen vor der Tür und beobachtet mich, sieht meinen Erfolg, den Garanten unserer Freiheit. Ich fühle mich leicht und beschwingt und sorglos.

 

Da sehen wir Becker. Ich habe mir angewöhnt, an ihn einigermaßen respektlos als an ‚Becker‘ zu denken, gar nicht mehr ‚Dr. Becker‘. Obwohl ich hier natürlich aufpassen muss, keinen faux pas zu begehen. Er steht mit weiteren Mitgliedern unseres Vorstands zusammen, mit weiteren Männern, die ich nie gesehen habe, und mit dem Chefredakteur, dessen Stellvertreter ich werden soll und der, als Becker uns erkennt und auf uns zugeht, in unserer Richtung blickt, ohne auch nur wahrzunehmen, dass wir existieren.

 

Becker grüßt und sagt verbindlich: „Mein lieber Böll, Ihre Frau sieht zauberhaft aus, darf ich sie Ihnen für einen Moment entführen, ich würde sie gern bekannt machen mit...“

Mit wem, geht in seinem Gemurmel und im allgemeinen Geräuschpegel unter. Ich bin gar nicht mal sicher, dass er sich überhaupt die Mühe macht, irgendwelche Namen zu nennen. Ich bin so übermütig gestimmt, dass ich am liebsten sagen würde: ‚Nehmen Sie sie, sie gehört Ihnen doch ohnehin und bald noch mehr!‘ Und ich frage auch nicht, warum um alles in der Welt er meine Frau irgendwelchen wichtigen Männern vorstellen will, ohne mich ebenfalls zu bitten. Stattdessen sage ich artig: „Es ist uns eine Ehre, Dr. Becker. Ich verstehe, dass sie von Arena entzückt sind. Ich selber finde sie heute unwiderstehlich!“

Ihre eigentümlichen Blicke verraten ihre Schuld. Ich lächle spöttisch, ich kann es mir nicht verkneifen. Arena entschwindet an Beckers Seite. Wird er sie beschützen, wenn ich nicht mehr da bin? Heiraten kann er sie nicht, so lange sie mich nicht für tot erklären. Sollte das geschehen, würden sie vielleicht gar nicht mehr nach Maria und mir suchen.

 

Ich träume schon wieder. Während ich den beiden nachsehe, beobachte ich einen Kameramann, der sie aufnimmt. Sie wird es ebenfalls bemerken. Sie gehört zu denen, deren Konterfei auf der Außenwand des Museums die Menge staunen macht und neidisch.

 

Es ist ein Kommen und Gehen. Ich steige die Treppe zum ersten Stocke empor. Eine unvergleichliche Treppe. Meine Großmutter liebte diesen Raum und seine wundervolle Treppe. Sie hatte in ihrer frühen Jugend, Mitte der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts, noch die Witwe des Architekten sprechen hören anlässlich einer Ausstellung zu Ehren ihres Mannes, des Architekten Rudolf Schwarz. Ach, wie liebte meine Großmutter die Klarheit und Konsequenz dieses Gebäudes und vor allem diese wundervolle Halle.

 

Die Gegenstände, die ab und zu hier noch aus den Sammlungsbeständen des alten Museums gezeigt werden, sind ausgeräumt, um Platz zu machen für das Fest. Überall laufen kostümierte Personen herum, die in ihrer Kleidung verschiedene Epochen darstellen und Gegenstände aus der jeweiligen Zeit tragen: Eine venezianische Kurtisane aus dem 15. Jahrhundert, die aus einem schönen grünen Glaspokal trinkt, eine derbe Kölner Marktfrau aus dem 16.Jahrhundert, die einige Steinzeugkrüge trägt und den Besuchern daraus einschenkt, ein Herr mit gepuderter Perücke, der an einem Schreibtisch aus dem frühen 18. Jahrhundert kleine Billets schreibt, die die Besucher einander zukommen lassen können, und dann springen zwei als Mohren verkleidete Knaben in die Menge und überbringen den Auserwählten diese Briefchen. Ein Paar aus den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts, er mit angeklebten Haaren und einer Schmalzlocke, sie mit einem gelben Kleid mit schwarzen Tupfen, das in der Taille ganz eng gegürtet ist und über einem ausladenden Petticoat fast tellerartig absteht, tanzen Rock ‘n Roll,  einen Tanz aus der Zeit, zu dem die entsprechende Musik aus einem zeitgenössischen Radio klingt. Es gibt auch Technofreaks aus dem späten 20. Jahrhundert, an alles ist gedacht. Sie berühren mich irgendwie seltsam, diese Tänze und Bewegungen einer lange vergangenen Zeit, als die Menschen sich noch angestrengt selber bemühten. Nicht zu vergleichen mit unseren Tänzen, bei denen man sich mit der Person seiner Wahl auf eine Tanzscheibe stellt, auf der man dann zur Musik bewegt wird. Es ist hoch interessant, durch diese Zeit-Räume zu gehen. Das hier ist wirklich ein lebendiges Museum! Die Leute sind begeistert. Überall wird gegessen und getrunken, gelacht und getanzt.

 

Ich gehe durch alle Räume. Erst später werden die ernsteren Programmpunkte an die Reihe kommen. Als erstes die Begrüßung durch den Oberbürgermeister, der in sehr enger Verbindung zu unserer Regierung steht und natürlich alle Regierungsmitglieder, die heute gekommen sind, einzeln beim Namen nennen wird. Das allein ist schon aufregend genug, denn im Allgemeinen weiß man ja nicht, wer zur Regierung gehört. Und der Wechsel der Personen ist häufig undurchschaubar. Aber hier werden sie dem Publikum vorgestellt, und man kann sie sehen. Ich nehme nicht an, dass die Bodyguards eine unbefugte Annäherung oder gar ein Ansprechen zulassen würden. Aber immerhin. Man kann sie leibhaftig sehen.

 

Danach gibt es noch verschiedene Ansprachen und Musikbestrahlungen. Dann die Verkündung der Umbenennung von Universität und vielleicht bereits der ganzen Stadt in C’lone University und C’lone City, weitere Vorführungen in allen Räumen, und gegen 24 Uhr werde ich den großen Lobgesang verlesen, meine Hymne auf die Errungenschaften unserer Zeit durch unsere Regierung. Man wird mich übrigens ankündigen als den stellvertretenden Chefredakteur unserer Zeitung, und damit ist das dann offiziell. Danach ist bis zum Morgen alles möglich.

 

Was Arena und mich betrifft, so werden wir sicher von der Gruppe der wichtigen Personen aufgesogen und weitergereicht.  Irgendwann, denke ich, werde ich mich absetzen. Vielleicht fällt es überhaupt nicht auf. Davon gehe ich eigentlich aus. Aber selbst wenn Arena etwas merkt, wird sie sich nichts dabei denken. Ich nehme sogar an, dass sie dankbar sein wird, für die willkommene Gelegenheit, selber tun zu können, was immer sie möchte. Der Sonntag nach dem Ov-Ov-Festival ist ein stiller Tag in unserer Stadt. Das Leben ruht sich aus. Man muss erst wieder zu sich kommen. Die Stadt wird aufgeräumt. Außerhalb des Museums die Menschenmassen halten sich schadlos dafür, dass sie nicht selber an dem Hauptereignis teilnehmen können, indem sie die Stadt in ein großes Festlager verwandeln. Ich werde einfach zu Maria gehen und bei ihr Unterschlupf suchen. Ich gehe nicht mehr in meinen Bereich zurück. Mein Leben hier, mein bisheriges, offizielles Leben, wird hier und heute zu Ende sein. Morgen schon gehe ich zu Maria und übermorgen, wenn dieser Zero uns neue Identitätsnummern beschafft hat, verlassen wir die Stadt und fangen ein neues Leben an, unser Leben. Mein Leben. Mein zweites Leben. Mein wirkliches Leben.

 

Ich denke unwillkürlich an Schröder und daran, dass auch er jetzt zum zweiten Mal - lebt?

 

Während ich durch die Räume streife, packt mich wieder eine innere Unruhe. Ich werde sie nicht los. Ich versuche, den Gedanken an Schröder abzuschütteln. Aber auch wenn ich an Maria denke, ist da diese laute metallene Leere in meinem Kopf, die Gefahr signalisiert. Woher nur kommt dieses schreckliche Gefühl, das mich nicht mehr verlässt, seit diesem Moment – diesem Moment in Marias Bett, als ich, überwältigt vom Glück des Augenblicks, meinen Kopf in ihre Halsbeuge legte, und da war plötzlich, dieses intensive Empfinden, dass etwas nicht in Ordnung ist. Ab und zu schwillt diese Warnung zu einem Sirren in meinem Bewusstsein an. Ich kann es nicht abschütteln. Dann wieder beruhigt es sich für Minuten oder auch, wie in den vergangenen Tagen, in denen ich für mich allein bleiben konnte, für Stunden.

 

Jemand zupft mich am Ärmel. Ich bin sprachlos. Einer der kleinen Mohren hält mir grinsend ein Billet hin, eines von denen, die der Schreiberling an dem zierlichen aber höchst unbequemen Schreibmöbel des 18. Jahrhunderts fabriziert hat.

„Für mich?“ frage ich. Aber der ist schon wieder weggeflitzt, verteilt weitere Zettel an andere Leute. Ich falte das Billet auf. Darin steht: ‚Komm zu mir.‘ Altertümliche Schreibweise, 18. Jahrhundert? Keine Unterschrift. Erstaunt stehe ich und sehe mich um. Niemand beachtet mich. Niemand blickt mich an. Wer kann mich meinen? Ich fühle eine Aufregung in mir hochsteigen. Aber auch eine gewisse Angst. Arena? Warum sollte sie mir einen solchen Zettel zuspielen lassen wollen? Was könnte sie damit bezwecken? Ich verstehe es nicht. Oder will sie die Aufmerksamkeit auf uns beide lenken? Gehört das schon mit zu dem ganzen Theater, das heute noch auf uns zukommen und von uns erwartet wird? Andererseits ist mir klar, dass, wenn Arena mich meint, wenn Arena mich auf solche Weise anspricht, zu sich locken möchte, sie auch irgendwo hier herumsteht und mich beobachtet, um mir im richtigen Moment zuwinken zu können, damit nichts schiefläuft.

 

Ich sehe nichts. Ich habe sie seit langem aus den Augen verloren. Natürlich könnte der Zettel ein Irrläufer sein. Der Mohr hat sich vertan. Ist schließlich nicht so ungewöhnlich. Der Absender deutet auf jemanden, der direkt neben mir steht, der Mohrenknabe nimmt die falsche Fährte auf. Ich beschließe, dass es so ist. Und doch regen mich diese drei Worte auf: Komm zu mir. Sie rufen mich zu Maria. Es ist nicht möglich, dass sie mir diesen Brief geschrieben hat. Niemals könnte sie ohne Eintrittskarte auf dieses Festival gelangen, die Einlasskontrollen sind besonders streng. Aber je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass es Marias Worte sind, die mich zu ihr rufen. Ich habe den Zettel eingesteckt. Er brennt mir in der Tasche. Ich gehe mit anderen Augen durch die Menge. Ob ich will oder nicht, ich suche Maria. Es macht keinen Sinn, aber ich kann es nicht ändern.

 

Als der Oberbürgermeister, der Herr der Stadt, seine Rede hält und das Volk sich auf der Treppe drängt und auf den Absätzen in den beiden Etagen um den offenen Treppenraum, gehe ich unbehelligt an hunderten von Menschen vorbei und halte Ausschau nach ihr. Arena fängt mich ab. Sie ist in Begleitung eines Menschen, der nicht viel älter sein dürfte als ich, aber aussieht, als habe man ihn aus bestem hellem Kunststoff zusammengefügt und dann lackiert. Sie stellt ihn mir vor: Ein Regierungsmitglied, Dr. Dr. Humberger. Ich lächele mechanisch und denke, dass man wahrscheinlich schon kleine Dr. Dr. Humberger Puppen an die Kinder verteilt. Arena sagt: „Bist du eigentlich gerüstet für deinen Auftritt, was ist mit der Hymne?“

„Was soll damit sein, ich habe sie hier.“ Und damit deute ich auf meine Brust. In der Tasche meines Jacketts habe ich den Ausdruck des Lobgesangs.

“Am besten, du gibst sie mir, dann kann sie nicht verloren gehen.“

„Wieso sollte sie das?“ frage ich irritiert zurück.

„Am besten, Sie hören auf ihre Frau“, sagt die Riesenausgabe der Dr. Dr. Humberger-Puppe und zieht seine Lippen von den makellosen Zähnen. Ich nehme an, er lächelt.

„Aber ich verstehe nicht...“

„Gott, Böll, sei nicht schwierig“, seufzt Arena voller Ungeduld. „Lass mich schnell eine Kopie machen, nur zur Sicherheit. Dann haben wir beide eine, und dann kann wirklich nichts schief gehen. Ich stehe auf jeden Fall neben dir, wenn du sie verliest.“

Ich finde ihr Verhalten unangenehm und übertrieben ängstlich. Zumal sie mich vor diesem Lackaffen bloßstellt. Sie scheint jetzt langsam alle Haltung zu verlieren, jetzt wo es um die Wurst geht. Ich hätte sie wirklich für cooler gehalten.

„Also gut“, sage ich, weil ich denke, je eher wir das über die Bühne bringen, desto besser, und ich bin sie wieder los.

„Aber ich gehe mit dir, es ist mir lieber, ich gebe das Papier nicht einfach ab und dann bist du spurlos verschwunden.“ Sie lacht sofort besänftigt auf, hakt mich unter und zieht mich in einen der vielen Medienbereiche, in dem wir eine Kopie der Hymne ziehen. Dr. Dr. Humberger lässt uns wortlos ziehen.

 

Sie will mit der Kopie weg, aber ich halte sie zurück.

„Arena“, sage ich warnend, „zeig sie niemandem. Der Effekt, auf den es ankommt, wäre verloren. Es kommt auf den Effekt an, Arena, das weißt du!“ Sie stutzt. Ihr Gesicht ist für einen Augenblick ganz ernst. Sie sieht mich mit einer größeren Aufmerksamkeit an, als sie es vielleicht je getan hat und bestätigt mir dann, dass sie das sehr wohl wisse. Im Grunde ist es mir egal, was sie damit macht. Aber sie soll trotzdem vorsichtig sein. Wenn sie aus Unachtsamkeit oder übertriebenem Ehrgeiz irgendetwas daraus vorher verlauten lässt, bringt sie uns, und sich vor allem, um diese Spannung der Aufmerksamkeit, die es nur gibt, wenn die Menge einen unbekannten Text zum ersten Mal hört. Ich bin sicher, dass sie das weiß. Sie wird mich nicht hintergehen. Diesmal nicht. Was sie danach tut, nach meinem Auftritt, ist ohnehin egal. Dann kann sie sogar behaupten, ein Teil des Textes stamme von ihr selber – wenn es das ist, worauf sie hinauswill.

 

Ich stehe auf der großen Treppe und verfolge die Reden. Jetzt begründet unser Chefredakteur gerade die Umbenennung von Co-lone zu C’lone University und City. Er ist ein ungemein geschickter Redner, sehr lässig und sehr überlegen. Die Stadt, die Welt, liegt ihm zu Füßen. Eine Stimme hinter mir sagt: „Komm zu mir, Böll, ich muss mit dir sprechen.“ Ich erstarre. Ich will mich umwenden, aber sie sagt: „Dreh dich nicht um. Komm in fünf Minuten zu der Tür auf halber Höhe der Treppe. Sie ist verschlossen. Aber in fünf Minuten wird sie sich für dich öffnen. Triff mich da.“ Mein Herz schlägt heftig, ich spüre es bis in den Hals, mein Blut pocht laut in den Schläfen. Einen Moment wird mir schwarz vor Augen. Es kann einfach nicht sein. Wie sollte sie hier herein gelangt sein? Warum will sie mich sprechen, jetzt, in dieser Situation? Warum gefährdet sie uns in einem Augenblick, in dem für uns alles gut zu gehen scheint. Ich bekomme Angst, panische Angst, dass irgendetwas schieflaufen wird, bereits schiefgelaufen ist. Dass dieser Zero einen Rückzieher gemacht hat, dass wir keine neuen Identitätsnummern bekommen werden, dass wir nicht fliehen können.

 

Aber wir müssen fliehen. Nach diesem Abend gibt es kein Zurück mehr für mich, weder ein Zurück zur Redaktion noch zu Arena. Kein Gedanke, dass ich in irgendeiner Weise so weiter machen könnte wie bisher: Schröder begegnen, oder die Schuster-Affäre durchstehen.

 

Und wenn sie Schuster einfach weggeräumt haben, ohne mich zur Rechenschaft zu ziehen? Ich brauche Schröder gar nicht mehr zu begegnen. Ab Montag liegt mein Büro in der dritten Etage. Kann ich vielleicht doch weitermachen? Muss ich? Können sie mich zwingen, nach Schuster und mit Maria, ihnen zu Willen zu sein, in meiner neuen Stellung und einfach immer weiter zu funktionieren? Was wird mit Maria?

 

Ich stehe schweißgebadet vor der Tür, die ich vorher gar nicht bemerkt habe. Sie hat keine Funktion, jedenfalls keine allgemein offensichtliche. Ich habe noch niemanden hier rein oder raus gehen sehen. Sie hat gar keinen Türgriff. Ich stelle mich unter den Türrahmen, so als wolle ich auf die Halle gerichtet, den Rednern folgen und gleichzeitig Platz machen für die, die während der Veranstaltung ununterbrochen nach oben oder nach unten strömen.

 

Ich spüre einen leichten Luftzug. Die Wand hinter mir gibt nach, jemand zieht mich schnell nach hinten. Gleichzeitig fällt die Tür vor mir wieder ins Schloss. Im ersten Augenblick herrscht absolute Dunkelheit. Dann blitzt eine kleine Lichtkugel auf, die Maria in den Händen hält, und gleichzeitig werden wir in ein leicht orangefarbenes Licht getaucht. Ich bin zu erschrocken, um etwas zu sagen. Ich verstehe nicht, wie sie hierher kommt, wieso sie mir die Tür aufmachen kann, wo wir hier sind. Langsam gewöhnen sich meine Augen an dies Licht. Vor mir steht Maria, das Gesicht durch die Lichtkugel sanft erleuchtet. Sie scheint mir noch schöner als ich sie je gesehen habe. Um uns herum eine komplette Leere. Ein langer dunkler Gang, von dem irgendwelche Türen abzugehen scheinen. Eine Treppe, die irgendwie nach unten führt. Ich starre sie an, stumm, ich staune sie an, ratlos. Sie lächelt sanft und sagt: „Ich musste dich einfach wiedersehen“, und obwohl mich das Entsetzen immer noch gepackt hält, kann ich jetzt auf sie zu treten und meine Hände nach ihr ausstrecken.

 

 

„Maria!“ seufze ich und nehme sie in die Arme. Ich habe die Augen geschlossen, während ich mich über ihr Haar beuge – und da begreife ich, mit dem jähen Schrecken, den jemand erfahren muss, der mit dem Fallschirm abgesprungen ist, und erkennt, dass der Schirm sich nicht lösen wird, mit der aberwitzigen Hilflosigkeit dessen, der im Sturz weiß, dass es kein Entrinnen gibt, begreife ich, was die Warnung in mir wachruft und wachgerufen hatte, schon damals im ihrem Bett, aber da war noch die von Maria beseelte Umgebung, die mich darüber hinweg täuschen konnte für jene seligen Augenblicke eines verlogenen Glücks. Hier aber, in diesem furchtbaren, leeren dunklen Gang gibt es keine Möglichkeit der Täuschung und des Entrinnens: Ihr Duft, Marias Duft haftet nicht an diesem völlig geruchlosen Wesen, das aussieht wie sie. Ich halte einen Klon in meinen Armen.

 

Ich trete zurück und sie weiß, dass ich sie erkannt habe. Da wendet sie sich halb rückwärts, und erst jetzt sehe ich eine weitere Person, die vielleicht aus einer der dunklen Türnischen hervorgetreten ist. Es ist ein Mann. Er stellt sich neben Maria. Ihre Leuchtkugel erhellt auch sein Gesicht. Ich stehe mir direkt gegenüber. 

Ich merke, wie mein Mund sich öffnet, alle Feuchtigkeit ist aus ihm gewichen. Mein Magen zieht sich zusammen. Ich sehe, wie er ein Rohr auf mich richtet. Ich erkenne es. Es ist dieselbe Waffe, mit der man auf Wallraf gezielt hat. Ich blicke ihm direkt in die Augen und erkenne mich selbst. Er lächelt mein Lächeln. Er ist etwas kälter als ich, aber perfekt. Als er das Rohr abfeuert, denke ich: Clone City.

 

 

Ich sehe das Entsetzen in seinem Blick, als er begreift, dass er Zeta in den Armen hält. Und als ich den Extinguisher auf ihn richte, braucht er nur den Bruchteil einer Sekunde. Er erkennt mich. Er begreift. Es ist eine Genugtuung, keinen Unwissenden auszulöschen. 

Seine Asche steht einen Augenblick in der Luft. Sie rieselt sanft herab, silbrig und aschgrau und schwarz, wie ein erlöschender Sternenregen. Ein bisschen davon bleibt an Zetas Schuhen haften, als sie achtlos hindurch schreitet.

Ich bedaure, dass mir nicht vergönnt war, mich besser kennen zu lernen